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15. Dezember 2018 um 07:58

Aktualisiert 26.01.2022

Bulimie: Meine Eltern mussten das Essen zu den Nachbarn auslagern

Essen, Fressen, Würgen: Nach der Magersucht rutschte Tina in die Bulimie. Erst als sie sich selbst in die Klinik einlieferte, lernte sie das Loch in ihrem Innern anders als mit Essen zu füllen.

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Ich hing über der kalten, weissen Kloschüssel und würgte. Es war gefühlt das hundertste Mal, dass ich die vorab verschlungene Nahrung hochwürgte. Doch es war das erste Mal, dass ich dabei gesehen wurde. Meine schlanke, jüngere Schwester platzte ins Badezimmer herein.

Ich sah ihr Entsetzen. Sie sah mich, drehte sich wortlos ab und war weg. Es war das demütigendste Erlebnis meiner Suchtzeit.

Da ich als Kind pummelig war, zogen mich die anderen Kinder immer wieder auf. So beschloss ich in meinen Teenagerjahren, abzunehmen. Richtig Panik bekam ich, als ich mit 16 Jahren für ein Austauschjahr in die USA ging. Mein höchstes Ziel war, bloss nicht zuzunehmen und so begann ich, alle Mahlzeiten zu erbrechen.

Meine Gasteltern bekamen Wind davon. Sie zwangen mich, meine Eltern anzurufen und begleiteten mich in eine Therapie. Es war mir unglaublich peinlich. Da ich ab dann nicht mehr erbrechen konnte, hörte ich auf zu essen und brach schliesslich das Austauschjahr ab.

Zurück in Europa musste ich auf Drängen meiner Therapeutin und meiner Eltern direkt in eine Klinik. Mein Gewicht war bereits bedenklich gesunken. Innert acht Wochen Therapie nahm ich über 10 Kilo zu. Doch ich fühlte mich schrecklich. Es war angefressenes Fett. Da ich aber essen musste, stürzte ich in die Bulimie. Ich räumte in der Nacht oder in unbeobachteten Momenten den Kühlschrank aus und ass alles, was ich fand. Danach erbrach ich alles wieder.

Nach einer Fressattacke sah ich aus wie im neunten Monat schwanger

Meine Fassade war weiterhin perfekt, ich ging zur Schule und wollte meine Matura schreiben. Doch hinter der Fassade war gar nichts in Ordnung. Meine Bulimie verschwand in einem Dunst aus Scham und Heimlichkeit. Regelmässig hatte ich Fressattacken, in denen ich alles in mich hineinstopfte.

Im Nachhinein konnte ich jeweils kaum sagen, was es alles war. Ich war wie in einem Rausch – Chips, Sandwiches, Pasta, Pizza, Kuchen, mehrere Tafeln Schokolade. Nach der Attacke sah ich aus wie im neunten Monat schwanger und fühlte mich zehnmal schlimmer, als wenn man sich überisst.

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Zunächst war ich erleichtert, dass das Loch in meinem Innern gefüllt war, doch schnell schlug das Gefühl in Ekel um. So schlang ich zum Schluss Joghurts und Glace hinunter, drehte mich um, lief ins Badezimmer und erbrach alles wieder. Was mir blieb, war Scham, Selbsthass und Erschöpfung.

Meine Eltern begannen die Nahrungsmittel bei Nachbarn zu lagern. Als Bulimikerin wurde ich zur notorischen Lügnerin, sobald es um fehlende Nahrungsmittel ging. «Ich kann dir einfach nicht mehr vertrauen», sagte meine Mutter. Mit meiner Schwester konnte ich kaum mehr normal reden.

Ich erbrach nur zuhause

Ein Vertrauenslehrer im Gymnasium empfahl mir, vor der Matura nochmals eine Therapie zu machen. Das tat ich und war in den Sommerferien zum zweiten Mal in einer Klinik. Während dieser Zeit erbrach ich nie. Doch kaum war ich wieder zurück in meinem Umfeld, begann meine Sucht von Neuem.

Wieder merkte man äusserlich wenig. Ich schloss die Matura erfolgreich ab und begann eine KV-Lehre 300 km entfernt von meinem Elternhaus. Anfangs ging alles gut. Im Geschäft merkten sie nichts, doch zuhause erbrach ich alles, was ich ass. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, an einem fremden Ort zu erbrechen, denn ich ekelte ich mich vor fremden Toiletten.

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Doch nach einiger Zeit konnte ich die Fassade nicht mehr halten. Ich war erschöpft und wollte nur noch, dass alles aufhört. So beschloss ich zum ersten Mal ohne Druck von aussen, etwas zu ändern. Ich ging für fünf Monate in eine Tagesklinik mit integrierten, betreuten WGs und blieb nach dem Aufenthalt für ein weiteres Jahr in meiner Wohngruppe.

Da meine Noten gut waren, konnte ich wieder am selben Arbeitsplatz einsteigen und schloss die Lehre gleichzeitig mit den anderen Lernenden ab. Als ich meine Scham überwand und von der Sucht erzählte, erfuhr ich statt Ablehnung oft Respekt und Interesse. Die meisten nahmen mich so an, wie ich war.

Die Esssucht wird mich immer irgendwie begleiten

Seit acht Jahren geht es mir jetzt im Grossen und Ganzen sehr gut und ich habe ein konstantes Gewicht – mein Wohlfühlgewicht. Was mir von der jahrelangen Essstörung geblieben ist, sind ein verminderter Zahnschmelz und einige Nahrungsmittelunverträglichkeiten.

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Auch vor Rückfällen blieb ich nicht verschont: Als sich mein langjähriger Freund von mir trennte, fiel ich wieder in das Erbrechen zurück. Doch mittlerweile habe ich gelernt, andere Bewältigungsstrategien anzuwenden. Ich gerate auch nicht mehr ständig in Panik, dick oder rückfällig zu werden. Heute geniesse ich das Essen.

Trotzdem denke ich nicht, dass man eine Essstörung vollständig heilen kann. Gedanken um Essen und Figur werden immer irgendwie ein Thema bleiben. Ich würde mich selbst daher als eine essende Magersüchtige oder eine Bulimikerin, die nicht erbricht, bezeichnen.

Tina (36) aus Zürich

Titelbild: Lydia Lippuner

Benötigst Du oder eine Person in deinem Umfeld Hilfe oder Beratung? Es gibt verschiedene Organisationen und Beratungsstellen für Menschen mit Essstörungen, an die man sich wenden kann, beispielsweise das «Zentrum für Essstörungen», die «Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen» oder das «Experten-Netzwerk Essstörungen Schweiz (ENES)».

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