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3. Juli 2020 um 07:37

«Die Geschichte Zürichs reicht in die Kolonien»

Zürcher Geschichte und Kolonialgeschichte haben auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun. Der Historiker Andreas Zangger sieht das anders. Im Interview mit Tsüri.ch verriet er bereits im Juni 2019, wie Zürcher*innen vom Kolonialismus profitierten, wie unser heutiger Wohlstand damit zusammenhängt und weshalb wir uns noch immer damit auseinandersetzen müssen.

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Monique Ligtenberg: Die Schweiz verfügte zu keinem Zeitpunkt in ihrer Geschichte über eigene Kolonien. Ist es überhaupt berechtigt, von einer Zürcher Kolonialgeschichte zu sprechen?

Andreas Zangger: Man muss zwischen Imperialismus und Kolonialismus unterscheiden. Imperialismus war ein nationales Projekt von Staaten wie Grossbritannien, der Niederlande, Frankreich oder Deutschland, die über grosse Kolonialimperien in Afrika, Asien und in der Karibik verfügten. Kolonialismus hingegen war ein europäisches Projekt. Dazu gehörte eine bestimmte Ideologie, die besagte, dass die Europäer, beziehungsweise die Weissen, höher gestellt sind als andere Völker oder «Rassen». Das bedeutete auch, dass die restliche Welt in die Wirtschaft Europas eingebunden wurde. An diesem ideologischen und wirtschaftlichen Programm war die Schweiz sehr wohl beteiligt.

Wie sahen diese Beteiligungen der Schweiz konkret aus?

Es gab Zürcher Wissenschaftler, die Rassenforschung betrieben, Bücher dazu publizierten und an innereuropäischen Kongressen teilnahmen, an denen die Überlegenheit der weissen «Rasse» gerechtfertigt wurde. Die Schweizer Industrialisierung stützte sich zudem schon sehr früh und ausgesprochen stark auf Überseemärkte ab. Die Textilindustrie exportierte in alle Weltteile, auch in die Kolonien in Südostasien, Ostafrika und zu Beginn Südamerika. Dank der Seidenindustrie wurde Zürich zu einem «Hub», der die Textilexporte bündelte und enge Kontakte zu allen Kontinenten pflegte.

Haben Sie dazu ein Beispiel?

Ein besonders interessantes Beispiel ist die Firma Diethelm & Co. Ihr Gründer Wilhelm Heinrich Diethelm, ein Thurgauer, verbrachte eine Zeit lange in Singapur, verkaufte dort Textilien und begann dann auch mit anderen Produkten, beispielsweise Gummi, zu handeln. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz eröffnete er im Zürcher Seefeld den Hauptsitz seiner Handelsfirma. Von da aus expandierte er in verschiedene Regionen in Südostasien. Das Unternehmen heisst mittlerweile DKSH und ist heute noch die wichtigste Anlaufstelle für Schweizer Exporte nach Asien.

Teilweise schossen sie bei Aufständen einfach in die Menge.

Welche Rolle spielten Zürcher Auswanderer*innen in diesen Handelsbeziehungen?

In einige Kolonien konnten Schweizer*innen problemlos auswandern. Die USA waren zum Beispiel ein typisches Auswanderungsland, viele zog es aber auch nach Südamerika. Vor allem in Brasilien und Argentinien spielten Auswanderer*innen durchaus eine wichtige Rolle in den Handelsbeziehungen mit der Zürcher Industrie.

Und in Afrika und Asien?

In den Kolonien in Afrika und Asien waren Schweizer Auswanderer*innen weniger willkommen. Die europäische Oberschicht in den Kolonien wollte keine Siedler, insbesondere nicht solche aus ärmeren Schichten. Die kolonisierte Bevölkerung sollte nämlich keinen Kontakt mit europäischen Unterschichten haben. Das will nicht heissen, dass nur die Oberschicht in den Kolonien vertreten war. In Indonesien stellten sich zum Beispiel viele verarmte Schweizer – darunter auch viele Zürcher - als Söldner in den Dienst der niederländischen Kolonialarmee. Die Kaufleute wollten aber nicht viel mit ihnen zu tun haben.

Waren also auch Schweizer*innen in koloniale «Rassenhierarchien» eingebunden?

Genau. Und dazu gehörte, dass es – zumindest gegen aussen – keine armen Europäer*innen geben durfte. Wer es nicht schaffte, eine Existenz in der Kolonie aufzubauen, dem zahlte man meistens gleich ein Ticket zurück nach Europa, weil er dem weissen Prestige hätte schaden können.

Weshalb entschieden sich Mitglieder der Zürcher Oberschicht für eine Karriere in Übersee?

Ende des 19. Jahrhunderts erstarkte in Zürich die demokratische Bewegung, die Mitbestimmung für alle, nicht nur für die Elite, forderte. Das fanden einige Männer aus der Zürcher Oberschicht nicht so wahnsinnig toll. Einige, die sich das leisten konnten und das chic fanden, gründeten also Plantagen in den Kolonien, wo sie wieder wie die absoluten Könige lebten und frei bestimmen konnten, was läuft.

Was bedeutete das für die kolonisierte Bevölkerung auf den Plantagen?

In meiner Forschung habe ich mich mit Plantagen auf Sumatra, das damals zum niederländischen Kolonialreich gehörte, auseinandergesetzt. Auf Sumatra hatte man wenig staatliche Kontrolle, die europäischen Unternehmer sorgten also selbst für Recht und Ordnung, was ziemlich unzimperlich gemacht wurde. Insbesondere in der Anfangszeit herrschten sehr unschöne Zustände. Gewalt gehörte zum Alltag. Die Plantagenbesitzer lebten in einer permanenten Angst davor, dass sich die vielen Arbeitskräfte gegen sie vereinigen könnten, was teilweise auch passierte. Solche Vorfälle schlugen sie mit harter Hand nieder: Teilweise schossen sie bei Aufständen einfach in die Menge.

Kolonialismus wird oft mit Sklaverei in Verbindung gebracht. Profitierte auch die Zürcher Wirtschaft davon?

An der Sklaverei war die Zürcher Wirtschaft eher am Rande beteiligt. Anders als die Stadt Bern zum Beispiel, die direkt in die Sklaverei investierte. In Zürich handelte es sich eher um Einzelfälle. Zum Beispiel die Geschichte eines Wirtes aus Stein am Rhein, der einen Aufstand gegen die Zürcher anführte. Zur Strafe musste er Europa verlassen. Man schickte ihn nach Guayana, ins heutige Surinam, wo ihm die Stadt Zürich eine Stelle verschaffe. Er leitete dort eine Plantage und hielt auch viele Sklaven. An der Finanzierung dieser Sklaven war Zürich mitbeteiligt.

Und wie verhält es sich mit Ausbeutung allgemeineren Sinn?

Mit Ausbeutung verhält es sich anders. Da war Zürich viel stärker involviert. Die beiden Forscher Bourguignon und Morrison führten für die Weltbank eine Studie durch, in der sie den Wohlstandsunterschied zwischen dem reichsten und dem ärmsten Land der Welt in den letzten zweihundert Jahren verglichen. 1820 war das reichste Land dreimal so reich wie das ärmste Land. 2020 beträgt der Faktor über hundert. In nur zweihundert Jahren sind die globalen Wohlstandsunterschiede also massiv angestiegen. In dieses System der Ungleichheit war und ist Zürich mit seinen Banken und Handelshäusern ganz klar involviert.

Welche Rolle spielten Schweizer Frauen in den Kolonien?

Der Zugang zu vielen Berufen war ihnen verwehrt. Weder unter den Kaufleuten noch bei den Plantagenmanagern fand man Frauen. Sie spielten dennoch auf verschiedenen Ebenen eine wichtige Rolle. Einerseits arbeiteten sie in Gesundheitswesen, Erziehung Missionen. Andererseits hatten sie als Ehefrauen dafür zu sorgen, dass der Mann auch in der Kolonie ein guter Schweizer bleibt.

Weshalb war es so wichtig, in der Kolonie ein «guter Schweizer» zu bleiben?

Die Männer, die in die Kolonien gingen, wanderten nicht im eigentlichen Sinne aus, sondern wollten Karriere machen und dann wieder in die Schweiz zurückkehren. Der Auslandaufenthalt veränderte sie. In der Schweiz wollte man von dieser Veränderung aber nichts wissen. Die Rückkehrer wollten zeigen, dass sie trotzdem Schweizer geblieben sind. Und genau dafür musste die Ehefrau sorgen. Sie war in der Kolonie einerseits für die Kommunikation mit der Familie zuständig, schrieb Briefe. Andererseits musste sie einen guten schweizerischen Haushalt führen.

Wir wissen von der Globalisierung, wir wissen, dass es Firmen wie Glencore gibt, die auf der ganzen Welt Minen abbauen.

Kam man als «einfache*r» Zürcher*in überhaupt zu einem Wissen, was in den Kolonien, die tausende Kilometer entfernt lagen, abging?

Das war unterschiedlich. Vor allem im 19. Jahrhundert sahen sich viele Schweizer*innen nach Möglichkeiten um, egal wo auf der Welt weiterzukommen. Informieren konnten sie sich beispielsweise im Völkerkundemuseum, das sich zu Beginn im obersten Stock der alten Börse in Zürich befand. Jungen Männern sollte dort gezeigt werden, was sie erwartete, wenn sie nach Afrika oder Asien auswanderten. Die ausgestellten Gegenstände spendeten übrigens vor allem Schweizer Kaufleute, die Geschäfte in Übersee pflegten.

Gab es auch Kritik an den Tätigkeiten von Schweizer*innen in den Überseekolonien?

Sicher nicht so wie zum Beispiel in Holland. Holland hatte eine eigene Kolonie in Indonesien, und zumindest ein Teil der Bevölkerung verfolgte auch immer, was dort passierte und übte teilweise scharfe Kritik daran. In Zürich war das etwas versteckter. Das hatte mitunter damit zu tun, dass die kolonialen Verflechtungen der Schweiz eben nicht nur auf eine Kolonie beschränkt waren. Die Zürcher Kaufleute waren auf der ganzen Welt verteilt. Man wusste in Zürich zwar schon ungefähr, was da los war, aber es war alles etwas weit weg. So wie eigentlich heute noch: Wir wissen von der Globalisierung, wir wissen, dass es Firmen wie Glencore gibt, die auf der ganzen Welt Minen abbauen, aber trotzdem scheint das alles ein bisschen abstrakt.

Von einer ausgeglicheneren Welt und ausgeglicheneren Gesellschaften würden alle profitieren.

Das öffentliche Bewusstsein für die Kolonialgeschichte der Schweiz ist auch heute noch wenig ausgeprägt. Wieso?

Das hat mit einer gewissen Arbeitsteilung zu tun. In der Schweiz gehört der Wirtschaft das «Aussen» und der Politik das «Innen». Für die Schweizer Wirtschaft waren Exporte schon immer sehr wichtig, darum ist sie auch mit der ganzen Welt verknüpft. Die politische Kultur hingegen ist sehr stark nach innen orientiert. Wir sind nicht Teil der EU, und denken, dass wir alles immer am besten im Alleingang geregelt haben. Das schafft ein Gefühl des Sonderfalls. Wir denken, dass wir so reich sind, weil wir fleissig arbeiten und gute Qualität produzieren. Die Behauptung, dass dieser Reichtum auch von aussen kommt, wird also nicht gerne gehört. Das ist mit ein Grund dafür, dass man auch von diesen kolonialen Verflechtungen nichts wissen will.

Man könnte aber auch argumentieren: Uns geht es heute sehr gut, und diese Geschichten liegen alle in der Vergangenheit. Wieso sollte man sich überhaupt damit auseinandersetzen?

Die Schweiz ist heute über hundert Mal reicher als das ärmste Land der Welt. Diese enormen Unterschiede schaden der Weltwirtschaft. Von einer ausgeglicheneren Welt und ausgeglicheneren Gesellschaften würden alle profitieren. Das sehen heute auch viele Ökonomen so. Natürlich geht es nicht nur um die Wirtschaft. Immer mehr Menschen migrieren. Auch das hat mit diesen grossen ökonomischen Unterschieden zu tun. Vor 150 Jahren sahen sich Zürcher*innen überall auf der Welt nach Gelegenheiten um, Geld zu verdienen. Menschen aus Asien und Afrika machen heute genau dasselbe. Sie sind auf der Suche nach Perspektiven. Für jeden Migranten aus einem fremden Land findet sich ein Zürcher, der schon lange zuvor in die umgekehrte Richtung migriert ist und dort die Gesellschaft mit verändert hat. Beschäftigen müssen wir uns damit sowieso. Wir können die Leute ja nicht einfach im Mittelmeer ertrinken lassen.

Zur Person
Andreas Zangger ist freischaffender Historiker und lebt in Amsterdam. In seinem Buch «Koloniale Schweiz: Ein Stück Globalgeschichte zwischen Europa und Südostasien (1860-1930)» setzt er sich anhand der Beispiele Singapur und Sumatra mit den Beziehungen der Schweiz zum Kolonialismus auseinander.

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