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14. März 2019 um 10:01

Aktualisiert 26.01.2022

Mikrokosmos Hochhaus: Zu Besuch im «Isengrind» in Affoltern

Hochhäuser gelten im Volksmund als die Verdichtungsmassnahme schlechthin. Aber wie lebt es sich im Mikrokosmos Hochhaus wirklich? Um dies herauszufinden, hat Tsüri.ch am Montag gemeinsam mit dem ETH-Wohnforum und Urban Equipe eine Exkursion in die städtische Siedlung «Unteraffoltern II», genannt Im Isengrind, organisiert.

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Schon von weitem sieht man sie, die Isengrind-Blöcke: Zwei hoch über den Wald ragende Scheibenhochhäuser, die Sichtbetonpfeiler wirken unerschütterlich. Einladend wirkt die Fassade nicht, der Gemeinschaftsraum im Inneren dafür umso mehr. Mit seiner kleinen Bühne und Vorhängen gleicht der Raum einer winzigen Aula. Hier beginnt die Hochhausbesichtigung, welche Tsüri.ch zusammen mit dem ETH Wohnforum und Urban Equipe organisiert hat. Moderiert wird die Besichtigung von Sozial- und Kulturanthropologin Dr. Eveline Althaus vom ETH-Wohnforum. Sie hat sich in ihrer Forschung auch mit dem Isengrind befasst. Der Hauswart Sergio Ritter und die Sozialarbeiterin Monika Bachmann führen dann in zwei Gruppen durch die Siedlung, unterstützt von Bewohner*innen.

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Dr. Eveline Althaus vom ETH-Wohnforum hat die Exkursion mitinitiiert.

Dieses Jahr feiert die städtische Siedlung «Unteraffoltern II», wie die Isengrind-Hochhäuser offiziell heissen, ihr 50-Jahre-Jubiläum. «Die 60er Jahre waren eine Zeit des experimentellen Aufbruchs im Wohnungsbau», erzählt Althaus. Eine ganze «Satellitenstadt» hätte hier in Unteraffoltern entstehen sollen, mit Wohnraum für rund 5’000 Menschen. «Man hatte damit gerechnet, dass die Bevölkerung und die Stadt viel stärker wächst», so die Anthropologin. Georges P. Dubois, der Architekt der Hochhäuser, war ein Schüler des weltbekannten Le Corbusiers (der Mann auf dem alten Zehner-Nötli). Ganz nach seinem Vorbild hätten auch die Isengrind-Blöcke eine vertikale Stadt werden sollen – ein für die 60er Jahre nicht untypisches Verdichtungskonzept.

Im Unterschied zu Corbusiers vielbeachteten «Unité d’Habitation» in Marseille sind die Isengrind-Blöcke reine Wohnhochhäuser, im Haus integrierte Infrastrukturen wie Läden, ein Schwimmbecken, eine Turnhalle oder ein Café gibt es nicht.

Mit Katzenschreck und Stacheldraht

Nach einer kurzer Einführung beginnt die Haustour. Im Eingangsbereich ertönt gleich ein schmerzhaft hoher Pfeifton. Ein Katzenschreck? Gruppenleiter und Hauswart Sergio Ritter klärt uns auf: Das Problem sind nicht die Katzen, sondern Teenager. «Eine Zeit lang hatten wir jeden Abend 20 bis 30 Jugendliche aus dem ganzen Quartier, die hier im Foyer rumgehangen sind. Sie sind auf Briefkästen gestiegen und haben Bewohner*innen angepöbelt.» Der «Teenieschreck», der seither abends eingeschaltet wird, scheint erfolgreich zu sein, das Entrée ist menschenleer. Zwischen bunten Briefkastenreihen, einem Wasserspiel und Pflanzen steht ein runder Steintisch mit Bänken. Eigentlich ein guter Treffpunkt. Wozu dieser nun wohl gut ist?

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Hauswart und Besichtungungsführer Sergio Ritter in einem der fünf Verteilgänge.

Mit dem Lift geht es in den fünften Stock, welcher eigentlich der zwölfte wäre. Da der Grossteil der Wohnungen zweistöckig sind und Treppen im Innern haben (sogenannte Maisonetten), gibt es nur fünf Verteilgänge und folglich auch nur fünf Liftstationen. Wir treten hinaus auf die Dachterrasse, an der überdachten Wäscheleine flattern Kleider im kalten Nachtwind.

Die Aussicht ist grossartig, man überblickt vom Irchel über Schwamendingen ganz Oerlikon. Für Innenstädter*innen bekannte Motive wie den Prime-Tower, die Hardau-Hochhäuser oder das Grossmünster sucht man hier, hinter dem Käferberg, aber vergebens. Trotz tollem Panorama hat Hauswart Ritter «noch nie jemanden hier sitzen gesehen.» Nur die Jugendlichen hätten sich hier oben aufgehalten und aufs Vordach gestiegen. Zu ihrem eigenen Schutz hat der Hauswart Stacheldraht und Gitter anbringen müssen.

Die Besichtigung führt weiter in eine Wohnung. Etwa 40% der insgesamt 236 Wohnungen sind subventioniert, uns wird aber als Erstes eine der wenigen Luxuswohnungen gezeigt, die zur Zeit leersteht. Für 5 1⁄2 Zimmer auf 136 m2 bezahlt man hier 2’200 Franken. Interessierte gibt es viele, die meisten erfüllen aber die Auflagen nicht. Bei allem Luxus: in so einer Wohnung müssen im Isengrind mindestens 4 Personen leben. «Es hatten sich aber auch kinderlose Ehepaare gemeldet», erzählt Ritter. Zu zweit in fünf riesigen Zimmern, im obersten Stock eines Hochhauses im Herzen Unteraffolterns zu leben? Eine trostlose Vorstellung.

Im Erdgeschoss besichtigen wir die 4-Zimmer-Wohnung von Maria S.. Sie lebt seit 20 Jahren im Isengrind und möchte nie wieder wegziehen. Seit Jahren engagiert sie sich für Siedlungsaktivitäten, verwaltet den Gemeinschaftsraum. Ihr Balkon befindet sich nur einige Meter über der Erde. Ob hier immer viel los sei, so weit unten, gleich gegenüber dem Sportplatz? «Eigentlich nicht, wir haben nie Probleme», meint Maria.

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Gleich neben dem Hochhaus hat es einen Sportplatz.

Auf dem Weg zum zweiten der beiden Zwillingshochhäuser kommt die Frage auf, ob es eine Tiefgarage gibt? «Wir stehen gerade darauf!» entgegnet Sergio Ritter, als wir über eine grosse Wiese gehen, auf der die Kinder im Sommer tagelang und teils bis spätabends Fussball spielen. Es gibt 180 Garagenplätze, von denen stets ca. 20 bis 30 leerstehen. Das hat jedoch weniger mit Umweltbewusstsein zu tun als mit der Tatsache, dass sich viele der Bewohner*innen einfach kein Auto leisten können, erklärt der Hauswart.

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Vanessa W. und Maria S. (v.l.) erzählen vom Leben im Isengrind.

Ein Hochhaus, viele Realitäten

Nach der Besichtigung der Maisonette-Wohnung von Familie S. zeigt uns Vanessa W. stolz die Schrebergärten, die den Siedlungsbewohner*innen zur Verfügung stehen. Die Gärten sind beliebt, alle Parzellen vergeben. «Das wird aber alles einmal überbaut», meint sie trocken. In der abschliessenden Gesprächsrunde sind weitere Bewohner*innen anwesend. Frau Benz beispielsweise lebt seit über 40 Jahren im Isengrind und bekräftigt, dass die gefürchtete Anonymität von Hochhäusern nicht zwingend sei: «Man kann auswählen. Wer will, kann sehr anonym bleiben, wer nicht, findet schnell Gemeinschaft.» Dafür sorgen auch die verschiedenen aktiven Gruppen wie der Siedlungsverein, ein Seniorentreff oder eine Deutschkonversationsgruppe. Die BewohnerInnen des Isengrind sind stolz auf ihr Zuhause, identifizieren sich stark mit dem Leben im Hochhaus. Und feiern dies im Juni auch mit einem grossen Jubiläumsfest.

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Frau Benz (r.) lebt seit über 40 Jahren im Isengrind.

«Die Siedlung hatte nicht immer den besten Ruf», schliesst Eveline Althaus das Gespräch. «Wer aber den Isengrind und seine Bewohner*innen einmal kennenlernt, wird schnell des Besseren belehrt und lernt auch die Qualitäten des Lebens hier kennen.» Während einzelne Bewohner*innen vom Leben im Isengrind nur so schwärmen, erzählen schmerzhafte Pfeiftöne gegen Jugendliche und leere Garagenplätze eine andere Geschichte. Man glaubt ihnen ihr Glück. Zumindest für einige der Bewohner*innen scheint es jedoch auch eine Kehrseite der Medaille zu geben.

Die Exkursion ins Hochhaus bleibt, was sie ist: Ein Einblick in eine Welt, die wenige Zürcher*innen auf diese Weise kennen und teilen. Ob diese Art des Wohnens die Zukunft ist, wird sich weisen.

Bilder: Elio Donauer

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