Architektur-Kolumne: Wie Testzelte und Impfzentren den Blick auf die Stadt verändern - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von ZAS*

Kolumnist:innen

14. Januar 2022 um 23:00

Aktualisiert 04.09.2022

Wie Testzelte und Impfzentren den Blick auf die Stadt verändern

Seit bald zwei Jahren gehen wir anders durch die Stadt. Entdecken neue Orte auf der Suche nach Zertifikaten und Boostern. Draussen, drinnen, in kleinen Shops, Foyers, leerstehenden Gebäuden und Flughäfen. Ein Streifzug durch Zürich.

Die Covid-Testcenter-Boxen gehören seit ein paar Monaten zu unserem Stadtbild.

Text: Von ZAS*

Websites und Apps führen uns zu den Test- und Impfzentren. Diese neuen Infrastrukturen haben sich ihre Nischen gesucht. Raumbedarf, rechtliche Rahmenbedingungen und ökonomische Anreize definieren ihre Standorte. Durch ihre Existenz erfahren wir von den potentiellen Freiräumen der Stadt. Wir landen an ungewohnten Orten, damit wir die uns vertrauten wieder betreten dürfen. Mit genügend Abstand stehen wir dann in der Schlange und suchen unsere Smartphones hervor, um irgendeinen QR-Code vorzuweisen, der uns Zutritt verschafft. Wartend beginnen wir unsere Umgebung zu betrachten. 

«Wirklich top! Ich bin begeistert!»

Am Sonntag auf dem Weg zur Sauna am See, neu nur noch mit 2G+. Eigentlich kein Problem, denn Testzelte finden sich ja an jeder Ecke. Doch wenn sie dann wirklich einmal gebraucht werden, sind sie gar nicht so einfach zu finden. Ich steig aus dem Tram am Bellevue, starte meine Suche in Richtung Stadelhofen. Nichts. Über die Brücke zum Bürkliplatz. Auch nichts. Nun Richtung HB, der Limmat entlang. Beim Abgang ins Shopville endlich die erste offene Apotheke – doch Walk-in-Tests werden nicht angeboten. Ohne Internet scheinen sich diese Orte nicht zeigen zu wollen. Nun, Google Maps führt mich ans Ziel: direkt beim Sihlquai am Busbahnhof ist eines offen. «Von Security über Empfang und Gesundheitspersonal, alle wahnsinnig freundlich und gut gelaunt! Da kommt man gerne zum Testen, wirklich top! Ich bin begeistert!», schreibt Melanie in den Reviews. Und ich bin es auch. 

«Sie entscheiden selbst, wann Sie gehen»

Ich steh am Max-Frisch-Platz, am Rande des Entwicklungsgebiets Oerlikon Nord. Ich folge den labyrinthischen Markierungen am Boden und betrete eine improvisierte Rampe, die diagonal vom Platz weg führt. «Nur mit Termin», steht da. Die üblichen Kontrollen, und schon stehe ich in der Schlange. Drinnen bin ich umgeben von Betonskelett und Backsteinmauerwerk. Ein Ausbildungszentrum, welches vor kurzem noch genutzt wurde und bald verschwinden wird. Nun, so alt ist das gar nicht.1982 von J. Schader gebaut und als «guter Bau» ausgezeichnet, entnehme ich einer Plakette am Gebäude. Nach dem Boostern setze ich mich auf einen der Stühle in der sonst leeren Halle. Ein gutes Gebäude, denk ich mir. «Sie entscheiden selbst, wann Sie gehen». Ich bleib noch ein wenig sitzen.

Ein Eingang, der sich kaum verfehlen lässt.

Der Terrazzo glänzt im Regen

Am Bahnhof angekommen. Der immer offene Supermarkt der Stadt liegt unweit von meiner bevorzugten Testbox. Der Container ist auf Holzkeilen aufgebockt, sitzt im Lot auf dem leicht geneigten Gefälle der feinsäuberlich gestalteten Landschaft vor dem Museum dieses Landes. Der Terrazzo glänzt im Regen. Noch herrscht Znacht-Pause in der Testbox, durch die kleinen Schlitze der geschlossenen Läden dringt ein wenig Licht. Um Punkt 19 Uhr erscheinen die Mitarbeiterinnen an den Kurbeln und öffnen die Rollläden für die Abendschicht. Die Schlange reagiert, Bewegung kommt in die kleine Menschengruppe. Die meisten haben Gepäck dabei, wollen verreisen oder kommen mit Symptomen von einer Reise zurück. Grundnahrungsmittel füllen die Taschen der Wartenden. Kartoffeln, Gemüse, Saftflaschen. Es handelt sich wohl um die vorsorglichen Hamsterkäufe, die Vorbereitung auf die kommenden zehn Tage.

«Hast du genug ANTIKÖRPER?»

Die Stadelhofer Passage. Ich war schon länger nicht mehr hier. Ein toller Ort übrigens. Kleinteilig, verwinkelt, plastisch, roter Backstein, und immer geschäftiges Treiben. Die schmalen Gassen scheinen der Altstadt nachempfunden zu sein. Ein markantes Werk der 80er-Jahre, von Ernst Gisel – weiss der Architekt in mir. An der Ecke vor dem australischen Restaurant rauchen zwei Herren, eine junge Frau verlässt gerade das Nagelstudio. Eigentlich will ich mich hier testen lassen, es muss doch irgendwo ein Zelt haben? Auch andere irren suchend umher, mit konzentriertem Blick aufs Handy. Ich nähere mich dem Ende der Passage, dort wo in einer verglasten Ecke das Reisebüro eingemietet ist. Ja, eine Reise wär mal wieder schön… Ich trete näher, bereit zum Träumen, doch im Schaufenster werden nicht etwa die Antillen beworben, da steht heute nur: «Hast du genug ANTIKÖRPER? Teste es jetzt bei uns…» Entgegen meiner Erwartungen finde ich mich zum Testen im Reisebüro wieder, und treffe hier auf einige der Verirrten. Nach knapp drei Minuten bin ich wieder draussen. Und weiter geht die Reise. 

«Lippenmodellage»

Ein Neubau am Stadtrand bei Stettbach. Ein grosses Treppenhaus, stylish, aber nicht schön. Ich nehme den Lift in den zweiten Stock. Der Empfang der Klinik präsentiert sich wie ein Friseursalon, mit drei jungen Angestellten hinter dem Tresen. Ich werde sofort weitergeleitet und nach fünf Minuten hab ich meine Dosis Impfstoff schon im Arm. Nun 15 Minuten in einem der Lounge-Sessel warten. Von meinem kleinen Plüschhocker aus schaue ich auf ein grosses Dr. House Plakat und frage mich, wie ernst es den Leuten hier eigentlich ist. Auf einem Screen laufen Videoclips mit Infos zu «Lippenmodellage», gefolgt von Werbeclips über Brustvergrösserungen. Mir dämmert’s, ich bin tatsächlich in einer Schönheitsklinik gelandet! Einer der netten Angestellten weist mich darauf hin, dass ich nun gehen darf, wenn ich mich gut fühle. Mein Handy vibriert, der Code zur Impfung ist schon angekommen. Ich verlasse den Neubau am Stadtrand. Ob ich hier wohl je wieder hinkomme?

«HEUTE OFFEN – GRATIS COVID-TESTS»

Der Kebapstand mit hausgemachten Falafel hat nun auch Antigen-Schnelltests im Angebot. Angepriesen wird das alles auf denselben Schildern wie die Speisen, und vor dem Laden steht tatsächlich ein öffentliches Testzentrum. Und nicht weit von hier gibt es auch Orte, an denen neben dem Testen noch Crêpes angeboten werden – man kann sich also die passende kulinarische Beilage zum Test aussuchen. Sogar Tattoos und Testen lassen sich verbinden. Es braucht nur den nötigen Raum für einen kleinen Container. Platz wird dann auf den Parkplätzen vor den Shops gemacht, die sich gerne etwas dazuverdienen wollen. «HEUTE OFFEN – GRATIS COVID-TESTS», steht da geschrieben. 

Nach dem Testen gibt es hier ein Crêpe zur Belohnung.

Eine müde Ablenkung

Im Hintergrund glänzt das Glas, Helikopter, Wägen und weisse Kittel bewegen sich darin und darum herum. Davor steht ein kleines Zelt, weht im Wind, Menschen gehen ein und aus. In unsicheren Zeiten bewährt sich gewöhnlich das Ursprünglichste. Ein neues Haus mit all seiner Finesse und hochstehenden Angeboten, verliert sein Vertrauen schnell, und es werden, wie einst, an der frischen Luft die Zelte aufgeschlagen. Man will sich der Unsicherheit fern halten, denn das Ungewisse und Gefährliche soll bestenfalls ausser Haus bleiben. Das Unkontrollierbare wird in die Welt des Ephemeren verschoben, wird damit zum Zeichen dafür, dass «die Sache» nur vorübergehend sei. Eine müde Ablenkung, denn schon sind nach zwei Jahren die Zelte und Kisten überall in der Stadt verstreut. Sie sind Teil unseres urbanen Mobiliars geworden, akzeptiert als Bestandteil unserer öffentlichen Räume, gleichzeitig aber auch ein wirklich guter Treffpunkt, ein Ort der Erkenntnis und der kollektiven Verantwortung. Impfen, testen, zertifizieren, und so weiter, wir kennen es ja.

«Etwas verirrt steh ich mit meinem Rad in einer Schlange von Autos.»

Zurück auf der Piste

Drive-In Air-Force-Impfzentrum, klingt irgendwie spannend, und im Gegensatz zu den Impfzentren in der Stadt gibt’s online noch viele freie Termine, sogar am gleichen Tag. Ich steige auf mein Fahrrad und radle Richtung Dübendorf. Google Maps führt mich direkt auf den Militärflughafen. Etwas verirrt steh ich da mit meinem Rad, in einer Schlange von Autos, verloren auf der riesigen Asphaltfläche der Start- und Landebahn. Menschen mit gelben Leuchtwesten und roten Taschenlampen, wie man sie vom Flugfeld kennt, schleusen mich durch die verschiedenen Checkpoints und lotsen mich zu meiner Impfung. Zurück auf der Piste starte ich geboostert wieder Richtung Stadt.

Alle reihen sich mit dem Auto für den Booster ein, ausser ich...

Article image for Die Schönheit der Fehlplanung

Bild: Elio Donauer

ZAS* ist ein Zusammenschluss junger Architekt:innen und Stadtbewohner:innen. Unter ihnen kursieren heute verschiedene Versionen darüber, wo, wann und warum dieser Verein gegründet wurde. Dem Zusammenschluss voraus ging eine geteilte Erregung über die kurze Lebensdauer der Gebäude in Zürich. Durch Erzählungen und Aktionen denkt ZAS* die bestehende Stadt weiter und bietet andere Vorstellungen an als jene, die durch normalisierte Prozesse zustande gekommen sind. Um nicht nur Opposition gegenüber den offiziellen Vorschlägen der Stadtplanung zu markieren, werden transformative Gegenvorschläge erarbeitet. Dabei werden imaginative Räume eröffnet und in bestehenden Überlagerungen mögliche Zukünfte lokalisiert. Die Kolumne navigiert mit Ballast auf ein anderes Zürich zu und entspringt einem gemeinsamen Schreibprozess. Zur Kontaktaufnahme schreiben an: [email protected]

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