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Von Rahel Bains

Redaktionsleiterin

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28. August 2022 um 07:00

Brunchgeschichten: Hohe Mieten zwingen uns zum gemeinschaftlichen Wohnen

Der Hüsli-Traum ist längst gestorben. Für manche Städter:innen gar der Traum einer bezahlbaren 4-Zimmer-Wohnung. Dies führt dazu, dass wir den Platz teilen müssen und am Ende auch mit Mitte 30 noch in WGs wohnen. Was wir heute aus der Not heraus tun, setzten Aktivist:innen früher innerhalb ihrer Kommunen aus Überzeugung um. Ein Blick zurück zeigt: Gemeinschaft ist grundsätzlich eine gute Idee.

Illustration: Zana Selimi

Neulich berichtete mir eine Bekannte, dass sie beim Wohnungsbesichtigungs-Zufallsgenerator der städtischen Liegenschaftenverwaltung durchgekommen ist. «Gratuliere!», war meine erste Reaktion. Dann hielt ich kurz inne und fragte mich: Ist das jetzt nicht ein wenig übertrieben, ihr dazu gleich zu gratulieren? Sie darf die Wohnung schliesslich nur besichtigen, das Bewerbungsverfahren hat noch nicht mal wirklich begonnen. Und gratulieren tut man sonst ja eher zu frisch geborenen Babys, neuen Jobs oder abgeschlossenen Ausbildungen. Doch dann fand ich: Aus mehreren hundert Mitstreiter:innen unter den wenigen glücklichen auserwählten Personen zu sein, die in dieser Stadt eine bezahlbare Wohnung besichtigen dürfen, ist schon eine Gratulation wert (Wenn die Wörter «Zufallsgenerator» und «Stadtwohnungen» bei dir für Fragezeigen sorgen, dann hilft dir dieser Artikel weiter). 

Weil: Ich weiss es, du weisst es, wir alle wissen es und können es eigentlich nicht mehr hören: Der hiesige Wohnungsmarkt ist ein hartes, sehr hartes Pflaster und eine 2,5-Zimmerwohnung – immerhin 109 Quadratmeter gross, aber trotzdem –  kann im Kreis 8 gerne mal 9100 Franken kosten. So neulich auf Homegate gesehen.

Die Suche nach Gemeinschaft

Dieser Text soll aber kein Lamento über uns arme Städter:innen werden, die sich keine Wohnung mehr leisten können und am Ende dazu genötigt werden, zur Familiengründung in die Agglo zu ziehen (wo die Wohnungen mittlerweile übrigens auch absurd viel kosten), sondern vielmehr die sozialen Entwicklungen, genauer gesagt neuen Wohnformen aufzeigen, die durch diese zugespitzte Lage entstehen. Denn immer mehr leben wir in dieser Stadt auch mit Mitte 30 noch ganz selbstverständlich in Wohngemeinschaften. Oder Eltern, die sich trennen, versuchen sich in Nestmodellen und dergleichen.

Ein Satz, der es gut auf den Punkt bringt, stammt von einem Protagonisten des Films «Nos utopies communautaires - Die Kunst des Zusammenlebens» von Pierre-Yves Borgeaud und lautet: «Früher wollte man zusammen wohnen, heute macht man es rein finanziell, weil die Stadt zu teure Wohnungen hat. Man muss den Raum einfach teilen.» 

Im Film, der bald in die Kinos kommt, werden ehemalige Aktivist:innen der 1970er-Jahre und ihre anhaltende Suche nach Gemeinschaft. Kommunen, Hausbesetzungen oder die freie Liebe porträtiert. Menschen, die stets in der Hoffnung auf echte Veränderungen waren und auch heute noch, im Ruhestand, mit neuen Wohnformen experimentieren, wo Gemeingüter und Teilen wichtig sind. Ob im Ökodorf, in der Alters-WG oder in der nach eigenen Vorstellungen gegründeten Genossenschaft.

Auch Zürich ist mit der Bau- und Wohngenossenschaft Kraftwerk 1 einer der vielen Schauplätze des Films und zeigt: Alternative Wohnformen? Das können wir. Einige davon haben auch wir von tsüri.ch bereits besucht. So zum Beispiel die Hallenbewohner:innen im Zollhaus, die gemeinsam auf 275 Quadratmetern in rollbaren, selbstgebauten Wohntürmen hausen. Oder die Mieter:innen des Hunziker Areals, die in Leutschenbach in sogenannten «Satellitenwohnungen» zusammenleben. Auch zahlreiche geplante Wohnprojekte dieser Stadt gehen in die gleiche Richtung: Neben den klassischen Wohnungsgrundrissen werden immer mehr auch Konzepte für Gross-WGs umgesetzt. Sind wir also die neuen Hippies? Nicht aus Überzeugung, sondern aufgrund überteuerter Mieten und mangelndem Platz?

Dass das Leben in einer Gemeinschaft grundsätzlich keine schlechte Idee ist, habe ich bereits in einem alten Beitrag mit einem Beispiel aus Okinawa, das im ostchinesischen Meer liegt, erwähnt. Mehr als 1000 Einwohner:innen sollen dort, auf den sogenannten «Inseln der Unsterblichen», während der vergangenen 40 Jahre mehr als 100 Jahre alt geworden sein. Ihr Schlüssel zu einem langen Leben: Aktiv bleiben durch Bewegung und vor allem – soziale Kontakte. Als weiteres Lebenselixier bezeichnen die Einheimischen «moai», eine lokale Tradition der Gruppenunterstützung und der Kameradschaft zwischen den Bewohner:innen, die jahrzehntelang andauern kann.  

«Vielleicht lohnt es sich, einen Blick über den Tellerrand zu wagen. Sich zu fragen, wie viele Quadratmeter pro Kopf wir tatsächlich brauchen.»

Redaktionsleiterin Rahel Bains

Die Protagonist:innen des Filmes nannten ihre Wohngemeinschaften aus den 70ern «einen Übungsplatz für neue Lebensformen». «Wir teilen viel, zum Beispiel Bücher oder Klamotten. Es entstehen ganz einfach Beziehungen und das verstärkt die Liebe, die wir zueinander empfinden», erzählt dort etwa eine junge Frau. «Ich musste nie jemanden suchen, der auf meine Kinder aufpasst», fügt eine andere hinzu. «Die Idee war, dass es besser ist, zusammenzuleben statt alleine. Es macht einen Unterschied, ob man mit Partner:in, Kind und Hund in einem Einfamilienhaus lebt oder gemeinsam mit 100 Leuten.»  

Na ja. 100 andere Menschen müssen es für meinen Geschmack nicht sein, aber vielleicht lohnt es sich, einen Blick über den Tellerrand zu wagen. Sich zu fragen, wie viele Quadratmeter pro Kopf wir tatsächlich brauchen (Spoiler: Wir werden künftig so oder so immer weniger zur Verfügung haben). Und ob das Leben in der Kleinfamilie wirklich für alle das richtige Wohnmodell ist oder ob eine Mischform zwischen Gemeinschaft und kleinem Rückzugsort allenfalls auch eine interessante Alternative wäre? (Hier ein weiterer Artikel-Tipp, in dem ein Vater erzählt, wie er plötzlich in einem Kleinfamilien-Setting gelandet ist, obwohl er das gar nie wollte).

Dass das Leben in der Gross-WG auch schwierig sein kann, bestätigen am Ende zwar auch die Film-Protagonist:innen: «Es ist nicht einfach, wenn viele Menschen zusammenwohnen. Es ist sogar komplizierter als in einer Ehe.» Und doch werden wir uns künftig wohl immer mehr damit befassen. Denn der Hüsli-Traum ist für meine Generation längst gestorben. Für manche Städter:innen gar der Traum einer bezahlbaren 4-Zimmer-Wohnung.

Wie wohnt ihr in dieser Stadt? Schreibt es uns in die Kommentare!

Am 5. September findet im Kosmos um 18 Uhr die Vorpremiere von «Nos utopies communautaires - Die Kunst des Zusammenlebens» statt. Im Anschluss gibt’s ein Q&A mit dem Regisseur, Pierre-Yves und der Protagonistin, Maya Schwan-Irniger.

Brunchgeschichten

Das Wochenende bietet meistens viel Gesprächsstoff für den Sonntagmorgen. Wir wollen dich an unseren bescheidenen Erlebnissen teilhaben lassen. Simon, Elio, Ladina, Coraline, Isa, Nico, Steffen, Seraina, Rahel und Lara erzählen dir jeden Sonntag abwechselnd eine Geschichte aus deiner Lieblingsstadt, die sich bestens beim gemütlichen Brunch besprechen lässt – sollten euch dabei mal die Themen ausgehen.

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