Was von den Metropolen-Träumen bleibt: Durch Zürich mit einem Stadtforscher - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Isabel Brun

Redaktorin

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26. Oktober 2023 um 04:00

Zwischen Wohnungsnot und Metropolen-Träumen: Eine Reise durch Zürich

In den letzten 150 Jahren herrschte in Zürich immer wieder Wohnungsnot. Was das ständige Ringen um Räume mit einer Stadt macht, zeigt sich am Beispiel des oberen Kreis 5: Kein anderer Stadtteil ist so vielfältig wie das Industriequartier. Ein Spaziergang durch Zürichs städtebauliche Vergangenheit.

Hochhaus und Genossenschaftskoloss: Im Kreis 5 treffen zwei Welten aufeinander. (Foto: Isabel Brun)

Schrill klingelt das Tram seinen Weg zum Limmatplatz frei. Fahrräder schlängeln sich an stillstehenden Autos vorbei. Fussgänger:innen hasten vorbei. Ein Lastwagen stöhnt laut auf. Inmitten des Tohuwabohu steht Christian Schmid. Der Rucksack, den er bei sich trägt, scheint leer, doch im Gepäck hat er viele Geschichten.

Der Stadtsoziologe weiss, wie Zürich zur Pionierin von Genossenschaftsbauten wurde, warum sie heute keine Metropole ist und welche Folgen die städtebauliche Entwicklung der letzten 50 Jahre für die Stadt von morgen hat.

«Zürich war eine Kleinstadt», sagt Schmid. Er deutet in Richtung Gewerbeschule. Erst mit der Eröffnung des Hauptbahnhofs Mitte des 19. Jahrhunderts kam Bewegung auf, weil diese der Industrialisierung in die Hände gespielt hat. Die Stadtvereinigung von 1893 tat ihr Übriges: Mit der Eingemeindung von mehreren Nachbarorten wurden 120’000 Personen praktisch über Nacht zu Zürcher:innen.

Aus der Not eine Tugend machen

Durch diese Entwicklungen wurde die Limmatstadt nicht nur flächenmässig grösser, sondern auch für auswärtige Arbeitskräfte attraktiver. In den Jahren danach wuchs Zürich jährlich um rund 9400 Personen. Um 1900 zählte Zürich 150’000 Einwohner:innen – ein Drittel davon Ausländer:innen.

Doch wohin mit den Arbeiter:innen, wohin mit den Menschen?

Während Fabriken aus dem Boden schossen, wurde kaum Wohnraum gebaut. Eine erste Wohnungsnot zeichnete sich ab. Denn wo die Nachfrage hoch und das Angebot tief ist, steigen auch die Preise. Entsprechend überfüllt seien die Häuser gewesen, sagt Schmid: «Zu dieser Zeit war es üblich, dass sich zwei Familien eine 3-Zimmer-Wohnung teilten.» Besonders prekär sei die Situation im Kreis 5 gewesen. Kein Wunder, fand das erste kommunale Bauprojekt ausgerechnet hier seinen Platz.

Das Industriequartier 1931 – Fabriken werden in den Jahren darauf Wohnraum weichen müssen. (Foto: ETH-Bildarchiv)

Mit der 1908 erbauten Siedlung Limmat I läutete die Stadt eine neue Ära ein: jene des gemeinnützigen Wohnbaus. In den insgesamt 25 Mehrfamilienhäusern sollte die ärmere Gesellschaftsschicht ein bezahlbares Zuhause finden. Schmid spricht von einem «Statement», einem Symbol der damaligen sozialdemokratischen Regierung.

Diese hinterlässt bis heute Spuren: Aktuell sind ein Viertel aller Mietwohnungen in Zürich gemeinnützig und werden nicht für mehr Geld vermietet, als für ihren Unterhalt nötig ist. Bis ins Jahr 2050 soll der Anteil gar ein Drittel betragen. Keine andere Schweizer Stadt weist eine höhere Dichte auf. 

Wie Zürich keine Metropole wurde

Dass das Pionierprojekt der Stadt im Kreis 5 noch steht, hat sie jenen zu verdanken, die sich in den 70er-Jahren gegen die Pläne für eine «neue Stadt» ausgesprochen haben. Nach dem Babyboom – 1962 zählte die Stadt 440’000 Einwohner:innen, nur 5000 weniger als heute – wächst auch die Wirtschaft.

Das «neue» Zürich sollte ein führender Standort werden, mit Bürokomplexen und U-Bahn.

Auch das Migros-Hochhaus am Limmatplatz entsprang dieser Idee: Dagegen hätten sich viele Städter:innen gewehrt, erzählt der Stadtforscher. 

Wie auch gegen den Bau einer Metro. Im Jahr 1973 sagte sowohl der Kanton als auch die städtische Stimmbevölkerung Nein zum Kredit in Milliardenhöhe. «Die Stadt wollte aus Zürich eine Metropole machen, doch die darin lebende Gesellschaft wollte das gar nicht.» In erster Linie, weil man laut Schmid befürchtete, durch den Bau einer U-Bahn könnten die Wohnungspreise weiter steigen und dadurch die Stadtbevölkerung verdrängen.

«Hätte sich die Bevölkerung damals nicht gewehrt, würde es den Kreis 5 heute nicht mehr geben.»

Christian Schmid

Was passieren kann, wenn die Stadtbehörden ihren Willen trotzdem durchsetzen, sei heute in Zürich West gut erkennbar, wo der Wohnanteil gerade einmal 12 Prozent beträgt. 

Dass sich heute auf dem Platz, auf dem Schmid über die Entwicklung dieser Stadt spricht, neben Fussgänger:innen und Fahrradfahrenden auch Autos, Lastwagen, Töff und Trams drängen, hat auch mit den Vorstellungen früherer Entscheidungsträger:innen zu tun.

Vom Arbeiter- zum Szenequartier

Wie der gesellschaftliche Wandel das Wohnen in Städten verändern kann, zeigte sich nach der grossen Wirtschaftskrise 1974, kurz nachdem die U-Bahn-Pläne bachab geschickt worden waren. Innerhalb von drei Jahren wurden in der Schweiz rund 300’000 Arbeitsplätze gestrichen, was damals zehn Prozent der Arbeitnehmenden betrug.

Die meisten davon seien Gastarbeitende gewesen, die ohne Arbeit auch keine Aufenthaltsberechtigung mehr gehabt hätten, so Schmid. Eine erste Abwanderungswelle erfasste Zürich, gleichzeitig wuchs die Agglomeration. Ende der 70er schrumpfte die Zahl der Stadtbevölkerung auf 376’000.  

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Wo zuvor Arbeiterfamilien wohnten, zogen erste Wohngemeinschaften ein. Junge Menschen mit neuen Träumen, fernab von Hochhäusern und Bürogebäuden. Stattdessen wollte man Kunst, Kultur und vor allem Orte, an denen man sich ungezwungen treffen konnte. Erste Gebäude wurden besetzt. «Der obere Kreis 5 wurde vom Arbeiter- zum Szenequartier», fasst Schmid zusammen.

Während sich die Bewohner:innen veränderten, blieben viele Häuser dieselben.

Einige von ihnen wohl für immer. So auch jene des Fierzquartiers. Die Siedlung unweit der Langstrasse liess Johann Heinrich Fierz, Textilindustrieller und Nationalrat, zwischen 1873 und 1880 nach dem Vorbild der Gartenstadt erbauen, weil er seinen Arbeitern «gesundes und billiges» Wohnen ermöglichen wollte. Das Motto: Sparen, aber schön. Heute sind die 50 Häuschen mit ihren Gärten ein Vermögen wert – auch wenn die privaten Eigentümer:innen aufgrund des Denkmalschutzes nur nach strengen Vorgaben sanieren dürfen.

Seit dem Jahr 2013 unter Schutz: Die Häuser an der Fierzgasse. (Foto: Isabel Brun)

Hier sind weder teure Neubauten noch verdichtetes Bauen möglich. Dabei wäre zumindest zweiteres angesichts der Wohnungsknappheit doch erwünscht?

Christian Schmid überlegt einen Moment, blickt zu den Häusern. Die Herbstsonne lässt das Quartier noch lieblicher erscheinen. Ein kleines Paradies im durchzechten Kreis 5. Schliesslich sagt er: «Ich finde es wichtig und richtig, dass man dieses Stück Geschichte erhält.» Stille Zeitzeugen eines früheren Zürichs. 

Was ist zeitgemäss?

Es gebe genügend andere Gebäude, die neuen städtebaulichen Ideen weichen mussten. Er könne sich zum Beispiel noch gut an die Besetzung des Wohlgroth-Areals Anfang der 1990er-Jahre erinnern, so Schmid. Diese gilt bis heute als die grösste der Schweiz: 100 Personen lebten zeitweise in der leerstehenden Gaszählerfabrik der Wohlgroth AG. Es war quasi eine Antwort auf die Entwicklung in den 80ern: In der Stadt fehlte es einmal mehr an kostengünstigem Wohnraum, weshalb sich neue aktivistische Mieter:innenorganisationen gründeten. 

Ursprüngliche Beschriftung auf Dach: "Keine Räumung, 2 Jahre besetzt"

Zwei Jahre lang wurde das Wohlgroth-Areal besetzt. Am 23. November 1993 wurde es schliesslich geräumt. (Foto: ETH-Bildarchiv)

Schmid selbst lebte damals nur wenige hundert Meter entfernt in einem Blockrand. Eine städtebauliche Errungenschaft aus dem 19. Jahrhundert. Die Idee, Häuserzeilen um einen Innenhof zu gruppieren, hat sich bewährt: Viele Städte Europas wurden nach diesem System erbaut.

Einfach, günstig, aber platzsparend und lebenswert.

Schmid befürwortet die Bauart: «Blockrandbebauungen sind zum einen sehr dicht, zum anderen tragen sie zu einem vielfältigen Quartier bei, da das Erdgeschoss in der Regel für das Gewerbe genutzt wird.» Auch heute sind Restaurants in den Eckhäusern üblich. 

Christian Schmid lehrt seit 2009 am Departement Architektur der ETH Zürich. (Foto: Isabel Brun)

Für den Soziologen ist der Blockrand deshalb noch immer zeitgemäss. Die Gründe, weshalb sowas nicht mehr gebaut würde, sieht er in den veränderten Vorstellungen der Immobiliengesellschaften und bei jenen, die bei der Stadt für die Planung verantwortlich sind: «Das Argument, dass etwas nicht mehr modern genug ist, zieht fast immer. Aber, wie unsere Studien zeigen, sind viele Bewohner:innen sehr zufrieden mit ihren alten Wohnungen.»

Die Bedürfnisse der Stadtbewohner:innen seien im Grunde dieselben wie vor 150 Jahren. Auch wenn sich die Lebensformen verändert hätten.

Die Stadt in der Pflicht

An der Zollstrasse ist heute trotz des guten Wetters nur wenig los. Eine Folge der Gentrifizierung, wie Schmid meint. Werden statt Wohnungen Büros gebaut, hat das einen negativen Einfluss auf das Leben in einem Quartier, heisst es auch in Studien. Der Stadtforscher sagt: «Lässt man die Wirtschaft einfach machen, baut sie in den meisten Fällen keine lebenswerte Stadt.» Umso wichtiger sei es deshalb, die Bewohner:innen in die Prozesse miteinzubeziehen.

Wie das geht, zeigt das Projekt Zollhaus der Genossenschaft Kalkbreite. Bei der Planung befragte man die künftige Mieterschaft, wie sie gerne wohnen würde, weshalb die Überbauung nun auch unterschiedliche Wohnformen wie Clusterwohnungen oder Hallenwohnen zulässt. 

Ein solches Vorgehen wünscht sich Schmid auch seitens der Stadt. Denn das, was die Verantwortlichen aktuell unter Partizipation verstehen würden, sei mehr Schein als Sein: «Oft wird es gegen aussen so kommuniziert, als könne die Bevölkerung mitentscheiden, dabei ist es oft lediglich ein Austausch zwischen Grundeigentümer:innen, Investor:innen und der Stadt.»

Dabei zeige gerade die Geschichte des Industriequartiers, wie wichtig die Meinung seiner Bewohner:innen war. «Hätte sich die Bevölkerung Zürichs damals nicht gegen die Verkehrsprojekte und die städtebaulichen Pläne gewehrt, würde es den Kreis 5 nicht mehr geben», ist er sich sicher. 

Schmid steht auf dem Röntgenplatz, im Hintergrund strotzt der dunkelrote Koloss der Baugenossenschaft des eidgenössischen Personals, der 1925 erbaut wurde. Bis Anfang der 80er-Jahre galt der Platz als Verkehrsknotenpunkt, heute fahren Kinder mit ihren Trottis um die Kiesfläche.

Wie wird die Stadt aussehen, wenn sie erwachsen sind?

Fokus Wohnen

Wohnen müssen alle. Es erstaunt deshalb nicht, dass kaum ein Thema so stark beschäftigt wie die Wohnungssuche und Mieterhöhungen. Um rund 40 Prozent sind die Mietpreise in der Stadt Zürich in den letzten 20 Jahren gestiegen und es gibt keine Anzeichen dafür, dass dieser Trend abflachen wird. Wohnen wird zunehmend zum Luxusgut. Wie können wir auch in Zukunft in einer bezahlbaren, attraktiven und nachhaltig gebauten Stadt leben? Dieser und weiteren Fragen widmet sich Tsüri.ch einen ganzen Monat lang mit verschiedenen Veranstaltungen und redaktionellen Beiträgen. Zum Programm.

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