Architektur-Kolumne: Schutz des Gartens gegen den Schutz des Gebäudes - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von ZAS*

Kolumnist:innen

26. November 2022 um 08:00

Züri Deal 2: Die Lehmgrube an der Töpferstrasse

Als unsere Architektur-Kolumnist:innen die Mitteilung des bevorstehenden Abrisses eines Gebäudes nahe einer früheren Lehmabbauwand erreicht, können sie nicht anders als sich in das Wettbewerbsverfahren einschleusen und einen Gegenvorschlag vorlegen.

Die Lehmgrube an der Töpferstrasse. (Foto: zvg)

Im Mai 2019 ziehen wir an die Töpferstrasse, nach langer Wohnungssuche, wie es in Zürich üblich ist, schwanger, irgendwie hoffnungsvoll. Die Strasse führt nach hinten in eine Grube, frühere Zufahrt zur Lehmabbauwand. Diese erreichte 1950 ihre weiteste Ausdehnung und erlangte ihre heutige Form. Davor wurde am Fusse des Üetlibergs, an den Stellen, wo die Lehmschichten am grössten waren, über Jahrhunderte Lehm abgebaut, bis in die 1970er Jahre. 1955, gegen Ende der Lehmabbauindustrie, wurde ein Hochlastengebäude errichtet, zwei Untergeschosse, drei Obergeschosse, 40 Meter tief in beide Richtungen, ein fünfeckiger Körper aus Pilzstützen und 50 Zentimeter starken Decken, gestalterisch zu wenig herausragend, um unter Schutz gestellt zu werden. Luftaufnahmen zeigen, dass kurz nach dem Bau, 1957, in der Grubenwand die Bäume aus dem Boden schossen und Wald wurden, neben Weiden und Föhren breitete sich Bambus aus, scheinbar einer der grössten Bestände Zürichs.

Die Töpferstrasse wie auch die viel grössere Binzgrube nebenan wurden nicht aufgeschüttet und überbaut, keine Strassenraster wurden darübergelegt, sie überstanden die Baulust der 70er-Jahre. Die Binzgrube wurde 1984 unter Schutz gestellt, die Töpfergrube 2018, zum gleichen Zeitpunkt als auch das Gebäudeensemble 18, 20, 26, 28 aus dem Inventar entlassen wurde.

Sie zeichnen sich durch eine halbmondförmige Grubenwand ab, mit einem einzigen Weg hinein und hinaus, ohne sonstige Verbindungen zur Stadt. Unser tägliches Ein- und Ausgehen in den Endpunkt der Lehmgrube ist Teil eines sich selbst aufrechterhaltenden, sich schützenden Systems. 

Weiden und Föhren breiten sich auf dem Areal aus. (Foto: zvg)

Wir grüssen bewaffnete Personen von privaten Sicherheitsfirmen. Sie schützen jüdische Familien und die Schule, ein Checkpoint am Ende der Töpferstrasse. Die Autonomie dieses Ortes wird von der Topografie der Grube ermöglicht. Der Schutz der Grube wird historisch argumentiert, ihre Topografie gilt als Reminiszenz der Tonindustrie Zürichs. Heute verwandelt sie sich zu Wald, der Wald des Üetlibergs, der sich Richtung See ausbreitet und der wachsenden Stadt standhält.

Gegen den bevorstehenden Abriss

Der Schutz des Gebäudes wäre 2002 über die Inventarisierung des Ensembles gewährleistet worden, doch 16 Jahre später gab es folgenden Deal: Eine Versicherungsgesellschaft verkauft die Parzellen an einen gemeinnützigen Verein. Beim Erwerb und der Entwicklung der drei Parzellen handelt es sich um die Existenzsicherung einer dem Immobilienmarkt standhaltenden Gemeinschaft, die seit dem 13. Jahrhundert in Zürich lebt und baut. Es ist keine Pensionskasse, keine Versicherung. Also auch alles irgendwie ok. Doch die Parzelle hat ihre Ausnützung nur zu zwei Drittel erreicht, was für Zürcher Verhältnisse als beinahe unbebaute Parzellen gilt. Es sollte dazugebaut werden. Als das Gebäudeensemble der Töpferstrasse 18, 20, 26, 28 noch im Inventar war, musste man sich die zusätzlichen Neubauten im steilen, lehmigen Hang vorstellen, was aus Gründen wie Grenzabständen und der rebellierenden Topografie schwer war.

Der Schutz des Gartens gegen den Schutz des Gebäudes.

Wiederholt wurden die Vorhaben vom Bauamt abgelehnt. Grünstadt Zürich fand ausserdem, dass der heranwachsende Wald und die Artenvielfalt, die vom lehmigen Boden profitieren, den Kriterien eines Natur- und Landschaftsschutzobjektes entsprachen und stellte darum die Grube unter Schutz. Um jedoch die Ausnützungsziffer zu erreichen, eine fiktive Zahl mit enormer Auswirkung auf die gebaute Realität, musste der Denkmalschutz sich zurückziehen und entliess die Gebäude aus dem Inventar. Im Bericht über diesen Entschluss des Stadtrats Zürich trägt dieser Vorgang den Titel «Abwägung der öffentlichen und privaten Interessen». Der Schutz des Gartens gegen den Schutz des Gebäudes – ein Schutzabtausch. Das Gebäude kann nun liebevoll abgetragen werden, Schicht für Schicht, die Teppichwaren ausgeräumt, der Einwegbesteck Vertrieb, die Kostümsammlungen, Masken, Kleider, und wir...

«Ein bestehendes Gebäude wird zerschnitten wie ein Kuchen. Ein paar Teile fallen weg, die restlichen Volumen bleiben stehen.»

ZAS*

Als uns die Mitteilung des bevorstehenden Abrisses unseres Gebäudes erreicht, konnten wir nicht anders als uns in das Wettbewerbsverfahren einschleusen und den Gegenvorschlag zum Abriss dieses Gebäudes vorlegen. Wir riefen den Vermieter an und überzeugten ihn davon, uns den Vorschlag machen zu lassen. Wir stellten in ein paar Tagen ein Team aus Baumanagement, Ingenieur, Landschaftsarchitektur und allen anderen Fachplanerinnen zusammen, um eine Aufstockung auf die Gebäude ernsthaft im Wettbewerbsverfahren zu vertreten. 

Der Umgang mit den drei Parzellen war nicht so schwer aufzureissen: Ein bestehendes Gebäude wird zerschnitten wie ein Kuchen. Ein paar Teile fallen weg, die restlichen Volumen bleiben stehen. Ein Teil des Inneren wird ausgeschnitten, um gegen die Tiefe anzukommen. Es kommt viel Licht, Luft, Wind, Regen dazu. Es entstehen neue Räumlichkeiten in der bestehenden Betonstruktur. Durch Einschnitte werden tiefliegende Teile des 50er-Jahre-Baus ans Tageslicht geholt. Pilzstützen werden zu Säulen der Fassade.

Neue Kuchenteile werden aufeinander gestapelt. Sie bestehen teils aus den Restteilen, die wir weiter unten weggeschnitten haben. Diese Teile werden neu kombiniert und als Fragmente mit neuen Teilen verbunden. Die Technik erinnert an einen Kuchen aus der DDR, Kalter Hund genannt. Hier werden Biscuits in heisser Schokolade beigemischt und in eine Cakeform gegossen. Beim Aufschneiden werden die Stücke in ihrer unterschiedlichen Position angeschnitten, Bruchkanten entlang der Kekse werden Zeugen der Geschichte dieses Ortes, die Schichten werden freigelegt und teilweise sorgfältig abgetragen.

Ein Fundament fürs Weiterbauen

Es zeichnete sich ab, dass das Wettbewerbsprogramm am Abriss der Gebäude festhielt, da wir still aus dem Verfahren entlassen wurden. Es stellte sich uns dennoch die Frage, wie Grünstadt Zürich und die Denkmalpflege diesen Abtausch unter sich festmachten. Die Lehmgruben schützten sich bereits in den 70er Jahren vor Baubooms entlang des Üetlibergs und in deren Sohlen entstanden neuere Industriebauten. Kann dieses Schwerlastengebäude in seiner Robustheit als Teil der topografischen Situation begriffen werden? Und somit Eingang in die Schutzwürdigkeit finden? Sie kann als Fundament fürs Weiterbauen gelesen werden, anstatt abgetragen zu werden. Wäre es ein Lehmbau, so würde es wohl einfacher in seiner neuen Gestalt als Element der schützenswerten Landschaft akzeptiert. 

Es ist die materielle Klassifizierung, die zementöse Beschaffenheit und der strenge Dualismus zwischen Wand und Erde, Gebäude und Umgebung, Positiv und Negativ, die es dem Haus verunmöglicht, Teil der geschützten Topografie zu werden. Das Dach des Hauses befindet sich auf Höhe Oberkante der Lehmgrube. Würde die Grube wieder zugeschüttet, wäre das Haus unter der Erde versunken. Nur die zwei Liftschächte würden herausragen, wie die Hütten der Schrebergärten weiter oben am Hang.

(Foto: Elio Donauer)

ZAS*

ZAS* ist ein Zusammenschluss junger Architekt:innen und Stadtbewohner:innen. Unter ihnen kursieren heute verschiedene Versionen darüber, wo, wann und warum dieser Verein gegründet wurde. Dem Zusammenschluss voraus ging eine geteilte Erregung über die kurze Lebensdauer der Gebäude in Zürich. Durch Erzählungen und Aktionen denkt ZAS* die bestehende Stadt weiter und bietet andere Vorstellungen an als jene, die durch normalisierte Prozesse zustande gekommen sind. Um nicht nur Opposition gegenüber den offiziellen Vorschlägen der Stadtplanung zu markieren, werden transformative Gegenvorschläge erarbeitet. Dabei werden imaginative Räume eröffnet und in bestehenden Überlagerungen mögliche Zukünfte lokalisiert. Die Kolumne navigiert mit Ballast auf ein anderes Zürich zu und entspringt einem gemeinsamen Schreibprozess. Zur Kontaktaufnahme schreiben an: [email protected]

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