Nachwuchsproblem in der Gastro: Lage so «düster» wie noch nie - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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5. Juli 2022 um 04:00

Nachwuchsproblem in der Gastro: Lage so «düster» wie noch nie

Das Gastgewerbe befindet sich in Schieflage: Die Situation an der Lehrstellenfront ist dramatisch, überall mangelt es an Personal. Hanspeter Göldi, Koch und Vorstandsmitglied des Arbeitnehmerverbands Hotel & Gastro Union Region Zürich, im Gespräch über die Hintergründe und warum es weitere Lohnerhöhungen braucht.

Hanspeter Göldi machte als Koch Karriere. (Foto: P.S. Zeitung )

Dieser Text ist bereits auf unserem Partnerportal P.S. erschienen. Die P.S. Zeitung gehört wie Tsüri.ch zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz und ist die linke Zürcher Zeitung.

Zur Person

Hanspeter Göldi (62) ist in Wald im Zürcher Oberland aufgewachsen und wohnt seit 27 Jahren mit seiner Frau und seinen beiden erwachsenen Kindern in Meilen. Nach der Kochlehre und einem Abstecher in die Luxushotellerie war er vor allem in diversen Spitälern und Institutionen als Koch und Küchenchef tätig. So etwa auch in der Klinik Hohenegg in Meilen oder als Leiter Küche und Restaurant in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychia­trie und Psychotherapie in Zürich. Göldi ist Vorstandsmitglied des Berufs- und Angestelltenverbands Hotel & Gastro Union Region Zürich und vertritt die Arbeitnehmer:innen als Vizepräsident im Leitungsgremium der Hotel & Gastro formation Zürich in Wädenswil, einem praxisorientierten Ausbildungszentrum für Lernende des Gastgewerbes. Seit 2011 politisiert Göldi als SP-Vertreter im Kantonsrat und seit 2018 gehört er als Sozialvorstand dem Meilemer Gemeinderat an.

Arthur Schäppi: Hanspeter Göldi, Sie verfügen über mehr als 40 Jahre Berufserfahrung als Koch, Küchenchef und Berufsbildner. Wenn Sie nun privat zum Essen in ein Restaurant gehen – wie können Wirt:in, Küchen- und Servicepersonal Sie als Gast begeistern?

Hanspeter Göldi: Indem man mich zum Beispiel mit einem feinen Tageshit oder einem mir bisher unbekannten Gericht überrascht oder mir etwa Kalbsleberli oder je nach Saison frische Spargeln oder ein Wildgericht empfiehlt. Und wenn die Küchencrew und ihre Arbeit ein Stück weit auch erleb- und sichtbar sind. Natürlich sollte auch die Atmosphäre stimmen. In einer Dorfbeiz darf es für mich ruhig etwas lebendig zu und her gehen, in einem Café aber möchte ich vielleicht lieber ungestört mit jemandem ein Gespräch führen.

Und was kann Ihnen Laune und Appetit verderben?

Wenn das Servicepersonal zum Beispiel gelangweilt herumsteht und mich buchstäblich sitzen lässt, statt mich erst einmal freundlich willkommen zu heissen und sich nach meinen Wünschen zu erkundigen. Da geht es mir wohl nicht viel anders als den meisten Gästen. 

Nach einer langen Berufskarriere haben Sie vor drei Jahren im Alter von 59 Jahren gewissermassen die Kochkelle abgegeben und Ihren Job als Leiter Küche und Restaurant einer Klinik aufgegeben. Weil die Gastrobranche heute buchstäblich zum Davonlaufen ist?

Keineswegs. Mein Weggang hat mir im Gegenteil auch weh getan. Ich war damals schon für die SP im Zürcher Kantonsrat und wurde 2018 in den Gemeinderat Meilen gewählt. Wegen der Dreifachbelastung hätte ich damals meinen Job gerne auf ein 60-Prozent-Pensum reduziert, was mir aber als Küchenchef nicht zugestanden wurde. So entschloss ich mich nach einem erfüllten Berufsleben in der Küche, mich nunmehr auf die politische Tätigkeit zu konzentrieren. Als Vorstandsmitglied der Region Zürich der Hotel & Gastro Union, dem Arbeitnehmerverband des Gastgewerbes, bin ich noch immer eng mit der Branche verbunden. 

Und auch als Vizepräsident der Hotel & Gastro formation Zürich in Wädenswil, wo die Lernenden des Gastgewerbes im Kanton Zürich in Profiküchen oder etwa in komplett ausgestatteten Hotelzimmern ergänzend zu ihrem Berufsalltag in überbetrieblichen Kursen zu Profis ausgebildet werden. 

«Im Kanton Zürich sind per Ende Juni 139 Lehrstellen für Köchinnen oder Köche noch unbesetzt.»

Hanspeter Göldi

Fakt ist, dass viele Hotels und Restaurants und andere Verpflegungseinrichtungen schon länger unter akutem Personalmangel leiden und teilweise sogar schliessen müssen, weil immer mehr Fach- und Hilfskräfte abwandern. Und auch, weil junge Leute kaum mehr Koch oder Köchin, Hotel- oder Serviceangestellte werden wollen. 

Die Situation ist tatsächlich besorgniserregend. Die Branche litt schon lange vor Corona unter Personalmangel. Mit der Pandemie aber hat sich dies dramatisch verschärft. Manche Angestellte haben dem Gastgewerbe den Rücken gekehrt oder auch die Stelle verloren und verdienen ihren Lebensunterhalt mittlerweile in anderen Branchen mit vielleicht regelmässigeren Arbeitszeiten und grösserer Arbeitsplatzsicherheit. Sie kommen auch kaum mehr zurück.

Und wie sieht es bei der Nachwuchsrekrutierung aus?

So düster wie ich es vorher noch nie gesehen habe. Im Kanton Zürich sind per Ende Juni 139 Lehrstellen für Köchinnen oder Köche noch unbesetzt und 30 für die zweijährige Ausbildung zu Küchenangestellten mit Berufsattest sind ebenfalls noch offen. Gesucht werden zudem noch 93 Schulabgänger:innen, die sich zu Restaurationsfachleuten ausbilden lassen wollen und 23 für den Beruf Hotelfachmann:frau. Grössere Schwankungen bei der Lehrstellenbesetzung hat es zwar schon immer gegeben und die Zeiten, als zumal renommierte Gastrobetriebe unter Dutzenden von Schulabgänger:innen auswählen konnten, liegen noch gar nicht so lange zurück. Erstmals bekunden nun aber selbst Lehrbetriebe wie Dolder Grand, Schweizerhof und Storchen in Zürich extrem Mühe zu haben, Lernende zu finden.

Kein Wunder, die Branche ist für vergleichsweise bescheidene Löhne und nicht eben fortschrittliche Arbeitsbedingungen bekannt.

Bei den Verhandlungen mit den Arbeitgeberverbänden, also GastroSuisse, CafétierSuisse und HotellerieSuisse über den
Gesamtarbeitsvertrag haben wir von Gastro Union Schweiz zusammen mit der Unia und Syna immerhin erreicht, dass für das ausgebildete Personal ab dem Jahr 2023 nebst dem Teuerungsausgleich auch über praktisch alle Lohnstufen hinweg noch eine Reallohnerhöhung von 40 Franken pro Monat herausschaut. Damit haben wir für den Moment wenigstens eine
einigermassen akzeptable Kompromisslösung gefunden. Auch wenn ich sehr bedaure, dass wir für die ungelernten Hilfskräfte keine Reallohnerhöhung durchsetzen konnten. 

Teuerungsausgleich und 40 Franken Reallohnerhöhung machen den sprichwörtlichen Braten aber wohl auch noch nicht feiss und lösen die Personalnot kaum.

Ja, das allein genügt sicher nicht. Will das Gastgewerbe aus der Personalnot herauskommen, sind auch in den nachfolgenden Jahren weitere Reallohnerhöhungen auf allen Ebenen absolut zwingend. Heute verdient ein Koch oder eine Köchin mit dreijähriger Berufslehre und eidgenössischem Fähigkeitszeugnis mindestens 4203 Franken, mit zusätzlicher höherer Prüfung mindestens 4920 Franken. Die Lohnentwicklung nach oben ist dabei aber grundsätzlich offen. Und es gibt bereits heute einige sehr gut bezahlte Stellen. Als Küchenchef kann man zwischen 7500 bis 10'000 Franken verdienen. Dabei handelt es sich aber nicht um im Gesamtarbeitsvertrag festgelegte Saläre.

Sind Wirt:innen, Hoteliers und Hotelières angesichts des ausgetrockneten Personalmarktes denn jetzt nicht automatisch gezwungen, höhere Löhne als zwischen den Sozialpartner:innen vereinbart zu bezahlen?

Doch, davon kann man grundsätzlich ausgehen. Und der Fachkräftemangel hat uns bei den Lohnverhandlungen auch geholfen. Und er erleichtert es nun jedem einzelnen Berufsmann und jeder Berufsfrau, einen individuell darüber hinausgehenden Lohn auszuhandeln. Dabei werden wir von Hotel & Gastro Union unsere Mitglieder auch beraten und unterstützen. Es gibt aber auch schwarze Schafe unter den Arbeitgeber:innen, die laufend neue, billige Hilfskräfte einstellen, statt anständige Löhne zu zahlen, um das Personal zu halten. Doch diese Strategie ist weder fair noch nachhaltig.

Was haben die Arbeitnehmer:innenvertreter:innen bei den Verhandlungen mit den Sozialpartner:innen sonst noch erreicht?

Beispielsweise, dass die Aus- und Weiterbildung auch über 2023 hinaus für die Angestellten kostenlos bleibt und durch die Sozialpartner:innen gemeinsam finanziert wird. Dringlich sind aber auch Verbesserungen, die nicht im Gesamtarbeitsvertrag geregelt, aber gleichwohl sofort umsetzbar sind.

Zum Beispiel?

Unregelmässige Arbeitszeiten werden sich zwar im Gastgewerbe nie ganz eliminieren lassen. Zimmerstunden, Wochenend- und Abendarbeit aber lassen sich häufig mit einem Überdenken der Arbeitsprozesse und modernen Arbeitszeitmodellen minimieren und vor allem auch für alle Beteiligten verbindlich vorausplanen. Was letztlich auch einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie und von Arbeit und Freizeit dient und massgeblich für das Wohlbefinden der Mitarbeiter:innen ist und ihren Job attraktiver macht. 

Ein Problem ist offenbar auch die mangelnde Wertschätzung gegenüber den Mitarbeiter:innen. Deshalb hat GastroSuisse nun letzthin verlauten lassen, dass man die Vorgesetzten diesbezüglich besser schulen will.

Das ist bislang vor allem eine weitere Absichtserklärung, wie wir sie von Arbeitgeberseite in diesem Zusammenhang immer mal wieder hören.

Geschehen ist aber bislang herzlich wenig. Viel wichtiger ist aus meiner Sicht ohnehin, dass etwa Küchenchef:innen oder der Chef oder die Chefin de Service und andere Berufsbildner:innen genügend Zeit für den persönlichen Umgang und die Förderung von Mitarbeiter:innen und speziell der Auszubildenden erhalten und nicht selber gestresst und überfordert sind. Das wirkt sich auch positiv auf das Arbeitsklima und die gegenseitige Wertschätzung aus. Damit Vorgesetzte den Laden gerade auch in hektischen Zeiten im Griff haben, sind klare Anweisungen an das Personal an sich nichts Aussergewöhnliches – allerdings in der heutigen Zeit aber gerade für jüngere Mitarbeiter:innen oft etwas gewöhnungsbedürftig. Gerade deshalb aber sind ein guter Umgangston und gegenseitiger Respekt erst recht wichtig.

«Mit einer guten Ausbildung steht einem auch heute noch die Welt offen.»

Hanspeter Göldi

Angesichts der akuten Personalnot zahlen manche Arbeitgeber:innen stolze Vermittlungsprämien oder bilden – wie etwa Gastro-Unternehmer Michel Péclard – Hilfskräfte in firmeninternen Kochschulen aus. Was halten Sie davon?

Vermittlungsprämien mögen einem Betrieb kurzfristig aus der Patsche helfen, tragen aber nichts zur Lösung des Personalproblems der Branche bei. Vielmehr besteht die Gefahr, dass ein:e Wirt:in oder ein:e Hotelier:ère damit bloss einem:einer Berufskolleg:in das Personal abwirbt. Und firmeninterne Kochschulen für Hilfskräfte sind meines Erachtens der falsche Ansatz, weil sie bloss den jeweiligen Betrieben helfen, der Branche aber schaden. Um die hohen und wechselnden Herausforderungen bewältigen zu können, braucht unser Gewerbe unbedingt flexi­ble Arbeitskräfte mit einer breiten Grundausbildung. Namentlich ältere Hilfskräfte mit bloss betriebsspezifischer Ausbildung sind in einer Krise dann oft die Ersten, die auf der Strasse stehen und kaum mehr eine Anstellung finden.

Hand aufs Herz: Würden Sie heute nochmals ins Gastgwerbe einsteigen und eine Kochlehre absolvieren? 

Unbedingt. Das Gastro-Métier ist und bleibt eine faszinierende Branche. Mit einer guten Ausbildung steht einem auch heute noch die Welt offen. Aber auch in der Schweiz hat man durchaus gute berufliche Perspektiven, wenn die erwähnten Verbesserungen umgesetzt werden. Die Berufe sind eher anspruchsvoller geworden und anders als zu meiner Stifti-Zeit kann man heute auch eine Berufsmatura ablegen. Und nach einer Kochlehre stehen einem auch diverse verwandte Berufe offen. Etwa in der Entwicklung oder dem Verkauf von Lebensmitteln oder als Lebensmittelinspektor:in.

Als Küchenchef:in muss man sich heute beispielsweise auch bezüglich veganer Verpflegung auskennen und über Unverträglichkeiten von Allergiker:innen Bescheid wissen. Wichtig sind zudem eine gute Personalplanung und Personalführung. Auch hat der Kontakt zu Gäst:innen und Produzent:innen an Bedeutung gewonnen. Das setzt auch kommunikative Fähigkeiten voraus. 

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