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Von Laura Kaufmann

Redaktorin

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28. Mai 2018 um 12:33

«Parc sans frontières» – Es geht auch anders

Letzten Freitag besetzte ein Zusammenschluss linker Kollektive den Zürcher Platzspitz und stampfte das zweitägige Festival «Parc sans frontières» aus dem Boden. Sie setzte damit ein Zeichen des Widerstandes gegen die Asyl- und Migrationspolitik des Kantons Zürich. Es folgten zwei friedliche Tage des Feierns, an die sich die Stadt wohl noch lange erinnern wird.

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Nach Rücksprache mit dem Sicherheitsvorsteher Richard Wolff (AL) war die einzige Bedingung der Polizei folgende gewesen: «Das Areal müsse in sauberem Zustand verlassen und auf die Anwohnerschaft gebührend Rücksicht genommen werden.» Veranstalter*innen und Festivalbesucher*innen dankten es ihr. Sie feierten zwei Tage lang friedlich, und die Besetzer*innen verliessen den Platz am Sonntagmorgen verfrüht und sauber aufgeräumt. Der Anlass war sinnbildlich dafür, dass es auch andere Lösungen gibt, als jede unangekündigte Veranstaltung in Zürich mit Tränengas und Gummischrot aufzulösen.

Aufklärung und Sensibilisierung statt Konfrontation

Etwas ist anders an diesem Freitagabend auf dem Platzspitz. An den Eingangstoren hängen Blachen mit der Aufschrift «Parc sans frontières» oder «Welcome» und verdecken die Sicht in den Park. Drinnen erklären Aktivist*innen den Besucher*innen und Passant*innen persönlich die Philosophie und Motivation hinter dem Anlass und bieten ihnen Infomaterial zur Thematik der Zwangsmassnahmen und Ein- und Ausgrenzung in der Schweizer Asyl- und Migrationspolitik» an. Die Aktivist*innen sind friedlich. Wer Glück hat, erhält sogar ein Stück Kuchen. Ein vom OK aufwendig gedrehter und geschnittener Kurzdokumentarfilm, der mit Archivmaterial die Geschichte des Platzspitzes und der Asyl- und Migrationspolitik des Kanton Zürichs aufzeigt, läuft in Dauerschleife. Mit bis zu fünfeinhalb Jahren Haft müssten Personen rechnen, die gegen das Ausländerrecht verstossen. Den Weg dafür ebneten laut OK die 1995 eingeführten «Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht», die nach der Vertreibung der Drogenszene auf dem Platzspitz durchgesetzt wurden. Wie kaum ein anderer Ort in dieser Stadt stehe der Platzspitz «für ein Zürich der Ausgrenzung und Repression, für eine Stadt, in der nicht alle das Recht haben, sich im öffentlichen Raum aufzuhalten und zu bewegen», lässt das OK in seiner Medienmitteilung verlauten.

Derweilen strömen immer mehr junge Menschen auf das Areal. Die Infrastruktur des Parks muss vorübergehend mit Kompotois und ToiToi-WCs ergänzt werden. Organisiert wurden diese ebenfalls vom OK des Anlasses.

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Für einmal bleiben die Tore offen
Es dunkelt ein. Normalerweise würde der Platzspitz-Park jetzt geschlossen werden. Auch über 20 Jahre nach der Vertreibung der offenen Drogenszene sei die Nachtschliessung eine «Notwendigkeit», heisst es auf der Webseite des Tiefbau- und Entsorgungsdepartements. Verlängerte Öffnungszeiten, welche auf Anregung des Gemeinderates seit Februar 2016 in Kraft waren, wurden im Februar diesen Jahres wegen «vermehrtem Abfallvolumen, Lärmbeschwerden, alkoholisierten Personen und vereinzelten Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Gruppierungen» wieder abgeschafft. Doch am heutigen Tag ist alles anders im Platzspitz-Park, einer der «ältesten und geschichtsträchtigsten Grünanlagen Zürichs», wie Zürich Tourismus ihn vermarktet.

Impressionen aus dem «Parc sans frontières»

Als es eindunkelt, finden auf der Bühne vor mehreren hundert Zuschauer*innen noch immer Konzerte statt. Vor den kleinen Bars stehen die Leute Schlange für Bier zu Preisen, die sich auch Menschen mit einem tiefen Einkommen leisten können. Andere sitzen in kleinen Gruppen auf der Wiese und trinken selbst mitgebrachtes Bier. Wieder andere irren umher und suchen Kolleginnen, die sie im Dunkeln verloren haben, da das Areal auch heute nur spärlich beleuchtet ist. Aus der einen Ecke erklingt Goa, aus der anderen Hip-Hop oder Techno. Bis in die frühen Morgenstunden wird friedlich getanzt, getrunken und gefeiert.

Das OK scheint überall Ohren und Augen zu haben. Das Konzept «Awareness-Teams statt Security Personal» der Verantalter*innen funktioniert erstaunlich gut. Über Zwischenfälle ist nichts bekannt. Ganz blind vertraut die Polizei den Aktivist*innen dann doch nicht. Sie beobachtet das Festival aus sicherer Distanz. Ein Einsatzfahrzeug steht in der Nähe bereit, die Polizist*innen bleiben dem Platzspitzgelände jedoch fern, da dazu keinerlei Anlass besteht.

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Die Polizei hielt zwar Abstand, beobachtete die Lage aber genau

«Mir wänd doch nume chli Kultur i dene Strassä ha»

Am Samstagnachmittag scheint die Sonne und der Platzspitz Park ist rappelvoll. Abgesehen von den vielen Velos vor dem Landesmuseum und am Sihlquai, ist von aussen kaum sichtbar, was auf dem Platzspitz vor sich geht. Am Sihlquai ist leise Musik zu hören. «Wahrscheinlich irgend so ein Day-Rave», sagt ein Passant unbeeindruckt zu seinen Begleiter*innen und zuckt mit den Schultern. Ums Gelände herum scheint sich zumindest tagsüber niemand am Anlass zu stören. Anders in der Nacht, als rund zwei Dutzend Lärmklagen bei der Polizei eingehen. Es ist eine vergleichsweise milde Form von Widerstand – Der grosse Aufschrei der Öffentlichkeit blieb dagegen (bis jetzt) aus.

Während den Soli-Konzerten der Bands «ALL XS», «Jeans for Jesus», «Big Zis», «Göldin & Bit-Tuner» und «Stereo Luchs» drängen sich viele Leute vor die kleine Bühne. Lokalmatador «Stereo Luchs» spielt seinen alten Song «Was isch los», der davon handelt, wie die Stadtpolizei damals oft spontane Outdoor-Partys unterbunden hat. «Mir wänd doch nume chli Kultur i dene Strassä ha» – Das Publikum reagiert begeistert. Der Song hat auch fünf Jahre später kein bisschen an Aktualität eingebüsst. Es sind wohl wenige Menschen nur wegen den Bands gekommen – wie auch: Es gibt keine festen Auftrittszeiten und das Line-Up stand zwar schon weitestgehend fest, als Überraschungsgast kam aber beispielsweise auch der Rapper M1 von der linken Hip-Hop-Gruppe «Dead Prez» vorbei, um seine Solidarität zu bekunden.

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Eine der wenigen Musikerinnen auf der Bühne: Big Zis

Auch wenn wohl niemand alle Konzerte und DJanes gesehen hat, fiel auf, dass der Frauenanteil gefühlt eher niedrig war. Vielleicht lag es daran, dass die Künstlerinnen, die weniger prominenten Slots hatten. Und in absoluten Zahlen gibt es wohl tatsächlich weniger Frauen als Männer, die Musik machen. Dennoch wäre es toll, bei einem nächsten Anlass mehr Frauen auf den Bühnen und hinter den DJ-Pulten anzutreffen. Doch dies funktioniert nur, wenn beide Seiten daran arbeiten. Wenn die Frauen sich mehr aufdrängen, ihren Platz fordern und das OK noch aktiver nach Nachwuchstalenten ausserhalb der Generation Big Zis und Playlove sucht. Gleichwohl sind wir uns sicher, dass sich das OK diesem Umstand bewusst war und das ihnen mögliche versucht hat.

Kollektives «fötzele» statt Müllbergen

Als in der Samstagnacht mehr und mehr Menschen das Areal bevölkern und sich am Boden liegende Becher und Flaschen zu häufen beginnen, wird manchen Besucher*innen kurzerhand ein Müllsack in die Hand gedrückt und vom OK zur Mithilfe beim Aufräumen animiert. Ist das doch die einzige Bedingung der Polizei, die es einzuhalten gilt.

Das OK selbst beginnt mit Stirnlampen ausgerüstet zwischen tanzenden Menschen bereits mit den Aufräumarbeiten. Noch am Sonntagmorgen werden sie damit fertig und ziehen ab. Angelehnt an frühere Proteste in Zürich kommunizierten die Besetzer*innen kurze Zeit später ihr Fazit per Medienmitteilung: «Wir wollen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Zürich nicht nur ein Laboratorium der Repression, sondern eben auch ein Ort des Widerstands mit emanzipatorischen Perspektiven war, ist und sein wird.» Das ist ihnen definitiv gelungen.

Im Gegensatz zu den Besucher*innen, hatten die Menschen, die hinter diesem Anlass standen, wohl kein ruhiges Wochenende. Was sie mit ihrer Freiwilligenarbeit auf die Beine stellten, ist beachtenswert. Sie gaben Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus eine Stimme, ermöglichten einer breiten Masse von Menschen ein Festival mit einem kostenlosen, kulturellen Rahmenprogramm und fairen Getränkepreisen, schafften es, die Sicherheit aller Anwesenden zu gewährleisten, und das alles ohne sich eine Konfrontation mit der Polizei zu liefern. Mit diesem Anlass werden die Besetzer*innen wohl in die Geschichte der linken Subkultur Zürichs eingehen.

Bis auf weiteres werden sie gemäss eigener Aussage «der weltweiten unmenschlichen Repressionspolitik im Migrationsbereich, wirksam ihre kollektive Organisation von unten entgegensetzen.» Wir sind gespannt auf weitere spektakuläre Aktionen.

Alle Bilder sind von «Parc sans Frontières»

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