Esssucht: Wie es ist 111 Kilo ab- und dann wieder 165 zuzunehmen - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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14. November 2018 um 11:45

Aktualisiert 26.01.2022

Esssucht: Wie es ist 111 Kilo ab- und dann wieder 165 zuzunehmen

Nadine hat in ihrem Leben schon unzählige Diäten gemacht. Heute arbeitet sie als Ernährungsberaterin und berät Leute, die nicht mehr aufhören können zu essen. Anlässlich unseres Fokusmonats «Gesundheit» publizieren wir den folgenden Beitrag zum Thema «Essstörung» erneut.

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Es war wie ein Ritual: Nach der Arbeit kaufte ich mir eine Torte, drei Süssgebäcke und eine Schoggi. Ich setzte mich in den Zug und verspeiste die ersten drei Zuckerbomben sowie die Tafel Schokolade. Zuhause legte ich mich auf das Sofa und frass die Torte in mich hinein. Aufhören konnte ich nicht, es geschah immer wieder.

Nach diesen Attacken fühlte ich mich schrecklich, mir war schlecht. Immer wieder dachte ich daran, wie schön es wäre, wenn nun alles vorbei wäre, wenn ich mich vom Balkon stürzen könnte.

Das war im Jahre 2000, damals war ich an einem Tiefpunkt. Ich ging zum Arzt und sagte ihm, es gehe nicht mehr. Ich erklärte ihm, ich sei wie eine Bulimikern, die nicht erbreche. Er nahm mich nicht ernst und sagte, ich solle abnehmen.

Abnehmen, abnehmen, abnehmen; ein Wort, das ich unzählige Male hörte. Ich machte die verschiedensten Diäten und habe in meinem Leben schon 110 Kilo abgenommen und wieder 165 Kilo zugenommen. Da ich dem Jojo-Effekt ausgeliefert war, befanden sich in meinem Kleiderschrank jeweils Kleider in vier Grössen.

«Du wirst nie mehr einen Mann finden.»

Früher war das anders: Als Kind war ich schlank. Meine Esssucht, das sogenannte Binge-Eating, begann mit meinem Eintritt in die Lehre, damals hatte ich freie Hand über mein Geld. Zuhause war es oft chaotisch und so begann ich, mich mit Essen zu trösten.

Mein Gewicht stieg dabei ebenso wie meine Schamgefühle. Meinen Freund verliess ich mit 21 Jahren. Er sagte zu mir: «Du wirst nie mehr einen Mann finden.» Ich glaubte es ihm. Ich war erfüllt mit dem nagenden Gefühl der Wertlosigkeit und der Angst. Ich blieb die nächsten 17 Jahre tatsächlich Single.

Dr. Dagmar Pauli: «Die Gesellschaft als Ganzes hat eine Essstörung»

Im Rückblick finde ich das schade, doch ich war der festen Überzeugung, ich müsse mich zuerst in den Griff kriegen. Doch bei den Therapeuten fand ich wenig Unterstützung und kaum Verständnis. «Du musst halt abnehmen, gesund essen und dich mehr bewegen.» Das hörte ich immer wieder.

Ich probierte Shakes, Pillen, Diäten und ging ins Adipositaszentrum. Das ist ein Ort, an dem man medizinische Hilfe für Übergewicht erhält. Zusätzlich besuchte ich die Gruppe anonymer Esssüchtiger. Nichts schien wirklich zu helfen, kaum hatte ich abgenommen, nahm ich wieder zu. Meine Fressattacken blieben.

Gibt es dicke Ernährungsberater*innen?

Mit 38 Jahren heiratete ich schliesslich den erstbesten Mann. Ich tat es, weil ich dachte, kein Anderer wird mich je heiraten. Der Druck, den ich in den folgenden Monaten erlebte, war extrem: Meine schlimmsten Ängste kamen an die Oberfläche und ich arbeitete mit ihnen.

Wie ein Stück Kohle ging ich in die Ehe hinein und wie ein Diamant kam ich wieder heraus. Nach zweieinhalb Jahren konnte ich mich aus dieser Beziehung befreien. Ich beschloss, nun wirklich zu mir zu finden. Was die Beziehung angeht, fand ich jedoch kurz darauf meinen heutigen Partner, der nicht zu vergleichen ist mit meinem Ex.

Beruflich startete ich eine Ausbildung zur ganzheitlichen Ernährungsberaterin. Natürlich hatte ich Angst, dass die Leute mich komisch anschauen, wenn sie sehen, dass ich selbst dick und trotzdem Ernährungsberaterin bin. Doch ich beschloss es zu wagen, denn von meinen bisherigen Therapeuten konnte mir bisher niemand helfen. «So muss ich es mir wohl selbst beibringen», sagte ich mir.

Die meisten Diäten scheitern

Lange dachte ich, ich sei zuckersüchtig, so wie ich es in der Gruppe Anonymer Esssüchtiger hörte. Doch dann merkte ich, dass es um viel mehr geht. «95 Prozent der Diäten scheitern», sagte meine Dozentin in einem Kurs.

Das war ein Schlüsselmoment. Ich merkte erstmals, dass es nicht nur mir so geht. Ab da änderte ich meine Sicht. Während der ersten Therapiesitzung wurde ich nach meinem Ziel gefragt. «Ich möchte Frieden in meinem Kopf haben, ich mag nicht mehr kämpfen», sagte ich.

Stück für Stück gab ich all die Verbote auf. Eine Schachtel Toffifee zum Znacht war in Ordnung. Ich grenze mich nicht mehr durch Verbote ein. Dadurch schwanden die Essattacken, denn der Reiz des Verbotenen bestand nicht mehr.

Langsam lernte ich auch, meinen Körper wieder zu spüren. Ich merkte, dass ich Sehnsucht nach etwas Grösserem hatte, die ich nicht mit Essen stillen kann. Heute lese ich zur Belohnung oder entspanne mich mit Meditation. Ich trage immernoch Grösse 54, doch ich habe bereits seit drei Jahren dieselben Kleider, das wäre vorher nicht denkbar gewesen.

Mein Gewicht schwankte viel zu stark. Trotzdem wird mir manchmal wieder bewusst, dass ich übergewichtig bin: Etwa wenn ich zwei Sitze im Zug brauche oder kein Bad in der Badewanne nehmen kann. Kleidershoppen ist ebenfalls nicht wirklich meine Lieblingsbeschäftigung. Das sind die kleinen Momente in denen ich mir wünsche, wieder ein wenig schlanker sein.

Doch heute weiss ich, die Gesellschaft zwingt niemanden schlank zu sein. Ich glaube, wenn wir uns alle als wertvoll erachten und nicht ständig kritisieren würden, störten uns vorwurfsvolle Blicke und die Erwartungen anderer nicht so sehr. Das möchte ich auch den Frauen sagen, die zu mir in die Therapie kommen. Denn ich habe es selbst erlebt, was es heisst, sich wertlos zu fühlen und wie schön es ist, wieder frei leben zu können.

Titelbild: Lydia Lippuner

Benötigst Du oder eine Person in deinem Umfeld Hilfe oder Beratung? Es gibt verschiedene Organisationen und Beratungsstellen für Menschen mit Essstörungen, an die man sich wenden kann, beispielsweise das «Zentrum für Essstörungen», die «Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen» oder das «Experten-Netzwerk Essstörungen Schweiz (ENES)».

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