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Gemeinderats-Briefing #41: Im Tank-Top in den Ruhestand

Das Gemeinderats-Briefing ist das wöchentliche Update aus dem politischen Herzen Zürichs. Was diese Woche wichtig war: Polizeieinsatz am 1. Mai, Sofia Karakostas übernimmt das Ratspräsidium, Würstchen im GZ Riesbach.

Illustration: Zana Selimi (Foto: Zana Selimi)

Kurze eineinhalb Stunden waren eingeplant für die konstituierende Sitzung des Amtsjahres 2023/24, schliesslich warteten Würstchen und Bier auf die Parlamentarier:innen: Zur Feier ihrer Amtseinführung hatte die an diesem Tag neugewählte Ratspräsidentin Sofia Karakostas nach Sitzungsschluss ins GZ Riesbach geladen.

Doch Verzögerung war angesagt, schliesslich boten die Ereignisse vom 1. Mai Stoff für politische Auseinandersetzungen. Kurze Rückblende: Nachdem die Polizei eine unbewilligte Demonstration noch vor ihrem Start aufgelöst hatte, flüchteten sich Teilnehmende auf das Kanzleiareal, wo sich auch unbeteiligte Dritte aufhielten. Das Gelände wurde eingekesselt und laut Augenzeug:innenberichten mit Tränengas und Gummigeschoss eingedeckt, während Bierflaschen und Böller zurückflogen. Die Bilanz: Mehrere hundert Wegweisungen, knapp 20 Festnahmen und mindestens zwei Verletzte, darunter ein junger Mann, der schwere Augenverletzungen erlitt.

Die AL forderte in einer von Walter Angst verlesenen Fraktionserklärung: «Das Ausschroten von Augen muss aufhören!» Angst erinnerte daran, dass in den letzten 40 Jahren in der Schweiz immer wieder Menschen durch das Gummigeschoss der Polizei schwere Augenverletzungen davongetragen haben. «Klar ist: Auf ein geschlossenes Gelände, in dem sich viele Menschen aufhalten, darf weder mit Tränengas noch mit Gummschrot geschossen werden», verlas Angst.

Die Polizei am 1. Mai und die Gekesselten im Kanzleiareal. (Foto: Manuel Lopez)

Die SVP stellte sich in ihrer von Samuel Balsiger verlesenen Fraktionserklärung demonstrativ hinter die Einsatzkräfte. Im Namen der Zürcher Bevölkerung danke man der Polizei herzlich für ihren Job, der wohl «der anstrengendste, härteste und gleichzeitig auch erfüllendste» aller Stadtangestellten sei. Dass eine Person mutmasslich durch ein Gummigeschoss erblindet sei, sei tragisch, doch: «Die Gewalt geht von den militanten Linksextremisten aus.»

Luca Maggi (Grüne) beklagte in einer persönlichen Erklärung die fehlende Distanzierung der bürgerlichen Seite von der unverhältnismässigen Polizeigewalt «oder wenigstens eine glaubhafte Willensbekundung, die Vorfälle aufzuarbeiten». Einzelne Ratsmitglieder, die nach den linken Ausschreitungen am 1. April in einen «regelrechten Repressionsfetischismus» verfallen seien, würden nun schweigen oder relativieren. Er kündigte eine Schriftliche Anfrage zu den Vorfällen an (siehe unten).

Andreas Egli (FDP) wehrte sich: Selbstverständlich müsse abgeklärt werden, was am 1. Mai passiert sei und der Verlust eines Auges sei bedauerlich, aber wenn man von Unverhältnismässigkeit bei der Polizei spreche, müsse man zunächst über die Verhältnismässigkeit derjenigen reden, die Steine und Böller auf die Einsatzkräfte werfen. Das bewog Andreas Kirstein (AL) zu einer Reaktion: «Es geht hier um Rechtsstaatlichkeit und Verhältnismässigkeit. Es stehen sich keine zwei verfeindeten Gruppen gegenüber, wir sind nicht in einem Gang-Krieg. Ich bitte Sie, das nicht zu vergessen.»

Einig waren sich die Redner:innen nur in einem Punkt: Stadträtin Karin Rykart und die Verantwortlichen in ihrem Sicherheitsdepartement müssten aufklären und vor allem Stellung nehmen. Die Angesprochene aber schwieg sich aus.

Noch dreimal Wählen bis zur Wurst

Der eigentliche Höhepunkt des Abends waren die Wahlen des Ratspräsidiums für das neue Amtsjahr. Matthias Probst (Grüne) schaute zum Abschied auf sein Jahr als Ratspräsident zurück und erlaubte sich, anhand seiner Beobachtungen drei Empfehlungen an das Plenum zu richten:

1. Angesichts der Rekordzahl von 516 Vorstössen im letzten Jahr, wovon mehr als die Hälfte als Postulat eingereicht wurden, merkte Probst an, dass der Gemeinderat die politisch-strategische Ebene der Stadt Zürich sei. Die dazu passenden Instrumente seien vor allem Motionen, Parlamentarische Intiativen und Schriftliche Anfragen. Gewiss aber nicht Postulate, die «zu 99 Prozent» etwas beträfen, was nicht in der Kompetenz des Gemeinderats liege.

2. Angesichts von 13 Rückritten in seiner Amtsdauer und einer durchschnittlichen Verweildauer von drei Jahren im Rat plädierte er dafür, mindestens zwei Legislaturperioden im Rat zu bleiben, um sinnvoll mitarbeiten zu können. Eine Stellvertreter:innenregelung sei aus seiner Sicht auch zuträglich.

3. Angesichts einer Vielzahl von Geschäften, die in letzter Zeit nur noch mit der hauchdünnen Mehrheit der linksgrünen Ratsseite durchgedrückt worden seien, erinnerte Probst daran, dass gute Politik von einem Grossteil der Bevölkerung und deshalb auch einer breiten Mehrheit des Parlaments getragen werde.

Doch Matthias Probst wäre nicht Matthias Probst, hätte er nicht noch ein Show-Element in seinen Abschied eingefügt. Als Zeichen seiner Erleichterung, als einfacher Parlamentarier nun wieder keine Hemden mehr tragen zu müssen, zog er vor dem Rat sein Hemd aus und bestritt den Rest der Sitzung im Tank-Top.

Matthias Probst gibt sich zum Abschied freizügig. (Foto: Screenshot Livestream Gemeinderat)

Die bisherige Vizepräsidentin des Gemeinderats Sofia Karakostas (SP) übernahm darauf turnusgemäss das Präsidium, nachdem eine grosse Mehrheit von 108 der 117 Anwesenden sie gewählt hatte. Bei Probst waren es vor einem Jahr nur 75 Stimmen von 121 Anwesenden gewesen.

Karakostas ging in ihrer Antrittsrede auf ihre Erfahrungen als Kind griechischer Eltern in Zürich ein. In der Schweiz geboren, habe sie als 17-Jährige ein Einbürgerungsverfahren durchlaufen müssen: «Die Prozedur habe ich als erniedrigend empfunden und ich habe mich daraufhin entschieden, mich politisch zu engagieren.» Aus damaliger Sicht komme es ihr unvorstellbar vor, dass sie später Präsidentin des Stadtparlaments werden sollte. Als langjährige Co-Leiterin der Beratungsstelle Internationale Forschungsprogramme an der ETH erinnerte sie an die Wichtigkeit einer internationalen Vernetzung Zürichs. Soziale Gerechtigkeit, Offenheit und Chancengerechtigkeit benannte sie als Grundpfeiler ihres politischen Verständnisses.

«Zürich soll allen eine Perspektive bieten. Auch denen, denen es nicht so gut geht.»

Sofia Karakostas, SP, in ihrer Antrittsrede als Gemeinderatspräsidentin

Der bisherige zweite Vizepräsident Guy Krayenbühl (GLP) wurde mit 97 Stimmen zum neuen ersten Vizepräsidenten gewählt. Genauso viele Stimmen erhielt Christian Huser (FDP), der neu das zweite Vizepräsidium übernimmt.

Nach der Sitzung wartete auf dem Hardplatz ein Sonder-Tram auf die Parlamentarier:innen, das sie zur Amtseinführungsfeier von Sofia Karakostas brachte. Dort warteten dann endlich Würstchen und Bier.

Bei der SP werden die Würstchen noch flambiert. (Foto: Steffen Kolberg)

Weitere Themen der Woche

  1. Drei Parlamentarier:innen sind seit dieser Woche neu im Rat: Für die in den Kantonsrat gewechselte SVP-Politikerin Susanne Brunner rückte Yves Peier nach, für den zurückgetretenen Peter Anderegg (EVP) Sandra Gallizzi. Kein ganz neues Gesicht ist Nicolas Cavalli (GLP), der für die in den Kantonsrat gewechselte Sandra Bienek nachgerückt ist: Er sass bereits von 2020 bis 2022 im Gemeinderat, bis er bei den letzten Wahlen überraschend nicht wiedergewählt wurde.
  2. Ganze 19 Fragen umfasst eine Schriftliche Anfrage, die Moritz Bögli (AL) und Luca Maggi (Grüne) zum Polizeieinsatz am 1. Mai eingereicht haben. Gefragt wird sowohl nach den Einsatzzielen und vorgängigen Vereinbarungen als auch nach konkreten Lage-Einschätzungen und Einsatzkriterien und -befehlen, die zu umfassenden Personenkontrollen sowie zum Einsatz von Gummischrot geführt haben. Zudem wird eine Stellungnahme zur Forderung verlangt, eine unabhängige Ombudsstelle einzurichten für Personen, die Gewalt oder missbräuchliches Verhalten seitens der Polizei erfahren haben.
  3. Zusammen mit Tiba Ponnuthurai (SP) reichte Moritz Bögli noch eine weitere Schriftliche Anfrage im Zusammenhang mit dem 1. Mai ein. Diese befasst sich mit Meldungen, dass die Polizei Teilnehmende des traditionellen 1. Mai Fests auf dem Kasernenareal gefilmt und fotografiert habe. Gefragt wird unter anderem nach dem Zweck, der Verhältnismässigkeit und dem weiteren Gebrauch der Aufnahmen.

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