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Von Benjamin von Wyl

Journalist

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21. Mai 2015 um 14:15

Tsüri ist auch nicht besser als der Aargau

Der Kreis 5 ist auch nicht besser als der Europapark. Und sonst ist Tsüri ziemlich aargauisch.

Tag 1: Vice-Redaktor Benjamin von Wyl lebt eine Woche draussen hinter der Pukapuka-Bar des Theater Neumarkts und schreibt täglich auf tsüri.ch.

Ich bin also draussen angekommen, hab allen Köcherfliegen Namen gegeben und mich im Kleistern versucht. Auch mein Zürcher-Polizei-Teddybär und ein Nachttischmöbel habe ich angeschleppt. Als ich bepackt wie ein Clochard, dessen Einkaufswagen geklaut wurde, aus dem Bahnhof Hardbrücke nach oben lief, fühlte ich mich wieder so wie dann, als ich das erste Mal hier war (Klischee! Klischee! Klischee! Du bist einfach erst grade angekommen, hast nix zu erzählen und willst nicht allzuviel tippen, da deine zugekleisterten Hände die Tastatur verschmieren.).

Jedenfalls war ich für meine erste VICE-Sitzung am Bahnhof Hardbrücke. Da sah ich diesen Klotz, bekannt als Prime Tower bzw. Sarumans Domizil in Mitteleuropa. Er ist gar nicht grösser als der Roche-Tower in Basel, aber bei dem kann man halt nicht direkt danebenstehen.



[caption id="attachment_2180" align="alignnone" width="300"]Der Primetower - Sarumans Domizil in der Schweiz? Der Primetower - Sarumans Domizil in der Schweiz?[/caption]

Ich sah die Strassenüberführung und ich war mir sicher, dass ich an einem Ort bin, an dem vor allem Konzernzentralen (und deren oberes Management, das wie bei Elon Musk unter den Schreibtischen schläft) leben. Wo sollte hier ein VICE-Büro sein? Ich habe mir das eher zusammengeschustert vorgestellt. Dann bog ich nach rechts ein, sah den Nostalgiefotoautomaten hinter dem Helsinki und war innert 30 Minuten im Dachstock, wo sich Stahlbergers Label mit den VICE-Menschen zusammendrucksten. Ich erlebte einen Chefredaktor, der punkto straightforwardness mit meinem Autobauer-Vater mithalten kann und punkto Cartoon-Comic-Nerdverliebtheit auch nicht anders drauf war, als wir Aargauer Hinterland-Kinder, die in räumlicher Bewegung kaum Freiheiten und in Counterstrike-Chats und dadaistisch-zufällig aus der ganzen Welt zusammengeklaubten ICQ-Kontaktlisten alle Freiheiten hatten. Jedenfalls, die Freiheiten, die die damaligen Internetverbindungen erlaubten und die Freiheit im Geist, die man erlangt, wenn man das World of Warcraft-Fanvideo «The Internet is for porn» drei Stunden in Dauerschleife schaut.



[caption id="attachment_2176" align="alignnone" width="300"]IMG_0292 Die Pukapuka-Bar des Theater Neumarkts am Escherwyssplatz, auch sehr unwirklich.[/caption]

Ja, das Viadukt ist unwirklich. Ja, Frau Geroldsgarten ist unwirklich. Ja, der Prime Tower ist unwirklich, genauso unwirklich wie die Feierabendbiere und -joints, die wir in unserem neuen Büro oben an der Härterei geniessen konnten. Und diese Unwirklichkeit erschlägt mich jetzt – nach leidiglanger Pendelei – nur noch an Tagen, an denen wir die Vornacht in Kleinbasel mit viel zu viel Jameson grundiert hatten und deren Kür homoerotische Ausdruckstänze zu Alphavilles «Forever Young» waren. Dann haut die Unterführung von «Hardbrücke SBB» immer noch rein. Die aufgeweckten Anzugträger, die deformiert-kränklichen Anzugträger, die geschleckten Anzugträger, die Anzugträger, die schon um 9 Uhr in Thermos-Joggingkleidern rumrennen ... All das kann einem die «Europaparkhaftigkeit» dieses Quartiers wieder bewusst machen.

Aber genauso wie der Europapark ein abgesperrtes Gebiet in langweilig-süddeutscher Einöde ist, ist diese Variante von Zürich sehr begrenzt. Zürich ist eigentlich auch nur Aargau. Und das wissen die Zürcher auch deshalb, da sie im Ausgang immer wieder auf Aargauer treffen über deren Landjugend-Proletenhaftigkeit sie sich aufregen. Wie könnten sich Zürcher über die Aargauer in der Mäusefalle aufregen, wenn sie nicht selbst da gewesen sind? In der Stadt leben die meisten Menschen in Oerlikon, Affoltern, Schwamendingen, im besten Fall im Höngg oder Altstetten. Nicht im Cheib, nicht im Kreis 1. Und das ist nur die Stadt.



[caption id="attachment_2173" align="alignnone" width="300"]IMG_0286 Mein Schlafplatz für die nächste Woche. Schon einmal verregnet.[/caption]

Da wird zwar immer gross von irgendeinem Züri-Löi rumplagiert, aber am Ende wohnen die meisten Einwohner des Kanton Zürich in einem einig Teig aus Bülach, Andelfingen und Hinwil. Und naja, um eine sehr beeindruckende Kampagne von einem Aargauer Grossrat nachzuäffen: Baden statt Bülach, nein, Bagdad statt Bülach. Scharia statt Seefeld. Aarau statt Andelfingen! Und Helsinki statt Hinwil! Oder auch Holziken. Und lieber Attelwil statt Andelfingen, dabei stimmten in Attelwil 94% für die Ausschaffungsinitiative, bei einem Überfremderanteil von 2% auf beeindruckende 400 Einwohner. Aber da dieser Herr ein lispelnder SVP-Hardliner ist, ist auch meine Version seiner Hass-Floskeln überspitzt und eigentlich will ich gar nicht soweit gehen. Denn nach anderthalb Jahren Zürich-First Person Action kann ich sagen: Wirkliche Unterschiede gibt es da nicht. Zürich ist auch nicht anders als der Aargau.

Und deshalb erinnert mich meine Woche draussen am Limmatufer vor allem an die Pfingstlager in der Jungschi. Dort durften wir tote Bäume in den Boden treten. Hier darf ich mit Kleister rumschmieren. Zürich kocht auch nur mit Wasser. Aber ich bin ja auch erst ein paar Stunden hier – und in vier Stunden erst einmal völlig verregnet worden.

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