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17. Oktober 2018 um 08:17

Hört auf, euch beim Smalltalk anzulügen!

Redaktorin Viviane Stadelmann interessiert sich neuerdings brennend für die Gemütszustände anderer. Würde stimmen, was ständig beim Smalltalk gesagt wird, ginge es uns allen konstant gut. Warum das Schwachsinn ist und wir uns damit keinen Gefallen tun, schreibt sie im Meinungs-Mittwoch.

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In der Artikel-Reihe «Meinungs-Mittwoch» leistet sich jeden Mittwoch ein Redaktionsmitglied von Tsüri.ch eine Meinung. Sei es als Kolumne, Glosse oder eventuell als Video mit Tanzeinlage. Denn wie hat es Clint Eastwood als Dirty Harry damals so schön auf den Punkt gebracht: Meinungen sind wie Arschlöcher, jeder hat eins.

Ob beim Coop um die Ecke, beim Pläuschlen an der Langstrasse, beim Sonntagsspaziergang auf dem Üetliberg oder als kontinuierliches Echo im Club: Es gibt etwas, das uns auf Schritt und Tritt begleitet. Es ist der Kanon, den wir alle mitsingen, obwohl wir nur eine Strophe kennen. Ein Pingpong-Turnier der Floskeln, bei dem die ganze Stadt mitmacht, mal mehr, mal weniger motiviert. Ein Hin und Her, von dem sich zu lösen scheinbar unmöglich ist. Zweimal drei Wörter, so banal in ihrer Zusammensetzung, so wichtig für die gemeinsame Identitätsstiftung: «Hooi, wie gahts?» – «Guuuet, und dir?»

Nun ist daran vordergründig nichts auszusetzen. Die Begrüssungsfloskeln fungieren als Eisbrecher zwischen zwei Menschen, die einen Einstieg in ein Gespräch ermöglichen – teilweise auch aus ehrlichem Interesse an der anderen Person. Jedoch nur teilweise. Lassen wir das «hoi» mal ausser Acht, suggeriert nämlich das «wie gahts?» manchmal Interesse, wo gar keines ist.

Man trifft im Tram auf seinen Sitznachbarn aus der Primarschule, mit dem man vor mehr als zwanzig Jahren gemeinsam abgeschrieben hat. Auf das «Hooi, wie gahts?» – «Guuuet, und dir?» folgen fünf lange Minuten holprigen Gesprächs, währenddessen beide immer wieder verstohlen zum Bildschirm mit den Haltestellen blicken. Man tauscht sich ein wenig über die Schulzeit und den Job aus, bis man eilig den Türöffner drückt und sich mit einem «mach’s gut, gell!» gar nicht schnell genug verabschieden kann. Warum eigentlich? Man könnte sich freundlich zunicken. Sich winken. Lächeln. Und es mit der Fragerei einfach mal bleiben lassen. Ist gespieltes Interesse wirklich besser als respektvolles Schweigen?

Im Floskel-Doppel des eigenen Bekannten- und Freundeskreises wiederum geht es Schlag auf Schlag. Anders als beim geschilderten Szenario begrüsst man sich mit den Standardfloskeln hier nicht aus fehlender Anteilnahme, sondern aus reiner Gewohnheit. Irgendwann legt sich dann jeder sein eigenes Repertoire zurecht, um sich nicht schon beim ersten Wortwechsel ständig ins Gesicht zu lügen. Ein kleiner Auszug meiner Antworten auf das «wie gaht's?» macht deutlich, dass mit dem «guuet» absolut keine «guuete» Lösung für unser Smalltalkproblem gefunden wurde:

  1. «Hee, ganz guet»: Eigentlich nicht gut, sondern okay.
  2. «Easyy guet»: Nichts Spannendes zu erzählen, man lebt so dahin.
  3. «Du, jaja, guet»: Ging schon mal besser.
  4. «Mega guet»: Wirklich gut, nichts zu beklagen.
  5. «Guuet eigentlich»: Mit dem Allgemeinzustand zufrieden, aber das war ein beschissener Tag.
  6. «Najaa, guet sowiit»: Ziemlich mies!

Können wir uns die Welt eigentlich noch komplizierter machen? Ganz abgesehen davon, dass diese Codes niemand ausserhalb meines engen Umfeldes versteht oder verstehen will – und wer kann ihnen das verübeln?

Antwortet man wirklich mal ehrlich, verfallen wir sofort gruppenweise in Verwirrung, Besorgnis und kollektives Mitleid wie beim Abstimmungssonntag der Masseneinwanderungsinitiative. Man weiss zwar, dass es passieren kann, damit rechnen tut jedoch niemand. Ein deutlich hörbares «nöd guet» lässt uns aber nur deswegen so zusammenzucken, weil es so selten ausgesprochen wird – und wir uns dann gleich sehr Schlimmes ausmalen. Oder nimmt es gar niemand wahr, bis es so laut und eindeutig ist, dass man es nicht mehr ignorieren kann?

Hier zeigt sich das zugrunde liegende Übel: Denn das Problem basiert nicht darauf, nach dem Befinden des anderen zu fragen. Unsere verdrehte Realität versteckt sich in der Antwort, der unausgesprochenen Regel des Smalltalks, dass «guuuet» das einzig Erwartbare, der einzig gesellschaftlich akzeptierte Normalzustand ist. Und mit jeder alltäglichen Reproduktion dieser Floskeln festigen wir, oft unwissend, wie der menschliche Gemütszustand zu sein hat.

Doch wir sind halt manchmal traurig, melancholisch, launisch, wütend, grundlos genervt oder depressiv verstimmt und ab und zu auch alles zusammen. Wenn wir uns schon beim Erstkontakt im Bekanntenkreis das Gefühl geben, dass dieses Spektrum keinen Platz hat, welche Auswirkungen hat das auf unsere Psyche?

Lasst uns stattdessen radikal ehrlich sein beim Smalltalk. Lasst uns sagen: «Es geht mir beschissen». Und falls man nicht darüber reden mag, kann man anfügen: «Aber sprechen wir ein andermal darüber und gönnen uns ein Bierchen?» Lassen wir es nicht soweit kommen, dass wie in den USA auf das «hey, how are you?» gar keiner eine Antwort mehr erwartet. Wir sind schon in der digitalen Welt von Filtern besessen – streichen wir sie doch aus der realen.

Titelbild: Laura Kaufmann / Timothy Endut

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