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16. Januar 2019 um 14:55

Ethisch Essen: Genuss ohne schlechtes Gewissen

Nach welchen Kriterien sollen wir entscheiden, was auf den Teller kommt? Wir haben bei Philosophin und Unternehmerin Sonja Dänzer nachgefragt – sie hält am Zürcher Philosophie Festival einen Lehrstuhl zu «Ethisch Essen».

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Das Thema Ernährung scheint die Welt zu beschäftigen. Kaum ein Foodtrend, der nicht bereits vom nächsten abgelöst wird. Überfluss und Bequemlichkeit sind bei vielen die ausschlaggebenden Kriterien, wie Lebensmittel eingekauft werden. «Wir müssen dringend unsere Ernährung überdenken», sagt Ethikerin Sonja Dänzer. Im Vorfeld des Zürcher Philosophie Festivals spricht sie mit uns über Einkaufsfallen, Bio-Labels und wie es möglich ist, persönliche Integrität zu wahren und sich genussvoll zu ernähren.

Ich habe gerade einen Caffè Latte mit Kuhmilch bestellt. Hab ich jetzt schon alles falsch gemacht, Sonja Dänzer?

Nun, darüber können wir uns jetzt unterhalten!

Was hat Ethik auf dem Teller zu suchen?

Das ist eine zentrale Frage. Traditionell ist Ethik vor allem in Bezug auf menschliche Beziehungen verstanden worden. Viele schauen auch heute noch die Lebensmittel, die sie essen, nicht als Gegenstand moralischer Betrachtung an. Doch alles, was wir essen, wurde irgendwie produziert. Die Produktionsmethoden haben wiederum Auswirkungen auf unsere Umwelt, auf betroffene Lebewesen und im Endeffekt auch auf den Menschen. In dem Moment, in dem eine menschliche Handlung Leid verursachen oder moralische Rechte verletzen kann, ist es eine ethische Frage. Und das ist bei dem, was wir essen, der Fall.

Was heisst es, ethisch zu essen?

Die Grundfrage der Ethik ist: Was soll ich tun? Ethik ist also die Reflexion darüber, welche Handlungen sich moralisch rechtfertigen lassen und welche nicht. Ethisch essen heisst zunächst, sich vertieft darüber Gedanken zu machen, ob und wie sich unsere Essensentscheidungen rechtfertigen lassen, und dann auch danach zu handeln. Am Ende zählen die stärkeren Argumente.

Wo liegt der Unterschied zwischen nachhaltigem, fairem und ethischem Essen?

Ethisches essen ist der weiteste Begriff, der die anderen miteinschliesst. Er bezieht auch Fragen der Tierethik mit ein. Bei Fairness geht es um globale Gerechtigkeit, bei Nachhaltigkeit um intergenerationale Gerechtigkeit, also um die Frage: Was schulden wir zukünfltigen Generationen?

Wenn ich etwas tun möchte, um mein Einkaufsverhalten zu verbessern: Ist es tatsächlich immer besser, lokal und saisonal einzukaufen?

Unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit betrachtet, müssen wir uns fragen, wie unser Konsumverhalten heute die Welt der Zukunft beeinflusst. Lokal ist sicher gut, weil man kürzere Transportwege hat. Saisonal ist auch gut, weil man weniger lagern muss. Aber die Thematik darauf zu reduzieren, ist leider zu einfach. Wenn man annimmt, dass Kuhmilch aus Zürich automatisch besser ist als Bio-Sojamilch aus Deutschland, ist man zu wenig informiert.

Die Milch-Frage scheint die Welt zu spalten. Nach der Sojamilch kamen die Reismilch, Hafermilch, Cashewmilch, Mandelmilch. Bis bekannt wurde, dass für die Mandelproduktion Unmengen an Wasser gebraucht wird. Welche Milch können wir noch trinken?

Pflanzenmilch ist aus meiner Sicht sicherlich ethischer als Kuhmilch. Kühen ihre Jungen zu entreissen und sie zu töten, damit wir Muttermilch trinken können, die wir nicht zum Überleben brauchen, halte ich für moralisch nicht rechtfertigbar. An Soja-, Hafer-, Reismilch etc. gibt es grundsätzlich nichts auszusetzen, wenn sie nachhaltig produziert werden. Weitaus wichtiger als hyperlokal einzukaufen ist eine nachhaltige Produktion, die mit dem Bio-Label ausgezeichnet wird. Denn wenn unsere Böden und Früchte pestizidverseucht sind und grosse Monokulturen unsere Böden restlos anbauunfähig machen, hat das verheerende Folgen. So wie wir heute produzieren, zerstören wir nicht nur unsere Umwelt, sondern im Prinzip unsere eigene Zukunft.

In Supermärkten sorgen Labels wie Bio, Fairtrade, Züribiet und Naturaplan für Verwirrung. Einige kaufen extra auf dem Markt ein, um kleine Bäuer*innen zu unterstützen, wissen aber nichts über den Anbau. Wie sollen sich die Konsument*innen zurechtfinden?

Die Bio-Labels sind die wohl wichtigsten Orientierungshilfen. Da gibt es zwar verschiedene – die Knospe hat zum Beispiel höhere Standards als andere Bio-Labels –, denen kann aber allen weitgehend vertraut werden. Ich kaufe Bio-zertifizierte Produkte aus Europa und ziehe diese auch Schweizer Produkten vor, die nicht bio sind. Kleinproduzent*innen zu unterstützen, ist grundsätzlich sehr sinnvoll, nur nicht auf Kosten der Nachhaltigkeit. Natürlich gibt es auch einige Bäuer*innen, die ohne Pestizide produzieren und kein Label haben. Eigentlich eine verkehrte Welt: Diejenigen, die die Natur kaputt machen, müssten eigentlich draufzahlen und es deklarieren – und nicht die Bio-Bäuer*innen.

Wie steht es mit Fairtrade aus?

Grundsätzlich ist es wichtig zu wissen, dass das Fairtrade-Label nur an Produkte aus Entwicklungsländern vergeben wird. Wenn also ein Produkt aus Europa kein Fairtrade-Label hat, kann man nicht daraus schliessen, dass es nicht anständig produziert worden ist – dafür gibt es schlicht kein Label. Beim Fairtrade-Label will man Kleinproduzent*innen stärken, diese in Kooperativen zusammenschliessen und ihnen eine längerfristige Existenz sichern, damit sie nicht dem schwankenden Weltmarktpreis ausgeliefert sind.

Für viele Länder ist der Handel ein wichtiger Wirtschaftszweig. Was, wenn durch weniger Handel andere Industrien untergraben werden – beispielsweise ein Nachbarland wie Italien, für das der Tomatenexport wichtig ist? Ist es ethisch vertretbarer, wenn die italienischen Arbeiter*innen ihren Job verlieren?

Grundsätzlich halte ich es für falsch, Jobverluste höher zu gewichten als Nachhaltigkeit. Die Landesgrenzen sind aus der Nachhaltigkeitsperspektive betrachtet eigentlich völlig egal. Es geht in erster Linie um Entfernungen. Und dann um klimatische Gegebenheiten. Es ergibt völlig Sinn, Tomaten in Italien zu kultivieren. Es braucht schliesslich auch weniger Energie, die Tomaten aus Italien zu importieren, anstatt Treibhäuser zu betreiben. Es gibt leider keine einfache Daumenregel – man muss sich informieren und die Energiebilanzen anschauen.

Ist der freie Markt hinderlich für eine ethische Lebensmittelindustrie?

Ja, ein deregulierter freier Markt ist mit Sicherheit hinderlich, weil ethische und nachhaltige Gesichtpunkte keine Rolle spielen. Würde man beispielsweise die versteckten Kosten für die Umwelt und das Klima in den Preis eines Produkts integrieren, hätten wir schon ein realistischeres Bild. Der Preis ist der einzige Regulationsmechanismus, und das ist fatal.

Helfen staatliche Regulierungen?

Wenn der Staat zum Beispiel beschliessen würde, keine Pestizide mehr zuzulassen, würde das mit Sicherheit der Umwelt helfen. Das Problem ist aber, dass sich die Politik schwer tut, solche Initiativen international durchzusetzen. Ich verstehe die Schweizer Bäuer*innen, die Angst haben, dass die Schweizer*innen ihre Produkte im Nachbarland einkaufen gehen, weil es dort billiger ist. Ich bin dafür, dass solche Regulierungen erfolgen und dass sie mit anderen Massnahmen ergänzt werden.

Vielen sind die Lebensmittel in den grossen Supermärkten jetzt schon zu teuer.

Das finde ich ein irrsinniges Argument! Wir geben einen so kleinen Prozentsatz unseres Einkommens für Essen aus wie nirgendwo sonst auf der Welt. Dafür finanzieren wir uns so haufenweise Gadgets oder Kleider, die wir nicht brauchen. Und das auf Kosten der Zerstörung. Das Geldargument ist einfach nur kurzsichtig und ignorant.

Viele überkommt bei solch einer Elefantenaufgabe Hoffnungslosigkeit. Sie denken, wenn China weiterhin so produziert, macht es keinen Unterschied, ob sie ein Ei mehr oder weniger essen.

Das Problem ist überwältigend, das kann ich verstehen. Aber wir sind im Grunde genommen alle mit ein Grund, warum China so produziert. Wir können eine Vorreiterrolle einnehmen und einen gegensätzlichen Trend einleiten. Wenn nicht einmal wir als Konsument*innen willig sind, wie können wir dann diese grossen Akteur*innen überzeugen? Es ist wichtig, dort anzusetzen, wo man kann: bei sich selbst. Es ist eine Frage der persönlichen Integrität.

Lässt sich das Übel verkleinern, in dem wir alle vegan werden?

In Bezug auf Tierprodukte plädiere ich dafür, von der Ganz-oder-gar-nicht-Mentalität wegzukommen. Diese schreckt die meisten nur ab, obwohl es enorm helfen würde. Als Faustregel gilt: So pflanzlich, bio und saisonal wie möglich, lokal, wo es sinnvoll ist und bei Produkten aus Entwicklungsländern wenn möglich Fairtrade.

Was ist aus ethischer Sicht das Problem an Tierprodukten?

Bei Tierprodukten lassen sich verschiedene Aspekte unterscheiden. Nehmen wir den Nachhaltigkeitsaspekt: Tierprodukte verbrauchen viel mehr Ressourcen, um produziert zu werden. Sie verbrauchen viel mehr Wasser und Energie als pflanzliche Produkte. Das Futter, das die Tiere essen, muss auch erst produziert werden – insofern ist dies viel ineffizienter. Zuchttiere verursachen zudem eine enorme Menge an Klimagasen. Und aus tierethischer Sicht ist natürlich die aktuelle Massentierhaltung katastrophal.

Macht es einen Unterschied, welche tierischen Produkte man isst?

Wenn wir gesondert die Gasausstossung betrachten, ist es paradox: Eine tierethischere Haltung mit Weidehaltung ist nämlich umweltschädlicher. Werden die Tiere aber unethisch in Fabriken gemästet, kann dort über die Lüftung ein Teil der schädlichen Gase wiederverwendet werden.

Das macht es für die Konsument*innen nicht gerade einfacher.

Es hat auch niemand gesagt, dass es einfach ist. Aber die Leute müssen anfangen, sich die Mühe zu machen und sich zu informieren. Sie müssen anfangen, zu realisieren, wie verhängnisvoll ihre aktuelle Bequemlichkeit ist.

Müssen wir auch lernen, im Alltag mehr zu verzichten?

Sich ethischer zu ernähren hat nichts mit Verzicht auf Genuss zu tun. Wir sollten alle lernen, fein vegan zu kochen, zu experimentieren, auszuprobieren. Befasst man sich damit, geht einem eine ganze Welt neuer Lebensmittel auf. Wenn nur ein kleiner Teil an tierischen Produkten zurückbleibt in unserer Ernährung, wird die Möglichkeit steigen, diese einigermassen anständig zu produzieren.

Wie klein sollte dieser Anteil sein?

Der Richtwert liegt bei fünf Prozent. Interessanterweise deckt sich dieser Richtwert mit den Gesundheitsempfehlungen vieler wissenschaftlichen Studien darüber, was für den Menschen gesund ist. Der Konsens ist: 95 Prozent möglichst unverarbeitete, pflanzliche Produkte. Das muss man nicht von heute auf morgen umsetzen. Aber es ist wichtig, dass wir uns in diese Richtung bewegen.

In den letzten Jahren gab es einen riesigen Hype um Ernährung. Gesunde Ernährung wird genauso diskutiert wie die Ökobilanz und ein Foodtrend löst den nächsten ab. Bekommt so das Thema "ethisch essen" mehr Aufmerksamkeit?

Dass man sich für das Thema Ernährung interessiert, ist zwar positiv. Trotzdem glaube ich, es ist eher schwieriger geworden, die Leute zu sensibilisieren, weil es ihnen schwer fällt, Trends und Fakten zu unterscheiden. Eine pflanzenbasierte Ernährung wird schnell einmal als Hype abgetan, statt sich die wirklich gut erforschten Argumente dafür anzuhören. Das Thema «ethisch essen» unterscheidet sich stark von den Trendthemen, weil die Argumente dafür an Dringlichkeit gewinnen statt zu verblassen.

Bei vielen Menschen spürt man beim Thema Ernährungsumstellung Unmut. Warum fällt es vielen so schwer, sich ethischer zu ernähren?

Die Menschen stellen sich ungern einer Ernährungsumstellung, weil essen für uns ein emotionales Thema ist. Für die Leute ist das Essen, mit dem sie aufgewachsen sind, mehr als nur Nahrung. Oft übernimmt man unbewusst viele Gewohnheiten aus dem Elternhaus. Dazu kommt, dass der Mensch fälschlicherweise die Vorstellung hat, so wie heute sei die Ernährung des Menschen schon immer gewesen. Dabei kam das erst durch die Industrialisierung, die ein neueres Phänomen ist. Die Massentierhaltung kam sogar erst in den 1950ern auf. Zuvor ass man einfach alles, um zu überleben. Heute ist das anders: Wir können frei entscheiden und noch heute anfangen, uns mit einer gesünderen und umweltfreundlicheren Ernährung auseinanderzusetzen.

Titelbild: pexels

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Dr. phil. Sonja Dänzer
Dr. phil. Sonja Dänzer ist Ethikerin, Philosophin und Unternehmerin und hält am 17. Januar am «Zürcher Philosophie Festival» einen Lehrstuhl zum Thema «Ethisch Essen». Dabei steht sie Besuchern Rede und Antwort. Während ihrer Dissertation «What is ‘Fair Trade’» hat sie gleichzeitig ein Unternehmen gegründet, das eine nachhaltige und faire Produktion vereint: Als «The Green Fairy» stellt sie pflanzenbasierte Glacé her.
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