Gemeinderats-Briefing #35: Interpellation Day - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Gemeinderats-Briefing #35: Interpellation Day

Das Gemeinderats-Briefing ist das wöchentliche Update aus dem politischen Herzen Zürichs. Was diese Woche wichtig war: 35 Stunden im Probebetrieb, die SVP auf Abenteuerfahrt, Raum für Gesundheit.

Illustration: Zana Selimi

Ich beginne dieses Gemeinderats-Briefing mit einer kurzen Dankesrede: Diese Woche haben wir unser Crowdfunding bei Wemakeit erfolgreich abgeschlossen. Die 11'000 Franken sind gesammelt und ich kann ein weiteres Jahr aus dem Gemeinderat berichten. Vielen Dank an die 138 Unterstützer:innen! Und einen grossen Dank auch an Sanija Ameti (GLP), Anna Graff (SP), Yves Henz (Grüne), Tanja Maag (AL) und Jehuda Spielman (FDP), die uns in unserem Crowdfunding-Video unterstützt haben!

Nun aber zum Inhalt der gestrigen Gemeinderatssitzung. Ein grosser Schritt wurde dort nämlich gemacht, als mit knapper rot-grüner Mehrheit aus AL, SP und Grünen zwei Vorstösse zur Einführung einer 35-Stunden-Woche überwiesen wurden. Zumindest aus Sicht ebenjener rot-grünen Mehrheit. Der Rest des Rats zeigte sich zurückhaltend bis entsetzt. Florine Angele (GLP) meinte, die Vorstösse seien zwar gut gemeint, aber utopisch. Christian Traber (Die Mitte) fand die Idee sympathisch, glaubte aber, sie sei angesichts des Fachkräftemangels ein schlechtes Zeichen insbesondere für KMUs, die sich solche Arbeitsbedingungen für ihre Mitarbeitenden gar nicht leisten könnten.

Um was ging es genau? Anna Graff (SP) und David Garcia Nuñez (AL) forderten mit einer Motion, ein Pilotprojekt für eine 35-Stunden-Woche für städtische Angestellte im Schichtbetrieb einzuführen. Damit sollen insbesondere Angestellte im Care-Bereich, bei der Polizei und bei den VBZ entlastet werden. Eine wissenschaftliche Auswertung soll das Projekt begleiten. In einem Postulat forderten die beiden ausserdem, dass die Stadt mit interessierten privatwirtschaftlichen Unternehmen einen Pilotversuch für eine Vier-Tage-Woche bei maximal 35 Wochenstunden durchführt.

«Menschen sollten arbeiten, um zu leben und nicht leben, um zu arbeiten.»

Anna Graff, SP, begründet den Vorstoss zur 35-Stunden-Woche

Auch Finanzvorsteher Daniel Leupi (Grüne) fand die Idee grundsätzlich sympathisch, wollte die Motion aber nur als Postulat entgegennehmen. Die Arbeitsbedingungen bei der Stadt seien bereits heute sehr gut, das hohe Lohnniveau ermögliche den Angestellten, Teilzeitpensen anzunehmen. Auch ihn trieb der Fachkräftemangel um: «Mich nimmt Wunder, wo die 1100 bis 1500 zusätzlichen Leute herkommen sollen, die für so ein Modell im Schichtbetrieb gebraucht werden.» Die wissenschaftliche Begleitung sei zudem «hyperaufwendig» und werde nur für mehr Stress sorgen, wo es den Postulant:innen doch genau darum gegangen sei, diesen zu reduzieren.

Die rechte Seite des Rates zeigte wenig Verständnis für die beiden Vorstösse: Johann Widmer (SVP) fand, die Motionär:innen degradierten die städtischen Angestellten zu «faulen Säcken». Martina Zürcher (FDP) meinte, die Unternehmen könnten eine Arbeitszeitreduktion schon anbieten, wenn sie das wollten, «die Stadt würde dabei aber nur stören».

Ihr Fraktionskollege Përparim Avdili gab zu, dass man die 42-Stunden-Woche durchaus als nicht zukunftsfähig betrachten könne. Doch die Lösung sei für ihn mehr Flexibilität und nicht das Festhalten an einer niedrigeren festen Stundenzahl. Verbände und Gewerkschaften, die der linken Ratsseite nahestünden und solche Forderungen unterstützten, sollten nicht versuchen, andere von der Einführung einer Vier-Tage-Woche zu überzeugen, sondern selbst als Beispiel vorangehen, forderte er. Walter Angst (AL) liess durchblicken, dass sein Arbeitgeber, der Mieter:innenverband, dies bereits tut. Und ich kann an dieser Stelle sagen: Tsüri.ch hat schon vor über einem Jahr die Vier-Tage-Woche eingeführt.

Die SVP auf Abenteuerfahrt

Die SVP bringt sich bereits argumentativ in Stellung für die bundesweite Abstimmung über das Klimaschutz- und Energiegesetz am 18. Juni, das war gestern deutlich zu spüren. So sprachen Samuel Balsiger und Walter Anken im Rahmen der Begründung ihres Postulats, das einen Verzicht auf das städtische Förderprogramm für den Heizungsersatz fordert, von einem «Stromfresser-Gesetz» und befanden, der massenweise Einbau von Wärmepumpen werde die drohende Energieknappheit im Land noch verschärfen. Derek Richter schwärmte von seinem 4000-Liter-Heizöltank, der ihn zuhause jeden Tag «anlache» und mit dem er das Zürcher Stromnetz entlaste. Alle anderen Parteien lehnten den Vorstoss rundheraus ab. Man gehe davon aus, dass die Energiekrise ein kurzfristiges, die Klimakrise allerdings ein langfristiges Problem sei, meinte beispielsweise David Ondraschek (Die Mitte).

Ein geradezu abenteureliches Narrativ spann die Partei dann mit ihren beiden Vorstössen zu einer «Öko-Vetternwirtschaft bei Klimaschutzprojekten». Johann Widmer und Samuel Balsiger forderten mit einem Postulat den Stadtrat auf, Mittel zu ergreifen, um eine solche «Öko-Vetternwirtschaft», also eine direkte oder indirekte Beteiligung von Mitgliedern politischer Gremien an Klimaschutzprojekten, zu stoppen. Balsiger sprach davon, dass insbesondere viele Ökofirmen aus dem Boden spriessen würden, die oft den grünen Parteien nahestünden und Aufträge für städtische Klimaprojekte bekämen. Seine Schlussfolgerung hatte fast schon Trump'sche Verschwörungsqualitäten: Beim ganzen Netto-Null-Projekt gehe es der linken akademischen Elite nämlich eigentlich nur darum, Steuergelder in die eigene Tasche umzulenken.

Mit einer Interpellation hatten Widmer und Balsiger bereits beim Stadtrat angefragt, wie dieser gedenke, eine Vorteilnahme von Mitgliedern städtischer Gremien bei Klimaschutzprojekten zu verhindern und wie er in solchen Fällen für Transparenz sorgen wolle. Stadtrat Andreas Hauri (GLP) zeigte sich etwas ratlos ob dieser Unterstellungen und befand, die bisherigen Transparenz-Instrumente reichten aus. Darüber hinaus sei der Vorwurf der Bevorzugung des links-grünen Lagers nicht haltbar, schliesslich beauftrage man vonseiten der Stadt auch bürgerliche Beratungsfirmen: «Entscheidend ist, was sie zu unserem Ziel, der Klimaneutralität, beitragen.»

Diese Aussage Hauris wiederum fand Andreas Kirstein (AL) interessant: «Als ich vor zehn Jahren hier im Rat davon gesprochen habe, dass gewisse FDP-nahe Beratungsfirmen einen Bericht geschrieben haben, bin ich fast aus dem Ratssaal geschmissen worden. Da gibt es jetzt offensichtlich eine gewisse Offenheit.»

Ursina Merkler (SP) zeigte sich überrascht über die Idee, dass es nun plötzlich eine neue Kategorie der Vetternwirtschaft geben solle. «Vetterliwirtschaft ist Vetterliwirtschaft», befand sie. Dominik Waser (Grüne) vermied es, den Namen Albert Rösti zu nennen, erklärte aber, die Person, die die Befürchtungen der SVP perfekt verkörpere, sei kürzlich neu zum Bundesrat gewählt worden. Er empfahl der Partei, zunächst einmal bei sich selbst aufzuräumen. Die FDP meldete sich zum Thema nicht zu Wort, unterstützte aber das SVP-Postulat mit ihren Stimmen. Eine Chance hatte es trotzdem nicht.

Konstruktiver zeigten sich die liberalen Patrik Brunner und Frank Rühli mit einer Interpellation, die sie zum Thema Netto-Null 2040 eingereicht hatten. Dabei sei es ihnen mehr um den Weg zum Ziel als um das Ziel selbst gegangen, so Rühli. Man habe wissen wollen, ob die prozeduralen Vorgaben richtig aufgegleist seien, zum Beispiel, wie weit der Stadtrat mit der Festlegung eines Absenkplans sei, wie das Monitoring im Detail aussehe und wann Zwischenberichte zu erwarten seien. Insgesamt sei man mit den Antworten zufrieden, erklärte Rühli. Nur das Monitoring und die Zwischenberichte – über die direkten Emissionen soll der erste im Herbst 2023 erscheinen, über die indirekten voraussichtlich 2024, die Erfassung der negativen Emissionen wird erst als dritter Schritt ohne konkrete Jahreszahl genannt – kämen relativ spät: «Wir würden uns wünschen, dass vor allem bei den negativen Emissionen recht schnell Klarheit geschaffen wird», sagte er: «Insbesondere, weil in diesem Bereich auch Leistungen von der Privatwirtschaft honoriert werden können und um ‹windows of opportunity› nicht zu verpassen.»

Weiter geht es mit einer weiteren Interpellation: Tanja Maag und David Garcia Nuñez (beide AL) hatten in einer solchen den Stadtrat zum Fortschritt bei der Umsetzung des Programms «Stärkung Pflege» befragt. Die Antworten nutzte Maag zu einer ausführlichen Stellungnahme zur Lage der Pflegenden allgemein. In Anbetracht der Relevanz müsse man im Rat deutlich mehr über die Gesundheit sprechen, erklärte sie, «allein aus Wertschätzung gegenüber den Menschen, die in der Pflege arbeiten».

Nachdem die Pflegeinitiative Ende 2021 von einer grossen Mehrheit der Schweizer Stimmbevölkerung angenommen wurde, laufen laut Maag die Umsetzungen auf Bundesebene. Als politische Institution stehe der Gemeinderat jedoch in der Verantwortung, die Umsetzung vor Ort zu begleiten und zu überwachen. Das Programm «Stärkung Pflege» des Stadtrats töne gut, dürfe aber kein Marketingprogramm bleiben, erklärte sie. Die Massnahmen müssten wo immer möglich konkretisiert und damit spürbar werden.

In der Antwort des Stadtrats ist insbesondere von Massnahmen und Pilotprojekten zur Flexibilisierung der Arbeitszeit und der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf die Rede. Mit neuen Funktionseinstufungen sei im August 2022 zudem eine deutliche Lohnerhöhung für über 70 Prozent der Mitarbeitenden einhergegangen. Departementsvorsteher Andreas Hauri erklärte, er habe sich mit dem Programm nicht nur Freund:innen geschaffen, insbesondere Direktor:innen der Konkurrenz hätten befunden, er gehe zu weit. Es sei fehl am Platz, jetzt schon Kritik anzubringen bei Massnahmen, die noch gar nicht vollständig umgesetzt seien. Festhalten könne man indes: Das Stadtspital und die städtischen Gesundheitszentren für das Alter böten schon heute die attraktivste Plattform für Pflegende.

Weitere Themen der Woche:

  1. Anna-Béatrice Schmaltz und Urs Riklin (beide Grüne) forderten in einem Postulat ein Pilotprojekt für eine kostenlose Nutzung der Toiletten in Gastrobetrieben ohne Konsumationspflicht. Dabei gehe es um eine Ergänzung zu den bestehenden ZüriWCs, nicht um deren Ersatz, so Schmaltz. Ein vielfältiges Angebot trage zu einer inklusiven Stadt für verschiedene Bedürfnisse bei, erklärte sie mit Blick auf barrierearme Toiletten und solche mit Wickeltisch. Mit einer Textänderung der SP, die eine freiwillige Teilnahme sowie eine finanzielle Entschädigung für teilnehmende Betriebe festhielt, wurden auch AL, GLP und die Mitte überzeugt und das Postulat gegen die Stimmen von FDP und SVP überwiesen.
  2. Nachdem der Gemeinderat im letzten September schon ausführlich über die Zukunft des Kongresshauses debattiert hatte, hiess er nun mehrheitlich eine Weisung des Stadtrats gut, in der dieser einen bis 2028 befristeten jährlichen Zusatzkredit von jährlich maximal knapp einer Million Franken zusätzlich zu den bereits beschlossenen knapp drei Millionen Franken fordert. AL und SVP lehnten die Forderung ab. Während Moritz Bögli (AL) zur Lösung des Problems eine Verstaatlichung des Hauses vorschlug, erklärte Stefan Urech (SVP), es sei nicht mehr nötig, das Kongresshaus immer weiter zu retten.
  3. Eine Delegation von gekündigten Mieter:innen der Siedlung Glockenacker in Witikon (wir berichteten gestern über die Abrisstätigkeiten im Quartier) hat gestern Stadtrat Daniel Leupi eine Petition überreicht. Sie fordern eine Lösung, um nach der Kündigung möglichst bezahlbar und im Quartier unterzukommen.
     
  4. SP, Grüne und AL forderten in einer gemeinsamen Fraktionserklärung den Stadtrat auf, sein Stimmrecht als Aktionär bei der Schweizerischen Nationalbank (SNB) aktiv zu nutzen, um die Bank auf Klima-Kurs zu bringen. So solle die SNB unter anderem dazu gebracht werden, einen eigenen Transitionsplan für einen Beitrag zum 1,5-Grad-Ziel und dem Biodiversitäts-Übereinkommen vorzulegen, sowie einen eigenen Ethikrat zu gründen. Selina Frey erklärte für die GLP, man teile die Forderung grundsätzlich, habe bei der Fraktionserklärung aber nicht mitgemacht, weil man die SNB eher in die Eigenveratwortung nehmen wolle.
  5. Vor dem Hintergrund der neuen Airbnb-Regelung in Luzern (auch hierüber berichteten wir) hat die AL-Fraktion gestern eine Schriftliche Anfrage eingereicht. Darin fragt sie unter anderem nach dem Stand der Umsetzung, den Auswirkungen und den eingegangenen Rekursen zur im letzten Jahr beschlossenen BZO-Revision. Diese sieht eine «Nichtanrechenbarkeit an Wohnanteil» für Zweitwohnungen, Business-Apartments und Airbnb-Wohnungen vor und geht laut Text auf eine Motion von AL-Gemeinderat Niklas Scherr im Jahr 2010 zurück.
  6. In der kurzen Pause haben einige Gemeinderatsmitglieder an einer Mahntrauerwache für die Erdbebenopfer in der Türkei und Syrien teilgenommen. Niyazi Erdem (SP) sagte in einer persönlichen Erklärung, man gedenke damit den zehntausenden Opfern in den Erdbebengebieten und berichtete davon, dass die Hilfen vor Ort teilweise politisch instrumentalisiert würden.

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