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Von Jessica Sigerist

Gründerin untamed.love

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26. März 2022 um 06:00

Die Norm der Romantik

Unsere Kolumnistin Jessica Sigerist erzählt, wieso sie in Zukunft des Öfteren: «Ach wie amatonormativ», stöhnen wird und wen sie gerne als Plus-Eins zu Einladungen mitbringt.

Illustration: Artemisia Astolfi

Ich lerne gerne neue Wörter und kürzlich habe ich eines gelernt, das mir sehr gefällt: Amatonormativität. Amatonormativität beschreibt die gesellschaftliche Norm, dass romantische Beziehungen wichtiger und wertvoller sind als andere Beziehungen. Spezifischer sind damit sexuell exklusive, langfristige, romantische Beziehungen gemeint. Was mir daran gefällt ist natürlich nicht die Norm an sich, sondern die Tatsache, dass es ein Wort dafür gibt. In meinem Alltag bin ich schon oft über Amatonormativität gestolpert und habe mich daran gestört, ohne sie benennen zu können. Jetzt kann ich das und macht euch darauf gefasst: Ich werde in Zukunft ganz oft die Augen rollen und: «Ach, wie amatonomativ», stöhnen, wenn mir etwas nicht passt.

Plus-Eins

Zum Beispiel, wenn ich wieder einmal gefragt werde, ob ich in einer Beziehung sei und dann nur Unverständnis ernte, wenn ich freudig von meinen besten Freund:innen erzähle. Oder wenn ich zu einem Anlass ein Plus-Eins mitbringen darf und damit aber weder mein langjähriger Mitbewohner, noch die Spontanbekanntschaft, die ich auf dem Weg zum Fest getroffen habe, gemeint ist. Als Teenagerin wurde ich bedeutend öfter gefragt, ob ich denn bereits einen Freund habe, als wer meine liebsten Menschen seien, um gemeinsam an eine Demo zu gehen. Obwohl gute Demo-Gschpänlis zu haben, für mich damals viel relevanter war. Bereits für Babys gibt es Bodys mit Aufschriften wie «Future Mrs. Gosling» oder «Lock up your daughters». Letzteres ist noch gewürzt mit einer gehörigen Portion Rape Culture. Wer um Himmels Willen will sein Kind so erziehen, dass man andere Kinder zu ihrem Schutz davor einsperren muss? Allgemein finde ich es oft ein bisschen gruselig, wie bereits kleinsten Kindern romantische Absichten unterstellt werden. «Na, die heiraten bestimmt mal!», ist ein durchaus üblicher Spruch von Erwachsenen, wenn sie zwei Kinder unterschiedlichen Geschlechtes zusammen spielen sehen.

«Doch die romantische Norm macht auch vor der queeren Community nicht Halt.» 

Jessica Sigerist

Amatonormativität ist nämlich auch ganz eng verknüpft mit Heteronormativtät. Klar, die ultimative romantische Liebe ist eine heterosexuelle. Queere Menschen, die ihre Sexualität und Liebesbeziehungen ohnehin ausserhalb der gesellschaftlichen Norm leben, wurden und werden strukturell diskriminiert – doch dafür sind sie auch ein Stück weit freier von Konzepten wie Amatonormativität. Queere Menschen waren schon immer Vorreiter:innen für alternative, nicht-monogame Beziehungsformen, Wahlfamilien und Freundschaftsnetzwerke. Doch die romantische Norm macht auch vor der queeren Community nicht Halt.  So inszenieren sich zum Beispiel homosexuelle Paare mit Einfamilienhaus und Hund unter dem Motto: «Eigentlich sind wir genau so wie ihr», die sexuelle Orientierung als einziger Unterschied zur Mehrheitsgesellschaft. Nicht, dass ich etwas gegen Leute mit Einfamilienhaus und Hund hätte. Sie haben halt nur meistens nicht so viel politische Sprengkraft.

In vielen tollen Beziehungen

Die Annahme, dass sich jede Person eine monogame, romantische Liebesbeziehung wünscht oder mit einer solchen das glücklichere Leben hätte, bleibt erhalten. Sie ist eng mit der Vorstellung des «The One», also der einzig richtigen Beziehungsperson verknüpft. Irgendwo da draussen gibt es diese Person, mit der wir uns zusammenfügen können wie zwei Puzzleteile, wie ein Deckel und einen Topf. Disneyfilme, Liebeslieder, Werbungen für Krankenkassen: Sie alle wollen uns verklickern, dass das Finden und Festhalten unseres Seelenverwandten oberstes Lebensziel ist. Denn wenn es diese eine Person gibt, die uns vervollständigt, sind wir ohne sie vor allem eines: unvollständig.

Diese Sichtweise ist diskriminierend gegenüber Leuten, die ohne romantische Liebesbeziehungen leben oder diese weniger stark gewichten. Und sie nimmt uns den Fokus für die wirklich wichtigen Fragen: Wie will ich leben? In welchen Beziehungen teile ich emotionale Nähe, Körperlichkeit oder Finanzen? Mit wem möchte ich gerne Wohnen und bedeutet das, dass wir das Wohnzimmer teilen, den Kühlschrank oder das Bett? Für wen leiste ich Care-Arbeit und wer kümmert sich um mich? Mit wem teile ich Betreuungsarbeit für die Kinder? Welche Beziehungen sind mir wichtig und wie kann ich diese erfüllend leben? 

«Mit einigen habe ich Sex und mit anderen nicht, in einige bin ich verliebt und in andere nicht. Und das ist nicht zwangsläufig immer deckungsgleich.»

Jessica Sigerist

Das nächste Mal, wenn ich gefragt werde, ob ich in einer Beziehung bin, werde ich von meinen besten Freund:innen erzählen. Von meinem Kind und von ganz vielen anderen Menschen in meinem Leben. Mit einigen habe ich Sex und mit anderen nicht, in einige bin ich verliebt und in andere nicht. Und das ist nicht zwangsläufig immer deckungsgleich. Ja, ich bin in ganz vielen tollen Beziehungen. Und wenn das nicht die Antwort ist, die du hören wolltest, weil du eigentlich nur wissen wolltest, ob ich in einer romantischen Liebesbeziehung bin, dann werde ich die Augen rollen und sagen: «Ach, wie amatonomativ.»

(Foto: Elio Donauer)

Jessica Sigerist

Kolumnistin Jessica Sigerist ist Zürich geboren und aufgewachsen. Sie wusste schon früh, woher die Babys kommen. In ihrer Jugend sammelte sie schöne Notizbücher, alte Kinokarten und Zungenküsse. Sie studierte Ethnologie (halbmotiviert) und das Nachtleben Zürichs (intensiv). Nach vielen Jahren in der Sozialen Arbeit hatte sie die Nase voll, nicht vom Sozialen, aber von der Arbeit. Sie packte wenig Dinge und viel Liebe in einen alten Fiat Panda und reiste kreuz und quer durch die Welt. Sie ritt auf einem Yak über das Pamirgebirge, überquerte das kaspische Meer in einem Kargoschiff und blieb im Dschungel von Sierra Leone im Schlamm stecken.

Auf ihren Reisen von Zürich nach Vladivostock, von Tokio nach Isla de Mujeres, von Tanger nach Kapstadt lernte sie, dass alle Menschen eigentlich dasselbe wollen und dass die Welt den Mutigen gehört. Wieder zurück beschloss sie, selbst mutig zu sein und gründete den ersten queer-feministischen Sexshop der Schweiz. Seither beglückt sie Menschen mit Sex Toys und macht lustige Internetvideos zu Analsex, Gleitmittel und Masturbation. Jessica liebt genderneutrale Sex Toys, Sonne auf nackter Haut und die Verbindung von Politik und Sexualität. Sie ist queer und glaubt, dass Liebe grösser wird, wenn man sie teilt. Mit ihrem Partner und ihrem Kind lebt sie in Zürich.

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