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Von Isabel Brun

Redaktorin

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18. April 2024 um 04:00

Recht auf Wohnen: Zürcher Mieter:innen wehren sich erfolgreich

Sei es wegen Kündigungen oder Mietzinserhöhungen: Immer mehr Menschen wehren sich rechtlich gegen die mutmassliche Willkür ihrer Vermieter:innen. Dass sich Widerstand durchaus lohnen kann, zeigt ein Beispiel aus dem Zürcher Kreis 10.

Luxuriös sind die Wohnungen im Haus von Simone Riklin* nicht – trotzdem verlangt der Vermieter stolze Preise. (Foto: Isabel Brun)

Sie würde es wieder so machen, sagt Simone Riklin*. Vor ihr auf dem Küchentisch liegt ein blaues Mäppchen mit den wichtigsten Dokumenten: der Mietvertrag, die Vorladung der Schlichtungsbehörde und Kopien von eingeschriebenen Briefen. Daneben Brotkrümel. Überbleibsel vom Frühstück. Riklin wohnt im Kreis 10 auf 60 Quadratmetern. 2200 Franken bezahlt sie monatlich für ihre Wohnung mit 3,5 Zimmern.

Ihr Vermieter hätte gerne mehr: Vergangenen Juni wollte er den Mietzins auf 2400 Franken pro Monat anheben, weil der Referenzzinssatz von 1,25 auf 1,50 Prozentpunkte erhöht wurde. Doch Riklin war skeptisch: «Ich konnte nicht glauben, dass ich 200 Franken mehr für diese Wohnung zahlen soll.» Sie vermutete Missbrauch und wehrte sich schliesslich rechtlich gegen die Mietzinserhöhung. Damit war sie nicht alleine.

Über 2200 Verfahren pendent

2023 mussten die Schweizer Schlichtungsbehörden rund 80 Prozent mehr Verfahren bearbeiten als im Vorjahr, verkündete das Bundesamt für Wohnungswesen (BWO), in Zürich wurde daher die Behörde aufgestockt. Ein Drittel aller Fälle seien Anfechtungen von Mietzinserhöhungen gewesen. Wenig überraschend, denn viele Hauseigentümer:innen nahmen die Referenzzinssatzerhöhung von Juni und Dezember zum Anlass, die Mieten nach oben anzupassen. Davon betroffen war fast jede:r dritte Mieter:in in der Schweiz, wie eine Studie des Vergleichportals bonus.ch zeigt.

«Wenn ich daran denke, dass ich damit 200 Franken im Monat einsparen kann, lohnt sich der Aufwand allemal.»

Simone Riklin*

Viele jener, die sich gegen die mutmassliche Willkür ihrer Vermieter:in wehrten, warten bis heute auf einen Termin vor der Schlichtungsbehörde. Vor einem Monat meldete das BWO, dass erst die Hälfte aller eingegangenen Fälle abgearbeitet sind. Auch im Kanton Zürich waren per Ende März noch immer 2259 Verfahren pendent – ungefähr 1700 davon betreffen nur Mietzinserhöhungen.

Auch Simone Riklin musste sich gedulden. Nachdem sie Ende Juni ihre Erhöhung angefochten hatte, dauerte es fast neun Monate, bis sie einen Termin vor der Schlichtungsbehörde erhielt. Üblich ist das laut dem Bezirksgericht Zürich nicht, doch aufgrund der hohen Anzahl an Verfahrenseingängen sei es teils «zu grösseren Verzögerungen» gekommen. Die lange Wartezeit zehre zwar an den Nerven, so Riklin, aber aufwändig sei der Prozess nicht. «Wenn ich daran denke, dass ich damit 200 Franken im Monat einsparen kann, lohnt sich der Aufwand allemal.» Zumal ihr der Gang vor die Schlichtungsbehörde gar erspart blieb.

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Erfolgsmodell Schlichtungsbehörde

Nur wenige Tage vor dem Verhandlungstermin kam es zu einer überraschenden Wende: Der Vermieter, ein Zürcher Galerist, zog seine Forderung zurück, weshalb auch die Verhandlung abgesagt wurde. Somit bleibt der Mietzins bei 2200 Franken pro Monat. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. «Vielleicht hat ihm sein Anwalt davon abgeraten, weil er sowieso schon zu hohe Mieten verlangt», mutmasst Riklin. Sie wisse von anderen Parteien im Haus, dass die einen noch mehr für die gleich grosse Wohnung bezahlen, andere hingegen nur die Hälfte ihres Mietzinses. Dazu äussern will sich der Hauseigentümer nicht – Anfragen von Tsüri.ch lässt er unbeantwortet.

«Zieht man den Fall weiter vor das Mietgericht, muss man tief in die Tasche greifen.»

Walter Angst vom Mieterinnen- und Mieterverband

Dass kurz vor dem Termin an der Schlichtungsbehörde eine Partei einlenkt oder man sich einig wird, komme regelmässig vor, schreibt der Medienverantwortliche Patrick Strub. Genaue Zahlen kann er nicht nennen, eine Statistik gibt es seinen Aussagen zufolge nicht. Für die entstandenen Kosten aufkommen müsse niemand. Dies schreibe das Gesetz vor. Trotz des Risikos, Bearbeitungsgebühren nicht verrechnen zu können, spricht Strub von einem «Erfolgsmodell». Denn: Nur selten würden Fälle ans Mietgericht weitergezogen. 

Auch Walter Angst vom Mieterinnen- und Mieterverband befürwortet das Modell der Schlichtungsbehörde. Dank des einfachen Verfahrens sei die Hürde für Mieter:innen relativ niedrig, um sich gegen mutmassliche Gesetzesverstösse zu wehren. Doch er äussert auch Kritik: «Wenn man mit dem Vergleich der Schlichtungsstelle nicht einverstanden ist und den Fall deshalb weiter vor das Mietgericht zieht, muss man tief in die Tasche greifen.» Er nennt Kosten im höheren vierstelligen Bereich. Angst fordert deshalb, dass auch die erste Gerichtsinstanz, das Mietgericht, kostenfrei werden soll – so wie es die Zivilprozessordnung unter anderem für das Arbeitsrecht vorsieht. Während einige Schweizer Kantone dies bereits eingeführt haben, wurde eine entsprechende Vorlage im Jahr 2012 von der kantonalen Stimmbevölkerung deutlich abgelehnt. 

«Mein gutes Recht»

Dass es trotz der Erschwerungen immer wieder Mieter:innen gibt, die keine Kosten und Mühen scheuen, zeigt auch das Beispiel des Brunauparks. Seit 2019 verhindern mehrere Klagen den Abriss und Neubau der Überbauung der Credit Suisse Pensionskasse. Fünf Jahre mussten vergehen, bis das entscheidende Urteil gefällt wurde: Erst vor wenigen Wochen hat das Zürcher Verwaltungsgericht die Bewilligung für das Bauprojekt aufgehoben. Zwar kann die CS das Urteil ans Bundesgericht ziehen, doch vorerst können die noch verbliebenen 240 Mieter:innen aufatmen.

Im Fall von Simone Riklin hat sich der Widerstand langfristig ausgezahlt. Auch wenn sie befürchten muss, dass ihr Vermieter nicht mehr gut auf sie zu sprechen ist. «Ich bezahle einen vereinbarten Mietzins, um diese Wohnung zu nutzen. Es ist mein gutes Recht, mich dagegen zu wehren, wenn dieser nicht gesetzeskonform erhöht wird.»

In Bezug auf Mietzinserhöhungen werden die Schlichtungsbehörden wohl bald wieder weniger zu tun haben. Nach der Erhöhung des Referenzzinssatzes im vergangenen Dezember auf 1,75 Prozentpunkte wird es Ökonom:innen zufolge im laufenden Jahr zu keinem Anstieg mehr kommen.

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