Letzte Nacht war hart, unter einer Folie, im Regen - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Benjamin von Wyl

Journalist

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26. Mai 2015 um 14:29

Letzte Nacht war hart, unter einer Folie, im Regen

Eine Nacht im Regen, ein Zigifilter im Wasserkocher und kein Masturbationsort in der WOZ-Redaktion.

Tag 6: Vice-Redaktor Benjamin von Wyl lebt eine Woche draussen hinter der Pukapuka-Bar des Theater Neumarkts und schreibt täglich auf tsüri.ch.

Diese Nacht schlafe ich wirklich drinnen! Diese Nacht schlafe ich wirklich drinnen! Diese Nacht schlafe ich wirklich drinnen! Das habe ich den ganzen gestrigen Tag allen anderen und mir selbst gesagt, aber als ich dann schlafen gehen will, packe ich meine Wertsachen und meinen Schlafsack in der Pukapuka zusammen und richte mir das Nest auf der Platte hinter der Theater-Bar zurecht.

Zum Glück ist mein E-Reader wasserdicht. Und in die Malabdeckfolie vom JUMBO kann man sich auch samt Schlafsack einwickeln. Richtig romantisch ist es aber dank der Probe von den Helmis, die morgen hier „Rocky“ und den „Zirkus der Tiere“ aufführen. Deshalb proben die Wackeren auch noch um 24 Uhr. Ich halte die Plastikfolie mit meiner rechten Hand zusammen, während durch die dünne Holzwand der Aufruf „Courage! Courage!“ gesungen wird. Begleitet von einem Schlagzeug, das nicht schneller als mein Atemrhythmus ist. Es wär kitschig, wenn es nicht so kalt wäre. Ich atme ruhig, bewerte die rasenden Gedanken nicht und schlafe im Niesel ein.

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Ich erinnere mich an einen Traum voller Pastellfarben, Freundin und Freunde sind da, ganz viele Menschen, die mir in den letzten Tagen Gipfeli vorbeigebracht haben und es ist warm. Wir tragen offene Leinenhemden.

Als ich aufwache, bin ich überrascht, wo ich bin. Also, ich habe nicht vergessen, dass ich bei der Pukapuka bin, aber ich bin von mir überrascht, dass ich noch draussen bin. Dass ich zum Schlafen weder in den Bühnenraum, noch in die Bar, noch unters Vordach gegangen bin. Es ist dunkel und auf meinem Handy-Display erwarte ich jede Uhrzeit zwischen 00:05 Uhr und 02:30 Uhr, aber da steht schon was von 3:00. Ich bin von meinem Schlaf überrascht, denn normalerweise ist der schlecht, aber so eingepackt in zig Kleiderschichten, einen Schlafsack, der für die Griechenlandferien knapp warm genug war und dieser Folie, fühl ich mich wohl wie ein Känguruh im Beutel. Und ich will auch gleich wieder einschlafen und erinnere mich an die Meditationslektion „Wennd Gedanke bechunsch, luegsch sie dir churz ah und schiebsch sie widr wiiter.“ Und mit dieser Methode ist das alles leicht, wattig und ich dämmere wieder weg – auch darauf bedacht möglichst ruhig zu liegen, da die Folie etwas rutschig ist und die Limmat nicht nur wegen dem höheren Wasserstand drohend nah wirkt.



[caption id="attachment_2304" align="alignnone" width="640"]Die Limmat um 04:30 Uhr Die Limmat um 04:30 Uhr[/caption]

Das nächste Mal wache ich um 04:30 Uhr auf. Jetzt bin ich wach genug, damit mir das zu blöd wird und ich gehe rein, zweckentfremde eine Schaumstoff-Matte der Helmis und lege mich noch eine Stunde hin. Da ich eh hier bin, brauche ich nicht so viel Schlaf, aber Tageslicht, wenn man aufsteht, ist irgendwie doch ein Muss. Das habe ich dann um 05:30 bekommen und ich trotte – gänzlich ohne Motivation zu joggen oder zu baden – mit meinem Wasserkocher zum Brunnen unter der Autoüberführung. Wie immer schwimmen ein paar Kippen im Becken und da ich parallel selbst grad am Rauchen bin – Frustbewältigung – schwemmt ein aufgeweichter Filter in mein Mate-Wasser. Das motiviert nicht gerade und ich stehe am Ende etwa 15 Minuten am Brunnen, versuche alle Aschepartikel und alles, was ich für mögliche Aschepartikel halte, rauszuwaschen. Als ich später mit dem heissen Wasser und meinem Mate auf der Bank vor der Pukapuka sitze, überlege ich mir das alles nochmals: Warum habe ich diese Nacht draussen gepennt? Es gibt etwa drei Möglichkeiten. Die erste hat überhaupt nichts mit dem Thema zu tun, sondern ist so'ne lästige Sturheitsgeschichte über nicht abgeholte Theatertickets, die mich vor dem Einschlafen aufgeregt hat und einen guten Freund und mich temporär auseinandertreibt. Die zweite Möglichkeit ist Zwang zur Konsequenz: Meine Maiwoche draussen hat mir Regen gegeben. Und ich will mir meine Maiwoche draussen davon nicht einschränken lassen. Der Regen hat mich quasi provoziert. Der Regen gibt mir eine Möglichkeit mein geliebtes, bei VICE ausgelebtes Anything-goes-Super Mario noch etwas weiter zu spielen. So ein „Don't give a fuck“-Denken, das einem zu allen möglichen Aktionen treibt, um sich selbst zu spüren, sich selbst bewusst zu werden. Ich nehme an, das ist zumindest ein Faktor.

Die dritte Möglichkeit wäre die beschissenste, denn sie würde all die „Oh, ich bin so ein glücklicher Selbsterfahrungshippie“-Ausrufe der letzten Tage als verlogen enttarnen. Die dritte Möglichkeit ist, dass ich einfach nur hörig bin, unterwürfig. Dass ich zwar aggressive Lyrics kreischend die Limmat runterrenne, aber nur so lange es in das Konzept meiner momentanen Beschäftigung passt. Dass ich die Leute vom Neumarkt nicht enttäuschen will. Dass ich meinem öffentlichen Bild als Vice-Mitarbeiter gerecht werden will. Natürlich forderte niemand vom VICE und Neumarkt, dass ich überhaupt draussen schlafe, aber mein Erfüllungszwang als guter Arbeiter geht so weit, dass ich mir immer selbst neue Barrieren baue. Denn ich bilde oder rede mir ein, dass das von mir erwartet wird. Ein Teil dieses selbstgeschaffenen Drucks sind auch all meine Ankündigungsposts auf Facebook und Twitter, denn ich will mir ja nicht anhängen lassen, dass ich ein inkonsequentes Grossmaul bin. Ich weiss nicht, ob dieser dritte Grund zutrifft. Und vielleicht ist dieser Gedankengang nicht nur vom stetigen Regen geprägt, sondern auch von den KV-Schülern, die die Wendeltreppe von der Busstation runterströmen und vom Arbeitstagsverkehr, der etwa 100 Meter von meiner Schreibbank in einem Verkehrsunfall mündet.

Auf alle Fälle weiss ich, dass man mit wenig Komfort leben kann, auch mit noch deutlich weniger als ich in meiner Zeit am Escher-Wyss-Platz habe. Und für mich persönlich weiss ich, wie gut es mir tut, das wieder zu spüren. Wie wichtig solche „Draussen“-Momente sind, in denen man sich bewusst wird, was man alles nicht braucht. Und ich weiss, dass ich Pfingstmontag lieber hier draussen verbracht habe, als im Büro wie es die WOZ-Redaktion hier um die Ecke getan hat:



[caption id="attachment_2305" align="alignnone" width="640"]Nach langer Diskussion haben wir den Kafi auf heute verschoben. Nach langer Diskussion haben wir den Kafi auf heute verschoben.[/caption]

Mein negatives Gegrübel wird unterbrochen, als Sara und Nick samt Pflegehund antraben. „Du schlofsch unter dem Blache, aber hesch nid wölle bi mir ufem Dach schlofe?“ - „Bi dir ufem Dach isch au alles voller Glassplitter gsi!“ An dem Abend auf Saras Dach hatte ich draussen auch wirklich gespürt, Konventionsfreiheit, spätestens ab dem Moment, in dem sie die Flasche Pflaumen(?)schnaps aus dem Fenster auf die Matratze auf dem Dach geschmissen hatte, der Schnaps auf einigen Flaschen Bier gelandet war und wir etwa eine halbe Stunde lang die Scherben zusammensammeln mussten, bevor wir uns um die Reinigung der bier- und schnapsgetränkten Matratze kümmerten.



[caption id="attachment_2301" align="alignnone" width="640"]Schlomo hat draussen am meisten Erfahrung. Schlomo hat draussen am meisten Erfahrung.[/caption]

Sara wohnt in einem sehr speziellen Haushalt weit über Zürich: Der Holzboden wurde von Kindern als Aquarium bemalt, ihre Zimmerwand ist eine rot-gelbe Feuersbrunst inklusive Phönix – sie nimmt aber keinerlei Drogen – und ihr WC lässt sich mit einer Art Rammbock abschliessen. Ich glaube, sie lebt auch draussen (Nick, der heute mit ihr zusammen zu Besuch gekommen ist, ist auch ein sehr guter Freund, aber er lebt eher drinnen). Begleitet wurden die beiden von Schlomo. Schlomo ist ein Pflegehund, der erst seit zwei Tagen in Saras Obhut ist. Das Tier hat viele Narben und war in seinem bisherigen Leben überhaupt noch nie drinnen. Er kannte keine Innenräume, aber er macht sich laut Sara sehr gut: Keine Probleme mit Treppen, keine Probleme mit Häufchen im Haus. Schlomo ist anpassungsfähig und das wohl auch, da er "draussen" noch viel besser kennt, als wir alle.

Jetzt muss ich aber mal schauen, dass ich rechtzeitig zum Kafi in der WOZ-Redaktion bin und ob es punkto Masturbation in deren Räumen noch irgendwelchen Spielraum gibt.

Hier geht's weiter zu den Beiträgen der Tage 1 bis 5:

Tag 1: Tsüri ist auch nicht besser als der Aargau!

Tag 2: Ich bin letzte Nacht fast erfroren - und fühle mich gut!

Tag 3: Drei Schwestern stören den Verkehr im Kreis 5

Tag 4: So ist es morgens um 7 nüchtern im Hive

Tag 5: Ich bade nackt am Letten – ohne es überhaupt zu bemerken

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