Winterrede Marcel Hänggi: «Wir müssen uns die Freiheit nehmen, uns das Leben besser einzurichten» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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25. Januar 2023 um 16:00

Winterrede Marcel Hänggi: «Wir müssen uns die Freiheit nehmen, uns das Leben besser einzurichten»

Es ist wieder soweit: Das Debattierhaus Karl der Grosse lädt zur alljährlichen Ausgabe der «Winterreden» ein. Verstummt der Glockenschlag des Grossmünsters um 18 Uhr, beginnt vom 16. bis 27. Januar 2023 eine Winterrede. Jeweils eine Persönlichkeit aus Politik, Kultur oder Kunst spricht aus dem Erkerfenster des Karls. Du hast die Winterrede verpasst? Bei uns kannst du sie nachlesen!

Marcel Hänggi an der Winterrede im Erkerfenster vom «Karl der Grosse» (Foto: Alexandra Li)

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,

Ich habe schon viele Vorträge gehalten, aber noch keine Rede so von oben herab wie aus diesem Erkerfenster. Da bin ich fast versucht, Hallelujah! zu rufen. Wenn ich als katholisch sozialisierter Zürcher mit konfessionellem Migrationshintergrund auch gar nicht sicher bin, ob man dieses Wort mit Blick auf die Gründungskirche der Zürcher Reformation überhaupt sagen darf.

Aber egal: Heute sagt man eh nicht mehr «Hallelujah», sondern «Durchbruch!», und von einem Durchbruch will ich ausgehen. Ich will über Energie sprechen. Wir haben ja viel über Energie gesprochen in den letzten Monaten; vor allem davon, dass sie knapp sei oder eigentlich eher: knapp zu werden drohe. Ausserdem wissen wir, dass die Art, wie wir Energie produzieren, unsere Lebensgrundlagen zerstört und das Geld, das wir dafür ausgeben, Kriege finanziert. Und da ertönte nun eben kurz vor Weihnachten dieses «Hallelujah»: «Durchbruch in der Kernfusion», lautete die Meldung aus den USA. Ich will Ihnen jetzt keinen Vortrag über Kernfusion halten, aber was mich daran interessiert, ist der damit verbundene Hallelujah-Traum: der Traum von billiger, niemals knapper, sauberer Energie, die all unsere Probleme löst. Zur Kernfusion nur soviel: Wenn man kleine Atomkerne fusioniert, wird Energie frei, genau wie wenn man grosse Atomkerne – also relativ grosse, gedacht in atomarer Grössenordnung – spaltet: Es wird Energie frei. Nur dass die Fusion gegenüber der Spaltung ein paar Vorteile hat:

  1. Das Ausgangsmaterial ist sehr billig zu gewinnen und fast unerschöpflich verfügbar;
  2. das Unfallrisiko ist sehr viel kleiner, und
  3. es fallen viel weniger und weniger gefährliche radioaktive Abfälle an.

Einen Nachteil hat sie aber auch: Man kann sie bis heute nicht nutzen.Als man in den 1950er Jahren daran zu forschen begann, schrieb eine deutsche Zeitschrift: In zwei Jahren sind wir so weit! In Texten aus den 1970er Jahren hiess es dann: in zwanzig Jahren! Und bis vor kurzem: in fünfzig! Wenn das so weitergeht, wird es in hundert Jahren noch hundert Jahre dauern.

Aber eben: Jetzt gab es da diesen Durchbruch. Zum ersten Mal gelang es, aus einer Fusion im Labor mehr Energie zu gewinnen, als man hatte reinstecken müssen, um die Fusion überhaupt auszulösen. Die deutsche Wissenschaftsministerin sagte darauf, sie wolle, dass in zehn Jahren das erste deutsche Fusionskraftwerk am Netz sei. Und es gab auch schon die Schlaumeier, die fanden, jetzt könne man aufhören mit Klimaschutz, die Fusion werde alles lösen.Das wird sie nicht. Denn erstens ist auch heute noch vollkommen ungewiss, ob das, was in einem Labor gelang, sich in ein funktionierendes Kraftwerk übertragen lässt. Die deutsche Bundes-Wissenschaftsministerin hat wohl nicht mit ihren Leuten gesprochen. Oder nur mit solchen, die sich von ihr Forschungsgelder erhoffen.

Zweitens, das muss man einfach immer wieder sagen, auch wenn es nie ankommt: In der Klimakrise geht es nicht darum, dass wir mehr saubere Energie haben, sondern dass wir aufhören, die dreckige zu verbrauchen. Und das Verbrennen von Öl, Gas und Kohle hört eben nicht einfach auf, nur weil man saubere Alternativen hat.

Aber wie gesagt: Mich interessiert hier der Traum. Nehmen wir mal an, die Verheissung der Fusionsfreundinnen und Fusionsfreunde könnte Realität werden: saubere, billige, unerschöpfliche Energie. Wäre das überhaupt wünschbar?

Ich bin mir da nicht so sicher. Lassen Sie mich statt einer Zukunfts- eine alte Geschichte erzählen. Eine Geschichte einer perfekten sauberen Energierevolution, die im 18. Jahrhundert tatsächlich stattgefunden hat. Nämlich bei den Indianern.

Ich sage absichtlich «Indianer» und nicht etwa «First Nations», weil ich in Ihren Köpfen Bilder wachrufen will, die sie mit diesem Wort vermutlich verbinden – Bilder aus Karl-May-Romanen, Wildwest-Filmen und so weiter.Woran denken Sie?

  1. Vermutlich an Federschmuck – Ausdruck mächtiger Häuptlinge.
  2. Vermutlich ans Tipi – dieses indianische Wort, das für die nomadische Lebensweise steht.
  3. Vielleicht an ein weiteres indianisches Wort, den Tomahawk, und an rot geschminkte Gesichter –Symbole einer kriegerischen Kultur.
  4. Wahrscheinlich an die Büffeljagd.
  5. Und vielleicht kennen Sie den Film Little Big Man mit Dustin Hoffmann, in dem die Hauptfigur, als sie nach langer Zeit nach Hause kommt, nebst seiner Frau auch noch deren drei Schwestern begatten muss – wonach er seine persönliche Energiekrise hat –: Ausdruck von Polygamie. Diese Kultur, die ich da so grob skizziert habe, hat es in dieser Bilderbuchform natürlich nicht gegeben, aber doch so ähnlich in den grossen Prärien Nordamerikas: Es waren die Cheyenne, die Sioux oder die Apachen.

Diese Kultur war das Resultat einer Energierevolution: einer Energierevolution von der Art, wie sie sich viele heute erträumen. Diese Kulturen erschlossen sich eine neue, erneuerbare, praktisch unbegrenzt verfügbare Energiequelle. Den Anstoss dazu gab ein Energiekonverter, den die europäischen Siedler mitgebracht hatten: das Pferd. Es machte eine Energie nutzbar die für die Menschen bisher nicht nutzbar gewesen war: die Biomasse des Präriegrases. Die genannten Kulturen lebten vor der Ankunft des Pferdes nicht in der Prärie, sondern an deren Rand. Sie waren sesshaft, betrieben Gartenbau und jagten ein wenig, vor allem Kleintiere. Die Hierarchien waren flach, Kriege gab es kaum. Ab und zu jagte man einen Büffel. Das war ein Gemeinschaftsunternehmen aller Männer eines Dorfs, denn Büffel waren zu schnell, um ihnen nachzurennen, also musste man sie einkreisen und auf eine Falle zutreiben. Danach verarbeitete die Frauen das Fleisch, das Fell und die Sehnen des erlegten Tiers. Frauen und Männer hatten verschiedene Aufgaben, aber es gab kein grosses Machtgefälle zwischen den Geschlechtern.

Dann kam das Pferd.

An der Winterrede vom Dienstag, 24. Januar im «Karl der Grosse» (Foto: Alexandra Li)

Das Pferd wandelt Energie im Gras in kinetische Energie – vulgo Bewegung – um. Nun konnte plötzlich ein einzelner Jäger mehrere Büffel pro Tag jagen. Die Kulturen gaben die Sesshaftigkeit auf und zogen den Büffelherden nach (deren Ausrottung drohte noch nicht – erst im 19. Jahrhundert rotteten die Weissen die Büffel gezielt aus, um den First Nations ihre Lebensgrundlage zu nehmen: ein Ökozid zum Zweck eines Genozids). Die Arbeit der Männer wurde viel leichter, die der Frauen viel schwerer, weil es viel mehr Büffel zu verarbeiten gab. Wer das beste Pferd hatte, gewann an Ansehen und Macht. Pferderaub kam auf, auch Frauenraub, denn wer viel jagte, brauchte viele Frauen. Die Kulturen wurden kriegerisch, hierarchisch, patriarchalisch.

Die perfekte saubere Energierevolution hatte Auswirkungen auf die Gesellschaft, die man sich nicht unbedingt wünscht.

Wir leben heute bezüglich Energieverbrauch auf sehr viel höherem Niveau als die Prärieindianer nach der Ankunft des Pferdes. Auch bei uns ist das Fortbewegungsmittel Prestigeobjekt, dem wir sehr viel opfern – aber während ein Reiter über sieben mal so viel Leistung gebietet wie eine Fussgängerin, ist das Leistungs- oder Machtgefälle zwischen Auto und Mensch heute weit mehr als das Hundertfache.

Wenn man in der Energiedebatte nur über Kilowattstunden und CO2-Emissionen spricht, geht etwas Wichtiges vergessen: Wie viel Energie tut einer Gesellschaft überhaupt gut? Energie bewirkt etwas in einer Gesellschaft, und das ist zunächst unabhängig davon, ob diese Energie «sauber» bereitgestellt wurde oder nicht.

Ich weiss nicht, ob das Auto, das vor Weihnachten am Escher-Wyss-Platz ein Kind tötete, mit Benzin oder Elektromotor, und falls letzteres, mit Solar- oder Atomstrom fuhr. Es ist egal. Das Kind ist tot.

Nun denken Sie vielleicht, liebe Zuhörerinnen, liebe Zuhörer, jetzt beginnt der mit «Hallelujah», nur um uns eine Geschichte zu erzählen, die einem noch die letzte Hoffnung auf eine schnelle Lösung unserer Probleme vergällt.

Aber vielleicht ist die Geschichte, die ich erzählt habe, ja auch eine positive. Denn wenn die Prärieindianer sich von einer sesshaften, friedlichen Gartenbaukultur in eine kriegerische und hierarchische Jägerkultur verwandeln konnten, müsste das doch auch umgekehrt möglich sein. (Und falls jetzt jemand denkt: Aber man kann das Rad der Geschichte nichtzurückdrehen! dann entgegne ich: Es gibt kein Rad der Geschichte, das wie auf einer Schiene seinen Weg abspult.) Ich habe ein etwas unterkomplexes Bild indigener Kulturen Nordamerikas gezeichnet. Ein wesentlich komplexeres und realitätsnäheres Bild zeichnen David Graeber und David Wengrow in ihrem grossartigen Buch The Dawn of Everything (deutsch: Anfänge). Sie zeigen, dass es in Amerika vor dem Genozid der Weissen an den indigenen Bevölkerungen Kulturen gab, die sich von egalitären Gesellschaften in autoritäre, bürokratisch geführte Systeme wandelten – aber dass das Umgekehrte ebenso häufig vorkam. Es gab sogar Gesellschaften, die wechselten saisonal zwischen autoritär und anarchistisch. Und es gab in Amerika hochentwickelte Demokratien – zu einer Zeit, als das in Europa unvorstellbar war.

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer

Wir leben in einer schweren Krise. 2022 war in der Schweiz das wärmste Jahr seit Messbeginn. Allein im letzten Sommer verloren die Schweizer Gletscher ein Fünfzehntel ihres Volumens, drei Kubikkilometer Eis. In den letzten achtzig Jahren sind sie um die Hälfte geschrumpft. Weltweit waren alle Jahre seit 2015 wärmer als das wärmste Jahr, das zuvor je gemessen wurde. Was für mich als junger Mensch ein aussergewöhnliche warmes Jahr war, war kühler als das kühlste Jahr, das meine gerade erwachsen gewordene Tochter je erlebt hat.

Wir müssen ganz dringend und so schnell wie möglich aufhören, Erdöl, Erdgas und Kohle zu verbrennen. Wir brauchen – das ist der vom so genannten Weltklimarat IPCC festgehaltene Konsens der Wissenschaften – «Systemveränderungen in einem Ausmass, wie es sie noch nie gegeben hat». Wir müssen unser Verhältnis zu dem, was wir «Natur» oder «Umwelt» nennen, neu definieren.

Aber – und darauf will ich hinaus: Wenn wir uns vom Glauben lösen, dass ein gutes Leben nur mit einem hohen Energie- und Naturverbrauch möglich sei, dann kann dieses «Müssen» auch eine Befreiung sein. Wenn wir glauben, es genüge, auf eine Wundertechnik zu hoffen, die uns rettet, dann verfehlen wir die Frage, die Kern jeder Politik sein müsste: In was für einer Welt wollen wir leben?

Wir müssen kein Rad der Geschichte zurückdrehen, weil es ein solches Rad sowieso nicht gibt. Aber wir müssen uns die Freiheit nehmen, uns das Leben besser einzurichten.

Es gibt eine naturgesetzliche Notwendigkeit, dass wir aufhören müssen, CO2 zu produzieren, wenn wir weiterleben wollen. Aber es gibt kein Naturgesetz, das es verunmöglicht, mit einem anderen Umgang mit unserer Umwelt besser zu leben.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

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