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Von Jenny Bargetzi

Praktikantin Redaktion

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24. Februar 2021 um 14:56

Kulturwandel gefordert: Weg von der Rendite hin zum Gemeinwohl

Wie können wir mit verantwortungsvollem Wirtschaften die Ungleichheit in der Gesellschaft minimieren? Was tun, damit die globale Verteilung gerechter wird? Wer ist in der Pflicht? Diese und weitere Fragen diskutieren wir mit Expert*innen auf dem Podium.

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Moderatorin Lea Grüter eröffnet das Podium zum Thema «Nachhaltiges und verantwortungsvolles Wirtschaften: Wie überwinden wir die Ungleichheit?» (Alle Fotos: Zana Selimi)

Bei der Diskussion dabei ist Michael Diaz, Mitglied der Geschäftsleitung der Alternativen Bank Schweiz (ABS). Der Zürcher steigt direkt mit eigenen Beispielen ins Thema ein, in denen er auf drei Arten Ungleichheit im Finanzsystem begegnet. Erstens, hätten rund zwei Milliarden Menschen weltweit aufgrund ihres Aufenthaltsstatus keinen Zugang zu Bankdienstleistungen. Auch in der Schweiz seien bis zu 200’000 Personen davon betroffen. Zweitens, würden Vermögensverwalter*innen Finanzströme leiten. Die Folge sei, beispielsweise in der Textilindustrie, keine fairen und existenzsichernden Löhne. Als dritter Punkt macht Diaz die Börse als Instrument für die Ungleichverteilung verantwortlich. Er zitiert einen Artikel der NZZ, nach dem 10 Prozent der reichsten US-Amerikaner*innen 90 Prozent der Aktien und Fondsanlagen besitzen würden. Das nehme die Möglichkeit, gleichermassen am Geschehen partizipieren zu können.

Dem knüpft Marc Chesney an. Er ist Professor für Quantitative Finance und Direktor des Kompetenzzentrums für nachhaltige Finanzen an der UZH sowie Autor des Buches «Die permanente Krise». Die Finanzdurchdringung führe zu sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten, die durch die Corona-Pandemie nun noch stärker beschleunigt würden.

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Der Professor und Buchautor Marc Chesney über die veränderte Dynamik des Reichwerden.

Chesney erklärt es am Beispiel des Amazon-Gründers Jeff Bezos. Dieser habe in einem Tag 13 Milliarden Dollar verdient, das Doppelte davon, was 1.3 Milliarden Afrikaner*innen am selben Tag verdienen würden. Oder dem Wert von zehn Schlössern von Versailles entspricht. Wieso ist das wichtig? Weil Louis XIV. der wohl damals reichste Mann gewesen sei, dessen Schloss mehrere Jahren benötigte, um gebaut zu werden. Chesneys Punkt: Bereits früher habe es reiche Menschen gegeben, das stehe ausser Frage. Was aber neu ist, sei die Geschwindigkeit. Es gehe immer schneller heutzutage reich zu werden. Und das habe gravierende Folgen.

Optimistischer zeigt sich die nächste Teilnehmerin, Nathaly Bachmann. Sie ist Verwaltungsrätin, Stiftungsrätin bei Larix sowie Unternehmens- und Kommunikationsberaterin. Bereits zu Beginn positioniert sie sich als Possibilistin. Es gebe immer Chancen und Möglichkeiten, auch in dem Thema Ungleichheit. Man müsse an den Fortschritten anknüpfen. Mit Fortschritten meint die Unternehmens- und Kommunikationsberaterin das verbesserte Gesundheitssystem, die technologischen Entwicklungen und der wachsende Zugang zu Bildung.

Auch Laura Zimmermann, PR-Beraterin und Vizepräsidentin der Organisation Operation Libero unterstützt Bachmanns Sichtweise. Auch sie wolle sich dafür einsetzen, mit ganzheitlichem Liberalismus das Bewusstsein dafür stärken, welche grossen Möglichkeiten und Chancen, den Schweizer Bürger*innen in die Wiege gelegt werden. Es benötige ein Umdenken mit viel Veränderungskraft, um diese Balance zwischen fortgeschrittener Globalisierung und Digitalisierung und den daraus folgenden Herausforderungen abzufedern. Die politischen Organisationen müssen sich für die Gesellschaft und gegen globale Ungleichheit einsetzen, meint Zimmermann und greift damit das Thema der immer grösser werdende Vermögensschere auf.

Oxfam-Studie über die soziale Ungleichheit

Passend zum Stichwort Vermögensschere leitet Moderatorin Grüter zur Oxfam-Studie zum Thema Ungleichheit über. Die Autor*innen der Studie sind sich einig, dass die Corona-Pandemie die wirtschaftliche Ungleichheit auf eine drastische Art und Weise verschlimmert hat. Einige Wenige würden dabei profitieren, die Meisten aber würden massiv in die Armut gestützt. «Es ist schockierend, aber ich war vom Oxfambericht nicht wirklich erstaunt», mein Bachmann. Auch seitens Unicef hätten sie ähnliche Informationen erhalten. Darunter seien aber auch solche gewesen, die von steigendem Zugang ärmerer Menschen zum Banksektor berichten. Diaz bestätigt das und erklärt es als eine Chance der Technologie, ausserhalb des traditionellen Bankensystem fungieren zu können. Die ABS selbst habe geprüft, ob sie Personen ohne rechtlichen Status einen Zugang zum Finanzsystem ermöglichen könne. Das sei aber aufgrund der rechtlichen Bedingungen in der Schweiz nicht möglich, auch wenn sie es wollen würde.

Dass Corona die verschärfte Situation bereits benachteiligter Menschen zusätzlich verstärkt, sieht auch Zimmermann ein. Es zeige noch einmal, in welchem Ausmass und Tempo das möglich sei. Auch sie überrasche die Studie nicht. «Das Gefühl der Wirkungsmacht, diese Ungleichheiten noch auszuhalten, entschwindet einem. Die Frage ist: Wo liegt dies Wirkungsmacht? Liegt sie bei den westlichen Staaten oder privaten Unternehmen?» Durch die Digitalisierung laste diese stark auf den globalen Unternehmen. Speziell aus politischer Perspektive werfe das die Frage auf, wie diese Wirkungsmacht eingesetzt werden kann, um Ungleichheiten zu minimieren.

Mit Umdenken zu mehr Wirkungsmacht

Forderungen dazu gebe es von den Oxfam-Autor*innen bereits, stellt Grüter klar. Regierungen seien in der Pflicht zu handeln und müssten Investitionen in die Sozialhilfe, den Bildung- und Arbeitsmarkt tätigen. Grosse Unternehmen und Reiche solle man dazu verpflichten, höher besteuert zu werden.

Die Pflichtfrage sei interessant, wirft Diaz ein. Aus einer Spezialist*innenbefragung über die grössten Bremsen in Bezug auf die Wirkung nachhaltiger Geldanlagen wurde die nationale Politik an erster Stelle genannt. Gefolgt von der Landwirtschaft und dem Finanzsystem. An letzter Stelle nennt Diaz die Zivilgesellschaft und die Wissenschaft. Das sage bereits einiges darüber aus, wer aktiv sei und wer noch zu wenig mache.

Wir als Konsument*innen sind gefragt, um das System zu verändern.

Nathaly Bachmann, Unternehmerin, Stiftungs- und Verwaltungsrätin

Ganz aus der Verantwortung ziehen will sich Bachmann als Teil der Zivilgesellschaft dagegen nicht. Es liege auch an uns als Konsument*innen, das System zu drehen und nach Veränderung zu verlangen. Dem anzuschliessen sei die Rolle der Medien mit der Aufgabe eines lösungsorientierten Journalismus.

Genauso habe die Wissenschaft eine Verantwortung, sagt Chesney. «Bereits im ersten Jahr lernen die Studierenden von Ökonomie und Finanzwesen: ‹Immer mehr› ist das Synonym von ‹immer besser›, als wäre es ein fundamentales Gesetz», so Chesney. Natürlich könne «immer mehr» in einem gewissen Sinne nützlich sein, bei allen, die weniger als ein Dollar pro Tag zur Verfügung haben. Bei den Reichen sei es Unsinn, schon fast eine Krankheit. Er fordert: «Wir brauchen neue Paradigmen.» «Neue Paradigmen, Impulse und den Willen umzudenken», ergänzt Zimmermann, «auch im Parlament». Für ein Land wie der Schweiz seien wir in vielen Bereichen rückständig. Der Finanzsektor unter den Top 3 als Bremsen erstaune daher nicht. Es benötige eine diversere, frischere und jüngere Zusammensetzung des Parlaments, um dem Ungleichgewicht entgegenzuwirken. Nur so könne der Primat der Politik wieder hergestellt werden.

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Chesney ist sich sicher: «‹Immer mehr› ist das Synonym von ‹immer besser›, als wäre es ein fundamentales Gesetz.»

Unter dem Gesichtspunkt «liberal» wird sehr viel Ungleichheit produziert

Davon sieht Diaz die Schweiz aber noch weit entfernt und verweist auf das Beispiel der 17 Nachhaltigkeitsziele der UNO. Über die Rolle der Schweizer Finanzindustrie war darin nichts zu lesen. Jedoch die Aussage, dass der Markt bestimme, was verkauft werde. So sei auch die verstärkte Renditenorientierung klar. Die Schweizer Finanzindustrie sei zu wenig mutig und die Rollen zu wenig definiert. «Es braucht einen Kulturwandel. Weg von einer reiner Renditeorientierung hin zu einer Gemeinwohlorientierung», fordert Diaz. Die Finanzdienstleister*innen seien verpflichtet, einen Beitrag an das Gemeinwohl zu leisten und nicht an die einzelnen Aktionär*innen. Die Schweiz stehe da noch ganz am Anfang. Das erscheint widersprüchlich, in einem fortschrittlichen und liberalen Land wie der Schweiz. Doch genau da setzt Zimmermann an: «Unter dem Gesichtspunkt liberal wird sehr viel Ungleichheit produziert. Liberalismus ist die Freiheit und Verantwortung also zwei Seiten einer Medaille.» Noch immer habe sich die Schweiz nicht von einem nicht-liberalen Mantra verabschieden können. Das sei problematisch. Denn bis dahin stehe das kurzsichtige Eigeninteresse an erster Stelle und das Gemeinwohl werde hingegen per se abgelehnt.

Die Schweiz als Chancenland

Bachmann beizeichnet sich zurecht als Possibilistin, sie sieht die Schweiz klar als Chancenland: «Es ist wichtig, das Chancendenken zu aktivieren. Durch Umdenken kann die Schweiz in der Digitalisierung oder auch im Klimawandel eine Rolle übernehmen.» Die Politik sei aber gefordert, mit der Bevölkerung in einen aktiven Dialog zu treten und darüber hinaus grösser zu denken. Out of the Box-Denken, wie Chesney und Zimmermann es beschreiben. Weit müsse man dafür nicht suchen, meint Zimmermann, «Schaut zurück in die Schweizer Geschichte. Es geht genau um das: Veränderungen und Transformationen zu akzeptieren und veraltete Mechanismen loszulassen.»

Zum Beispiel in den Finanzplätzen der Vermögensverwaltung, ergänzt Diaz. Ein umfassendes Verständnis von nachhaltigen Anlagen anbieten und die Lenkung der Finanzströme verbessern. Mehr mutige Rollenbeispiele, die transparent darüber berichten, wen und was sie jetzt und in der Zukunft finanzieren. «Mehr Gewinnsuffizienz statt Gewinnmaximierung», so Diaz. Rollenbeispiele aber nicht nur bei den grossen Spieler, sondern auch beim Individuum, ergänzt Chesney und verweist auf den Nanoaktivismus. Wir müssen Risiken eingehen, neue Ideen bringen und kritisch hinterfragen. Besonders in der Schweiz sei dies dank der akademischen Freiheit enorm wichtig. Jede*r Einzelne sei in der Verantwortung.

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Nach einer Stunde und 12 Minuten beendet Grüter das Podium über die globale wirtschaftliche Ungleichheit.

Zusammenfassend wurden im Podium unter anderem die Fragen diskutiert, wie der Ungleichheit entgegengewirkt werden kann und wo in der Schweiz anzusetzen ist. Dabei fasst Zimmermann zusammen, dass es nicht in erster Linie darum geht, das System von Grund auf zu verändern, sondern darum, wie mit neuen Paradigmen das System verbessert werden könne. Dabei könnte die Schweiz mit all ihren Möglichkeiten eine Vorreiterrolle übernehmen, man müsse es aber wollen. Dafür nötig ist aber eines: ein interdisziplinäres Zusammenwirken vieler globaler Akteur*innen.

Falls du das Podium nachschauen möchtest, kannst du das hier tun:

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