Keine Schuhreparaturen mehr an der Sihlfeldstrasse 113

Mehr als sein halbes Leben hat Michele Scrocca in seinem Schuhreparatur- und Schlüsselgeschäft an der Sihlfeldstrasse 113 verbracht. Nun muss der 72-Jährige nach 40 Jahren ausziehen. Das Haus weicht einem Neubau und wird im Herbst nächsten Jahres abgerissen.

Michele Scrocca muss seinen Laden nach 40 Jahren aufgeben.
40 Jahre lang fertigte Michele Scrocca in seinem Laden in der Sihlfeldstrasse Schlüssel an und reparierte Schuhe. Nun muss er raus, weil das Haus abgerissen wird. (Bild: Noëmi Laux)

In roter Arbeitsmontur und Brille auf der Stirn steht Michele Scrocca in seinem Laden hinter dem Tresen. Immer wenn jemand das Geschäft betritt, klingelt die Glocke über der Tür. So bekommt er mit, wenn Kundschaft hereinkommt, auch wenn er gerade hinten in der Werkstatt arbeitet. Aus kleinen Lautsprechern trällert leise Radiomusik. Scroccas Laden wirkt einladend, wenn auch sehr chaotisch. An den Wänden hängen Plakate und alte Schilder; im Regal hinter dem Tresen stehen diverse reparierte Schuhe zur Abholung bereit.

Scrocca ist in der Nähe von Napoli geboren und aufgewachsen. Ende 1968, er war gerade 18 geworden, wanderte er in die Schweiz aus. Zunächst arbeitete er in einer Stickerei im Appenzell, dann lernte er den Beruf des Feinmechanikers, jobbte in einer Tankstelle und half in einem Schuhgeschäft aus. «Ich habe viele verschiedene Sachen gemacht, als ich jung war», sagt der 72-Jährige und lacht. Heute bereiten ihm Veränderungen grössere Mühe. Einerseits wegen seines Alters, andererseits hat er sich an das Leben, das er momentan führt, gewöhnt. Er fühlt sich wohl hier.

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Die Sihlfeldstrasse 113 und die Kochstrasse 1, 3, 5 und 7 werden abgerissen – rund 50 Wohnungen müssen einem Neubau weichen. (Bild: Noëmi Laux)

«Wenn die Miete höher ist, muss ich mehr arbeiten. Das kann und will ich in meinem Alter nicht mehr.»

Michele Scrocca, muss nach 40 Jahren sein Schuh- und Schlüsselgeschäft schliessen

Vom Abriss betroffen sind neben Scroccas Geschäft rund 50 Wohnungen und die Orion Bar. Denn: Abgerissen werden neben der Sihlfeldstrasse 113 auch die anliegenden Gebäude in der Kochstrasse 1, 3, 5 und 7. Dass Scrocca nach 40 Jahren aus seinem Laden raus muss, macht ihn traurig, aber nicht wütend. «Ich schätze, dass uns die Hausverwaltung früh informiert hat und wir die Chance haben, etwas Neues zu finden.» Das ist aber gar nicht so einfach. Aktuell zahlt Scrocca weniger als 2000 Franken Miete für seinen Laden beim Lochergut. In diesem Preissegment an zentraler Lage ein Lokal zu finden, ist praktisch unmöglich. Die Läden, die er bisher angeschaut hat und die in Frage kommen, kosten alle weit über 2000 Franken. «Wenn die Miete höher ist, muss ich mehr arbeiten. Das kann und will ich in meinem Alter nicht mehr.»

Hinzu kommt, dass er über die Jahre eine treue Stammkundschaft aufbauen konnte. Ein Grossteil würde mit ihm umziehen, davon ist er überzeugt. Aber: «Wenn ich zu weit draussen bin, wo die Mieten günstiger sind, dann überlegen es sich die Leute auch zweimal, ihre Schuhe weiterhin zu mir zu bringen, weil sich der weite Weg je nachdem nicht mehr lohnt.»

Verliert Laden und Wohnung

Durch den Abriss verliert Scrocca nicht nur seinen Laden, sondern auch seine Wohnung. «Meine Frau und ich wohnen direkt über dem Geschäft. Das war ideal für uns, besonders jetzt, wo wir älter werden.» Unter diesen Umständen hätte er gerne noch ein paar Jahre weitergearbeitet. «So lange wie möglich», fügt er hinzu. «Das hält flexibel und fit. Ich mag es nicht, nichts zu tun». Sein Grossvater habe gearbeitet, bis er 92 Jahre alt war, erzählt er.

Schon sein Vater und Grossvater verdienten ihr Geld mit der Reparatur von Schuhen.
Michele Scrocca arbeitet gerne und möchte sich noch nicht zur Ruhe setzen. (Bild: Noëmi Laux)

Als Scrocca den Laden 1983 eröffnete, war er 32 Jahre alt. Seither machte er nichts anderes. «Vielleicht mal in die Ferien gehen», sagt er. «Ansonsten war ich die meiste Zeit hier im Laden.» Mit dem Geschäft führt Scrocca eine Familientradition fort. Sowohl sein Vater als auch sein Grossvater unterhielten ihren Lebensunterhalt mit der Anfertigung von Schlüsseln und der Reparatur von Schuhen. Jeden Nachmittag habe Scrocca als Kind im Laden seines Vaters verbracht und so schon früh Einblicke in das Familienhandwerk bekommen. «Immer nach der Schule bin ich in den Laden gerannt. Ich war sehr gerne dort.» 

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Eine neue Wohnung für sich und seine Frau hat er mittlerweile gefunden. Ende Juni ziehen sie an den Stadtrand – nach Höngg an die Endhaltestelle des 13er Trams Frankental. Ob und wie es mit dem Laden weitergeht, steht noch in den Sternen. Einen Plan B haben Michele Scrocca und seine Frau aber dennoch: «Wenn wir nichts finden, gehen wir zurück nach Italien und setzen uns dort zur Ruhe.» In seinem Heimatdorf Benevento haben die beiden ein Haus, in das sie einziehen würden. Zwar wäre das nicht, was sie eigentlich wollten, aber immerhin eine sichere Bleibe fürs Alter. Und dennoch würde ihm vieles fehlen an seinem alten Leben: Die Kund:innen, zu denen er in den letzten Jahrzehnten eine enge Bindung aufgebaut hat, das Quartier, in dem er den Grossteil seines Leben verbracht hat, und die Arbeit als Schuhmacher.

Die Star Immobilien AG, Eigentümerin der betroffenen Liegenschaften, wollte sich auf Anfrage von Tsüri.ch zum geplanten Neubau nicht äussern. Michele Scrocca meinte jedoch, dass man ihm ein Vorzugsrecht eingeräumt habe. Von diesem wird er aber wohl kaum Gebrauch machen, da er sich einen höheren Mietzins nicht leisten kann.

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