Lieber keine Taube auf dem Dach: Unterwegs mit einem Zürcher Wildhüter - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Isabel Brun

Redaktorin

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18. August 2023 um 04:00

«Wenn ich Enten rette, bin ich der Held, wenn ich Tauben schiesse, der Sündenbock»

Sein Revier ist die Stadt, im Visier hat er die Vögel: Christian Breitler schiesst Tauben, rettet Enten und beobachtet Falken. Während er für das eine gehasst wird, wird er für das andere gefeiert. Wie er damit umgeht, erklärt der Wildhüter auf einer Tour durch Zürich.

Neben dem städtischen Taubenbestand hält Christian Breitler auch andere Vögel im Auge. (Fotos: Isabel Brun)

Dieser Beitrag wurde am 8. Februar 2023 das erste Mal auf Tsüri.ch veröffentlicht. Im Rahmen einer Repost-Woche holen wir die Reportage aus dem Archiv.

Ich treffe Christian Breitler an einem grauen Sonntag im Januar. Das helle Lachen einer Gruppe Möwen vermischt sich mit dem gleichmässigen Rauschen des städtischen Verkehrs. Der Winter sei die ruhigste Zeit für ihn. Die Ruhe vor dem Sturm, denn in wenigen Wochen beginnt für viele seiner Schützlinge bereits die Brutzeit. Dann sei Hochbetrieb, sagt Breitler. Der 45-Jährige ist einer von insgesamt fünf Wildhütern – alle Männer – der Stadt Zürich. Sein Spezialgebiet sind die Vögel. Und weil zu seinen Aufgaben auch der Abschuss von Tauben gehört, rückt er regelmässig ins Visier von selbsternannten Tierschützer:innen.

Breitler mag die Bezeichnung des «Taubenfängers» nicht. Sie sei inhaltlich falsch, weil er sich nicht nur um Tauben kümmere, und zu negativ konnotiert, «zumal es immer darum geht, die Tiere vor Schlimmerem zu bewahren». Während wir durch den Platzspitz schlendern, rauscht seine kleine Münsterländer-Hündin Lara an uns vorbei.

Töten als Mittel zum Zweck

Seit drei Jahren begleitet sie Breitler auf seinen Touren; spürt verletzte Tiere auf und bringt diese gegebenenfalls zu ihrem Besitzer. Wer als Wildhüter:in für die Stadt Zürich arbeiten will, muss gewillt sein, einen Hund anzuschaffen und ihn auszubilden. Mit Lara geht Breitler auch auf die Jagd. Eine Leidenschaft, die in seiner Zeit in Norwegen und im Bündnerland – dem Jäger:innenparadies der Schweiz – aufgeflammt war. Zwar wuchs er mit und um Tiere auf dem Land im Zürcher Oberland auf, fokussierte sich dann aber viele Jahre lang auf seinen Beruf als Fotograf: Schoss Bilder, nicht Tiere.

Seit vier Jahren arbeitet der 45-Jährige bei der Stadt Zürich als Wildhüter – auf seine Stelle bewarben sich über hundert Personen.

Zur Jagd kam Breitler erst, als er durch das Kochen damit anfing, sich für die Herkunft von Nahrungsmitteln zu interessieren. «Ich wollte den Kreis schliessen und erfahren, wie es ist, ein Stück Fleisch zu gewinnen. Vom Finden über das Beobachten, Auswählen eines Tieres und seiner Tötung bis auf den Teller.» Deshalb liess er sich zum Jäger ausbilden. Nach seiner ersten Pirsch hatte er wortwörtlich Blut geleckt. Das war vor zwölf Jahren.

Seine Ausführungen werden durch ein schellendes Telefon unterbrochen. Er greift in seine Brusttasche. An Sonntagen seien solche Anrufe selten, sagt Breitler und meldet sich sogleich:

«Breitler.»

«Aber sie lebt noch?»

«Ist das Blut frisch?»

«Kann sie noch fliegen?»

«Wo genau? Beim Pavillon?

«Gut, ich gehe sie mir anschauen.»

Einige Minuten später sitzen wir in Breitlers Auto und fahren durch die Zürcher Innenstadt. Eigentlich hätte er mir beim Platzspitz zeigen wollen, wo sich Wasseramsel und Stockente gute Nacht sagen. Die Sihl sei dank ihrer Renaturierung vor einigen Jahren zu einer Oase für Vögel inmitten der zubetonierten Stadt geworden, erklärt der Wildhüter. Solche Gegensätze faszinieren den Jäger. Deshalb ziehe er die Grossstadt einer ländlichen Gegend vor: «Die Koexistenz von Mensch und Natur in Städten hat ein viel grösseres Konfliktpotential, was meine Arbeit wiederum extrem spannend macht.» Spannend, aber auch herausfordernd, wie Anekdoten zeigen, die mir Breitler an diesem Tag noch erzählen wird. 

«Tauben sind nicht das Problem, sondern ihr Kot»

Das Kies knirscht unter den Rädern, als wir in den kleinen Park vor dem Bahnhof Stadelhofen einfahren. Laut der Anruferin liegt hier irgendwo eine blutende Taube. Breitler zieht sich Latexhandschuhe über und macht sich mit einem Fangnetz in der Hand auf die Suche nach dem Tier.

Ob er den Vogel töten werde, wenn er nicht mehr fliegen kann, frage ich. «Das kommt darauf an», lautet seine Antwort, «aber wenn er sich einen Flügel gebrochen hat, gibt es in der Regel nur zwei Optionen: Erlösen oder sich selbst überlassen.» Und da sei ersteres wohl die angenehmere Variante für das Tier. Gesunder Menschenverstand, diesen vermisse er manchmal, wenn ihn vermeintliche Tierretter:innen aus dem Schlaf reissen würden, weil sie denken, eine Ente sei am See festgefroren. «Wenn ein Vogel mit Kälte gut klarkommt, dann die Ente», erklärt Breitler. Fussheizung sei Dank.

Auch dieser Einsatz scheint ein Fehlalarm gewesen zu sein. Das kommt laut dem Wildhüter immer mal wieder vor; oft würden verletzte Vögel noch fliegen können. Dann entdeckt er eine einsame Taube. Sie liegt zusammengesunken mitten im verwelkten Blumenbeet. Breitler klatscht zweimal in die Hände und der Vogel fliegt zu seinen gefiederten Freunden auf das Stromkabel hoch über unseren Köpfen. Erst jetzt fallen mir die vielen Tauben auf, die sich auf dem gespannten Kabel und den beiden grossen Bäumen niedergelassen haben. 

Laut dem Schweizer Tierschutz macht eine hohe Populationsdichte in erster Linie den Tauben selber zu schaffen.

Der Platz sei einer der Hotspots in der Stadt: Bis zu 250 Tauben versammeln sich hier täglich – und sorgen für verärgerte Anrufe. Meistens von Hauseigentümer:innen. Doch was ist überhaupt das Problem mit den Tauben in der Stadt Zürich? «Das Problem», Breitler spricht das Wort langsam aus, weil er es nicht mag, «sind eigentlich nicht die Tauben an sich, sondern ihr Kot. Und ihre Lebensweise.» 

Weder Ratte noch Haustier

Unsere verwilderte Haustaube stammt ursprünglich aus dem Nahen Osten und dem Mittelmeerraum. Dort wurde sie domestiziert, um an ihr Fleisch und ihre Eier zu kommen und ihren Kot als Dünger verwenden zu können. Ihre Züchtung begann erst, als ihr Talent als Brieftaube entdeckt wurde. Da sie in der Regel an Felsen nistet, fand sie schnell Gefallen an den eng gebauten Häusern mit Wandspalten und Dachböden in der Zivilisation.

Diese Anpassungsfähigkeit wird ihr heute zum Verhängnis: Denn dadurch, dass sie einst in den Senkrechten ihr Nest bauen musste, ist ihr Kot klebrig. Während anderer Vogelkot mit dem nächsten Regen weggewaschen wird, bleibt jener von Tauben haften: an Hausfassaden, Denkmälern oder auf Terrassen. Und weil Kot der perfekte Nährboden für Schimmelpilze und Milben sei, komme es auch schneller zu Schäden, heisst es in einem Merkblatt des Schweizer Tierschutz.

«Man redet viel zu wenig über das Sterben, dabei gehört es auch zum Leben dazu.»

Christian Breitler, Wildhüter mit Spezialgebiet Vögel

Mittlerweile stehen wir hoch oben auf einem Gebäude in der Innenstadt, blicken auf den Zürichsee und ein Dach voller Tauben. Ihr Kot sammelt sich der Länge nach zu einer trockenen Masse. Spätestens wenn dadurch die Dachrinne verstopft, läutet bei Breitler das Telefon. Nur in seltenen Fällen handle es sich aber dann auch wirklich um eine «Taubenplage», wie viele der Anrufer:innen meinen würden. «Fünf Tauben, die auf den Balkon scheissen, sind noch keine Plage, sondern normal, wenn man mit Wildtieren zusammen in einer Stadt lebt.»

An Felsen nützlich, auf Dächern schädlich: Taubenkot.

Deshalb hält Breitler auch nicht viel von der Bezeichnung «Ratten der Lüfte». Unterteilungen in Gut und Böse in der Tierwelt seien ihm allgemein zuwider. Doch gerade Tauben werden von der Bevölkerung entweder geliebt oder gehasst – gefüttert oder gejagt. 

Vom Jäger zum Gejagten

Das Ausmass dieser Diskrepanz zeigt sich nicht nur bei der Arbeit des Revieraufsehers. Als der Kanton Zürich Anfang dieses Jahres das überarbeitete Jagdgesetz präsentierte, liefen sogenannte Tierschützer:innen Sturm. Der Grund: Neu dürfen Stadttauben und fast alle anderen Wildtiere nicht mehr gefüttert werden. Wer es trotzdem macht, muss mit einer Busse von bis zu 200 Franken rechnen. Für viele Vogelfreund:innen ist die Massnahme unverständlich, zumal der Mensch für die Verbreitung selbst verantwortlich sei. Breitler hingegen steht hinter der kantonalen Bestimmung: «Es ist nicht unsere Aufgabe, Wildtiere zu füttern.» 

Der Angestellte der Stadt ist durch und durch Pragmatiker, sieht das Leben als Kreislauf. In der Natur sei des einen Pech des anderen Glück. Dass er mit dieser Ansicht viel Kritik erntet, scheint ihn nicht zu stören. Hassnachrichten würden genauso zu seinem Alltag gehören wie lachende Gesichter hinter Autoscheiben, wenn er eine Entenfamilie über die Strasse lotst, sagt Breitler: «Wenn ich Enten rette, bin ich der Held, wenn ich Tauben schiesse, der Sündenbock.» Damit habe er sich in seinen vier Berufsjahren abgefunden.

Auch ein Gewehr gehört zu Breitlers Ausstattung; an Sonntagen wird jedoch nicht geschossen.

Wir klettern runter vom Dach, steigen ins Auto und fahren in Richtung Sihlquai. Dort angekommen, darf auch Lara wieder aus dem Kofferraum. An der Sihl lässt ihr Besitzer sie laufen, worauf die Hündin sofort ins Wasser springt. 2018 wurde der Fluss aus seinem Betonkorsett befreit und renaturiert, also die Natur wiederhergestellt. Was auf den ersten Blick aussieht wie ein verwahrlostes Gebiet mitten in der Stadt, ist der Lebensraum von unzähligen Pflanzen und Tieren. Auch bedrohte Vogelarten wie der Gänsesäger oder der Eisvogel haben sich hier angesiedelt. Während wir Letzteren an diesem Tag vergebens suchen, erspäht Breitler ein Gänsesäger-Paar. Von der Entenart gibt es schätzungsweise nur 600 bis 800 Tiere in der Schweiz. Dass sie sich hier wohlfühlten, sei also ein gutes Zeichen. 

Eine tote Taube kommt selten allein

Lara kommt mit einer leeren Chipspackung im Maul angelaufen, legt sie vor uns auf den Boden. Sie wurde darauf trainiert, «Unnatürliches» aufzuspüren und ihrem Herrchen zu bringen. Damit gemeint sind eigentlich regungslose Tiere, «aber in der Stadt gehört oft auch Abfall zu ihrer Beute», erklärt Breitler. Gerade als wir uns auf den Rückweg zum Auto machen, läutet sein Telefon erneut. Es ist die Stadtpolizei. Ihre Nummer hat der Wildhüter gespeichert, da sie in der Regel als erstes angerufen werden, wenn irgendwo ein Reh angefahren oder ein verletzter Falke entdeckt wurde. Heute ist es eine tote Taube.

Hündin Lara begleitet den Wildhüter auf Schritt und Tritt.

Von den schätzungsweise 16’000 Tauben in der Stadt Zürich sterben im Durchschnitt jährlich um die 1500. Durch Unfälle, grippale Infekte oder die Schüsse aus Breitlers Gewehr. Er versichert jedoch: «Letzteres kommt nur zum Zuge, wenn konkreter Handlungsbedarf besteht», sich die Tiere zu hunderten an einem Ort in der Innenstadt aufhalten oder sie sich explosionsartig vermehren würden. Dann geht der Wildhüter auf Taubenjagd. Davon mitbekommen würde die Bevölkerung selten etwas: Dafür sorgen der Schutz der morgendlichen Dämmerung und der Schalldämpfer sowie seine jahrelange Erfahrung als Jäger.

Bevor wir uns mit Breitlers Auto in Richtung Zollstrasse aufmachen, bekommt der durchnässte Hund einen Mantel übergestülpt und wird von Breitler in den Wagen gehoben. Als Diensthund und Haustier geniesst Lara einen Sonderstatus. Wir fahren über die Langstrasse. Die Spuren des nächtlichen Treibens sind bereits alle verschwunden.

Ob sich die Feiernden von vergangener Nacht darüber bewusst waren, dass sie zusammen mit Wildtieren in dieser Stadt leben?

«Städter:innen haben den Bezug zur Natur verloren»

Unterwegs mit Breitler setzt man automatisch eine andere Brille auf, sieht die vielen Möwen, die hier überwintern, oder den Wanderfalken, der hier erst seit wenigen Jahren wieder präsent ist. Es ist fraglich, wie lange es gedauert hat, bis jemand wegen der toten Taube nahe dem Hauptbahnhof die Polizei informierte: Die Totenstarre ist bereits eingetroffen. Der Tod beschäftigt Breitler, ob er will oder nicht. «Man redet viel zu wenig über das Sterben, dabei gehört es auch zum Leben dazu.» Ein abgebrühter Killer sei er nicht.

Lara stamme aus einer Zucht, die ihre Hunde nur an Jäger:innen vermittelt, so Breitler.

Der Lauf des Lebens, das Geben und Nehmen, wie in der Natur üblich: Es ist seine Philosophie. Die tote Taube, man könnte sie theoretisch auch liegen lassen, dann würde sie zum Futter für andere Tiere; Raubvögel oder Füchse, sagt Breitler. Er legt die Taube in einen Sack. Wenn wir sie auf die Kadaverstelle bringen, sei sie, überspitzt gesagt, umsonst gestorben. Aber tote Tiere auf öffentlichem Grund, sie gehören weg. Das versteht auch Breitler.

Aber: «Viele Städter:innen haben den Bezug zur Natur verloren.» Ihn verwundere es deshalb nicht, dass auch in Zukunft besorgte Menschen anrufen würden, die eine Ente aus dem gefrorenen See retten wollen. Fehlendes respektive falsches Wissen sei auch Schuld daran, dass die Tauben-Thematik in Zürich überhaupt so intensiv diskutiert werde, ist sich der Wildhüter sicher.

Tote Tiere gehören zum Alltag des Wildhüters.

Die tote Taube von heute Nachmittag ist jedenfalls nicht verhungert, sondern vermutlich in eine Scheibe geflogen. Eine neue wird in wenigen Monaten nachkommen: Ab März beginnt die Brutzeit der Höhlenbrüter. Es ist der Kreislauf des Lebens, den Breitler durch den Alltag als Wildhüter in der Stadt Zürich begleitet – daran werden auch aufgebrachte Tierschützer:innen nichts ändern.

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