Zürich vs. Bern: Wer in Sachen Klimaschutz das Rennen macht – Runde 3/3 - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Isabel Brun

Redaktorin

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8. Juli 2022 um 04:00

Wer hat die besseren Klimaziele? Bern und Zürich im Duell – Runde 3/3

Zürich und Bern haben im vergangenen Jahr ihre Klimaziele stark überarbeitet; beide Städte verfolgen eine Politik, die weniger Emissionen und mehr Klimaschutz will. Doch welche Massnahmen sind ausgereifter? Expert:innen schätzen ein.

Das Finale dreht sich um die Vorbildfunktion der Verwaltungen und das klimaneutrale Wohnen. (Foto: Simon Boschi)

Die Klimakrise ist in der Schweiz angekommen: Klimareglement hier, Netto-Null dort. Immer mehr Städte werden klimapolitisch aktiv, passen ihre Strategien an, definieren Massnahmen gegen die fortschreitende Klimaerwärmung. Auch Bern und Zürich ziehen die Schrauben im Kampf gegen die CO2-Emissionen an: Während in der Bundeshauptstadt im September das neue Klimareglement in Kraft tritt, hat sich die Stimmbevölkerung der grössten Schweizer Stadt im Mai dieses Jahres für Netto-Null bis 2040 entschieden. Zürich soll also bis in 18 Jahren nicht mehr Treibhausgase in die Atmosphäre ausstossen, als ihr wieder entzogen werden können.

Beide Städte bauen mit ihren neuen Klimazielen auf vergangenen Bestrebungen auf. Doch wer von beiden macht den besseren Job? In einer dreiteiligen Serie haben die Hauptstadt und Tsüri.ch die wichtigsten Klimaschutzmassnahmen von Bern und Zürich zusammengetragen und von Expert:innen einschätzen lassen. Auf Basis dieser Einschätzungen werden die Punkte für das Duell vergeben.

Die Vorbildfunktion der Verwaltungen

Bern

Die Stadt sieht sich selbst als Vorbild für andere Akteur:innen. Für Ersatz- und Neubeschaffungen von Personenwagen für Angestellte gilt ein maximaler Grenzwert von 95g CO2/km oder der Umstieg auf Elektrofahrzeuge; Gratis-Parkplätze sollen abgeschafft werden. Der Gemeinderat (Regierung) muss ein Reglement ausarbeiten, das Flugreisen für die Stadtverwaltung verbietet. Eine Motion, die ein komplett vegetarisches Angebot in städtischen Betrieben forderte, lehnte der Stadtrat (Parlament) ab. Bis 2025 sollen alle Öl- und Elektroheizungen und bis 2035 alle Gasheizungen in den städtischen Liegenschaften durch andere Energieträger ersetzt werden und die Verwaltung ausschliesslich Strom aus erneuerbarer Energie beziehen. Gebäude und Anlagen der öffentlichen Hand machen rund 16 Prozent des Wärme- und 17 Prozent des Strombedarfs der gesamten Stadt aus. Beschafft die Stadt Güter, achtet sie darauf, dass diese möglichst geringe Auswirkungen auf die Umwelt haben und über den gesamten Lebenszyklus wenig Ressourcen verbrauchen. Auf ihrer Website stellt die Verwaltung eine Checkliste für nachhaltig ausgerichtete Veranstaltungen zur Verfügung. Bei Events, welche die Stadt organisiert oder an denen sie sich massgeblich finanziell beteiligt, müssen die darauf festgehaltenen Punkte berücksichtigt werden. 

Zürich

Die Stadtverwaltung will bis ins Jahr 2035 klimaneutral sein. Zudem sollen die indirekten Emissionen, die durch die Verwaltung entstehen, bis ins selbe Jahr um 30 Prozent gegenüber 1990 reduziert werden. Das bedeutet beispielsweise, dass sämtliche Immobilien der Stadt Zürich bis 2035 mit nachhaltigen Energieträgern beheizt werden. Laut der Photovoltaik-Strategie von 2021 soll die Stadt bis ins Jahr 2030 mindestens zehn Prozent ihres Strombedarfs durch Photovoltaik-Eigenproduktion und/oder den Bezug von einer öffentlichen Solaranlage decken. Reisen soll die Stadtverwaltung zunehmend mit der Bahn statt mit dem Flugzeug: Anfang Juni 2022 wurde ein Postulat eingereicht, dass Dienstreisen künftig klimaschonender getätigt werden sollen. Bis anhin wurden nur Reisen von bis zu 600 Kilometer mit dem Zug zurückgelegt – von Tür zu Tür gerechnet. 

Gemäss einer Medienmitteilung sollen bis ins Jahr 2030 rund 90 Prozent der städtischen Fahrzeugflotte auf erneuerbare Energien umgestellt sein; bis 2035 dann 100 Prozent. In der Fahrzeugpolitik sind Vorgaben zur Beschaffung und zum Betrieb der städtischen Dienstfahrzeuge festgehalten. Im Vordergrund steht eine Reduktion der Dienstfahrten, vorab beim Personenverkehr, sowie eine vermehrte Nutzung alternativer Transportformen (Fahrrad, ÖV). An allen Standorten wird zudem ein Fahrzeug-Sharing eingerichtet. Die Stadtverwaltung beschafft mit wenigen begründeten Ausnahmen ausschliesslich Fahrzeuge mit alternativen Antriebsformen.

«Das Zürcher Ziel ist betreffend Klimaschutz konkreter und weitreichender als das Berner Ziel.»

Michèle Bättig, Umweltwissenschaftlerin und Beraterin für energie- und klimapolitische Fragen

Mit der «Strategie nachhaltige Ernährung» will die Stadt Zürich in ihren Verpflegungsbetrieben eine Vorbildrolle einnehmen. Diese sieht jährliche Food-Waste-Messungen vor: Bis 2030 sollen die vermeidbaren Lebensmittelverluste unter zehn Prozent der Produktionsmenge liegen. Seit Beginn der Messungen konnte die Menge bereits um mehr als zehn Gramm pro servierte Mahlzeit reduziert werden. Die Menüs entsprechen den Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung und sind damit laut der Stadt gesund und umweltfreundlich. Hier helfen Analysen, die Schulung des Küchenpersonals und die Bereitstellung von Menu-Datenbanken bei der Umsetzung. Im Einkauf soll der Anteil nachhaltiger Produkte bei 50 Prozent liegen. Heute beträgt die Labelquote rund 25 Prozent. So werden zum Beispiel nur noch Geflügel und Eier aus der Schweiz eingekauft; der Kaffee stammt aus biologischer, fairer Produktion. Die Stadt orientiert sich dabei an den Empfehlungen von Labelinfo.ch

Einschätzung von Michèle Bättig, Beraterin für energie- und klimapolitische Fragen mit gesellschaftlicher Relevanz bei Standpunkt21

Um die städtischen Klimaziele zu erreichen, sind Massnahmen der Verwaltung wichtig. Einerseits um eine Vorbildfunktion einzunehmen, andererseits um die Ziele auch tatsächlich zu erreichen. Bern setzt sich das übergeordnete Ziel, Vorbild für andere Akteur:innen zu sein. Zürich setzt sich als übergeordnetes Ziel, dass die Stadtverwaltung bis ins Jahr 2035 klimaneutral ist. Das Zürcher Ziel ist betreffend Klimaschutz konkreter und weitreichender als das Berner Ziel.

Bern will alle Öl-, Gas- und Elektroheizungen in den städtischen Liegenschaften ersetzen. Die Umsetzung dieses Ziels ist mit einer guten Planung realistisch und selbstverständlich im Sinne einer Netto-Null-Politik. Zürich will, dass bis 2035 in sämtlichen Immobilien der Stadt die fossil betriebenen Heizungen (d.h. alle Öl- und Gasheizungen) ersetzt werden. Dieses Ziel ist auf das übergeordnet Ziel einer klimaneutralen Verwaltung bis 2035 abgestimmt. Gemäss Aussagen auf der Homepage der Stadt Zürich ist die Umsetzung realistisch, aber mit Mehraufwendungen verbunden. Diese Einschätzung teile ich.

Ergebnis: Punkt für Zürich – Zürich 1, Bern 0

Klimaneutrales Wohnen – oder «der Teufel liegt im Detail»

Bern

Das Berner Klimareglement definiert verbindliche Absenkpfade für die gesamten CO2-Emissionen sowie für die Bereiche Mobilität und Wärme mit klar definierten ebenfalls verbindlichen Zwischenzielen. Bis 2035 dürfen pro Kopf maximal 0,56 Tonnen CO2 pro Jahr ausgestossen werden. Heute sind es rund zwei Tonnen. Die Massnahmen, welche dazu führen sollen, dass diese Ziele erreicht werden, sind in der Energie- und Klimastrategie definiert. Die bestehende Energie- und Klimastrategie läuft bis 2025, die neue Energie- und Klimastrategie 2025 bis 2035 ist bereits in Erarbeitung.

Die Stromversorgung soll bis 2035 auf 80 Prozent erneuerbare Energieträger umgestellt werden, der Stromverbrauch nicht um mehr als 5 bis 17,5 Prozent zunehmen, verglichen mit 2008. Festgehalten sind diese Ziele im Energierichtplan. Er ist nur für die Behörden verbindlich, jedoch nicht für Grundeigentümer:innen. Die Stadt strebt aber an, gewisse Teile des Richtplans in die baurechtliche Grundordnung zu überführen. Dabei ist sie auf die übergeordnete kantonale gesetzliche Grundlage angewiesen, welche heute noch ungenügend ist. Eigentümer:innen erhalten von einer Beratungsstelle Unterstützung bei der energetischen Gebäudesanierung. Auf der Website der Stadt gibt es eine parzellengenaue Wärmeversorgungs-Karte, auf der Hauseigentümer:innen ablesen können, welche nachhaltige Wärmequelle sich für die Liegenschaft anbietet.

Die städtische Energieversorgerin Energie Wasser Bern (EWB) baut aktuell das Fernwärmenetz aus. Dabei stehen zwei Erweiterungsgebiete im Fokus. Für den Ausbau in den Westen der Stadt werden über 500 Millionen Franken investiert. Damit wird die Fernwärme von 181 Gigawattstunden (2008) auf deren 519 ausgebaut. Ein weiteres Ausbaugebiet ist im Osten der Stadt vorgesehen. Dabei sollen zusätzliche rund 100 Gigawattstunden Fernwärme an Kund:innen geliefert werden

Der Gemeinderat (Regierung) definiert zudem mittels Eignerstrategie verbindlich den Auftrag an Energie Wasser Bern (EWB). Darin wird festgehalten, dass sich EWB an die politischen Vorgaben (Klimareglement etc.) hält und seine Wärmeversorgung gemäss Vorgaben des Klimareglements CO2-neutral ausgestalten muss.

Zürich

Nebst dem motorisierten Verkehr macht der Gebäudesektor einen grossen Teil des CO2-Ausstosses der Stadt Zürich aus: Ganze 55 Prozent der direkten Emissionen. Im Zuge des Netto-Null-Ziels sollen Gebäude auf Stadtgebiet deshalb bis 2040 klimaneutral sein. Konkret: Über 20’000 Heizsysteme, die heute in der Stadt Zürich noch mit Gas oder Öl laufen, werden laut den Plänen der Stadt durch Heizungen mit erneuerbaren Energien ersetzt. So will es auch das Energiegesetz des Kantons, welches im Herbst 2021 angenommen wurde. Demnach dürfen Gas- oder Ölheizungen bei neuen Gebäuden nicht mehr eingebaut werden. Der Kanton unterstützt zudem Hauseigentümer:innen mit Förderbeiträgen und Beratungsangeboten beim Einbau einer Wärmepumpe oder Erdsonde. In der Stadt Zürich gibt es ausserdem noch eine andere Möglichkeit zu heizen: mit Fernwärme.

Bis ins Jahr 2040 werden laut Plänen der Stadt 60 Prozent des Siedlungsgebiets mit thermischen Netzen erschlossen sein. Auch Bei Gebäudesanierungen können Hauseigentümer:innen auf Förderbeiträge des Kantons und der Stadt zurückgreifen. Während Anfang 2021 die Fernwärme etwas über 16 Prozent des Wärmebedarfs der Stadt Zürich abdeckte, soll dieser Wert bis 2050 auf 45 Prozent steigen. Parallel dazu soll das Gasnetz schrittweise stillgelegt werden.

Gemäss Photovoltaik-Strategie der Stadt sollen bis 2030 rund 120 Gigawattstunden Solarstrom auf Stadtgebiet produziert werden. Weiter sollen bis in fünf Jahren mindestens zehn stadteigene Photovoltaik-Fassadenanlagen realisiert werden, die als Vorbild-Objekte dienen sollen. Der Weg hin zu grünem Strom bedeutet auch den Ausstieg aus der Atomkraft. Neun Prozent des in Zürich verbrauchten Stroms stammt heute noch aus Atomkraft. Die Stadt ist mit 15 Prozent am AKW Gösgen beteiligt und hält 20 Prozent an der Aktiengesellschaft für Kernenergie-Beteiligungen. Bis 2034 sollen diese verkauft sein.

Einschätzung von Felix Nipkow, Co-Leiter Fachbereich Klima und erneuerbare Energien bei der Energiestiftung Schweiz

Wenn wir die Klimawissenschaften ernst nehmen, sollte der Energiesektor schweizweit bis 2035 auf Netto Null Emissionen kommen – die angestrebten Ziele beider Städte sind also ungenügend. Gerade in den Bereichen Wärme und Stromversorgung sind die technischen Möglichkeiten vorhanden und sollten rasch umgesetzt werden. Mehr Zeit könnten Bereiche wie die Landwirtschaft oder der Flugverkehr benötigen.

Zentral ist sicher der Ausbau erneuerbarer Energien. Zürich hat hier immerhin konkrete Ziele. Allerdings: Umgerechnet auf die ganze Schweiz entsprechen diese einer schweizweiten Produktion von 2375 Gigawattstunden pro Kopf. Um die Energieversorgung rechtzeitig, also bis 2035, umzustellen und unabhängig von fossilen und nuklearen Energien zu werden, brauchen wir aber eine schweizweite Produktion von rund 17’000 Gigawattstunden Solarstrom pro Kopf. Die Potenziale sind in der – tendenziell verdichtet gebauten – Stadt sicher kleiner als in anderen Gemeinden, aber auch hier ist noch Luft nach oben.

Fordert, dass die Investitionsrisiken von Solaranlagen stärker abgefedert werden: Felix Nipkow. (Foto: zVg)

Beide Städte setzen auf Fernwärme, was in vielen Fällen begrüssenswert ist. Der Teufel liegt aber im Detail: Fernwärme per se ist keine erneuerbare Energie, sondern nur dann, wenn die Wärme auch mit erneuerbaren Energien produziert wird. Im Energierichtplan der Stadt Bern steht: «Heute wird der Wärmebedarf zu 92 Prozent mit den fossilen Energieträgern Erdgas und Heizöl gedeckt. Im 2035 sollen diese lediglich noch 30 Prozent ausmachen.» Das ist ungenügend, bis 2035 muss das Ziel eine komplett erneuerbare Wärmeversorgung sein. Wenn es dann noch fossile Energieträger braucht, dann nur in Ausnahmefällen für spezialisierte Anwendungen, etwa Hochtemperaturprozesse in der Industrie, die schwerer zu ersetzen sind – und sicher nicht für die Wärmegewinnung.

Zum Einstieg gehört auch der Ausstieg. Dass Zürich seine Atom-Beteiligungen loswerden will, ist löblich, aber eine Mission impossible. Atomkraftwerke sind Altlasten mit hohen potenziellen Kostenfolgen. Die Frage ist nicht, wie viel Geld man mit ihrer Veräusserung verdienen kann, sondern wie viel man bezahlen muss, um sich dieser Altlasten zu entledigen. AKW sind wegen der ungeklärten Entsorgungskosten vermutlich unveräusserbar.

Ergebnis: Punkt für Zürich – Zürich 1, Bern 0

Es sieht nicht gut aus für die Bundeshauptstadt. Zürich gewinnt das Duell mit vier Punkten Vorsprung: 6:2. Doch auch für die grösste Stadt der Schweiz gibt es den Einschätzungen der Expert:innen zufolge Verbesserungspotential.

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