Kolumne: «Menschen mit Kindern haben alle Café-Zeit der Welt verdient» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Jessica Sigerist

Gründerin untamed.love

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11. März 2023 um 06:00

«Kinder nervig zu finden, ist antifeministisch»

Unsere Kolumnistin Jessica Sigerist war neulich mit einem mit den Augen rollenden, kinderlosen Menschen in einem Café. Sie findet: «Kinder doof zu finden, weil sie Kinder sind, ist keine ‹coole, edgy› Meinung, sondern einfach nur ageistisch.»

Illustration: Artemisia Astolfi

Kinder sind potenziell nervig. Sie sind laut, wo sie nicht laut sein sollen, rennen herum, wo sie nicht herumrennen sollen und hinterlassen dabei erst noch überall Flecken. Sie haben kaum Kontrolle über ihre Emotionen und wollen ständig irgendetwas. Ich kann es absolut verstehen, wenn man Kinder nervig findet. Ich verbringe gerade ziemlich viel Zeit mit einem, ich muss es wissen. Was ich aber noch nerviger finde als Kinder, sind Erwachsene, die Kinder nervig finden. 

Kürzlich war ich mit einem kinderlosen Menschen, zwecks beruflicher Besprechung, in einem Café. Dort befanden sich auch mehrere Kinder, die laut waren und herumrannten und vermutlich überall Flecken hinterliessen. Der kinderlose Mensch verdrehte ganz oft seine Augen und als ein Kind ziemlich geräuschintensiv einen Holzzug über den Boden schleifte, reichte das nicht mehr: «Ich verstehe es einfach nicht, kann die mit ihrem Kind nicht nach Hause gehen oder nach draussen? Es ist so nervig laut hier!», jammerte er und ich sah mich gezwungen, ihm zwei, drei Sachen zu erklären. 

Zum Beispiel, dass wir uns hier in einem von gefühlt lediglich drei Cafés in Zürich befinden, die eine Kinderspielecke haben. Wir hier herumhängen, weil das Lokal gerade auf unserem Weg lag. Wir könnten unsere Sitzung aber auch in jedem anderen Café dieser Stadt abhalten. Menschen mit Kindern können das nicht. Wenn sie sogar im Kinderspielecke-Café rollende Augen kassieren, wie werden sie sich erst in einem weniger kinderfreundlichen Café fühlen? Aber ja, warum müssen Menschen mit Kindern überhaupt in Cafés? Warum bleiben sie nicht einfach zuhause oder draussen? 

«Alle paar Monate droppt irgend so ein kinderloser Mensch eine Kolumne darüber, wie nervig er Kinder findet.»

Jessica Sigerist

Guter Vorschlag, lieber kinderloser Mensch, aber guess what: Menschen mit Kindern sind unglaublich oft zuhause oder draussen. Morgens um halb acht bei Nieselregen auf dem Spielplatz? Check. Und danach und davor und dazwischen, da brauchen Menschen mit Kindern manchmal Zeit in einem Café. Wo es warm ist und wo es andere Erwachsene gibt und Kaffee. Und im besten Fall auch eine Spielecke für Kinder, damit man kurz seine Ruhe hat, während das Kind einen Holzzug über den Boden schleift.

Diese Ruhe geniesst man am liebsten ohne rollende Augen vom Nebentisch. Menschen mit Kindern haben alle Café-Zeit der Welt verdient. Wir hingehen könnten uns ja das nächste Mal bei dir treffen, kinderloser Mensch, was meinst du? In deinem wunderschönen kinderlosen Zuhause, wo es ruhig ist, aufgeräumt und ganz ohne Bananenreste, die am Sofa kleben. Ich träume manchmal von solchen Orten, ich muss es wissen. 

Keine Kinder zu wollen ist nicht das Gleiche, wie Kinder nicht zu mögen

Meine kinderlose Café-Begleitung fand das alles ganz schön einleuchtend und ich glaube, das nächste Mal gibt es von ihr für Menschen mit Holzzüge schleifenden Kindern kein Augenrollen, sondern ein solidarisches Lächeln. Es gibt allerdings auch Erwachsene, die es sich geradezu zu einem Persönlichkeitsmerkmal gemacht haben, Kinder nervig zu finden. Erwachsene, die keine Gelegenheit auslassen zu betonen, dass sie Kinder nicht mögen und deren Augen bereits im Hinterkopf verschwinden, wenn sie nur schon aus der Ferne ein potenziell nervendes Kind erspähen. 

Alle paar Monate droppt irgend so ein kinderloser Mensch eine Kolumne darüber, wie nervig er Kinder findet. Und wie arm er dran ist, weil jetzt, wo er 30 geworden ist, sein gesamtes Umfeld nur noch über volle Windeln und Breiherstellung spricht und niemand mehr mit ihm in den Ausgang kommt oder über relevante Themen wie Kunst, Politik und das neue Album von AnnenMayKantereit spricht. 

Versteh mich nicht falsch, ich finde es absolut legitim, keine eigenen Kinder zu wollen und einen Lebensentwurf ohne Kinder und ohne Holzzüge und ohne Bananenreste zu wählen. Im Gegenteil, ich halte es für eine der grössten Errungenschaften unserer individualisierten Gesellschaft, dass wir Wahlfreiheit haben und weder zur Reproduktion noch zur Care Arbeit gezwungen werden können. Und ich finde es auch sehr legitim, diese Entscheidung immer wieder zu betonen. Weil ein kinderloser Lebensentwurf, insbesondere bei Menschen mit Uterus, immer noch viel zu wenig Anerkennung bekommt. 

«Wer Kinder ausschliesst, schliesst damit auch die Menschen aus, die mit diesen Kindern unterwegs sind.»

Jessica Sigerist

Aber keine Kinder zu wollen ist nicht das Gleiche, wie Kinder nicht zu mögen. Fakt ist: Bei keiner anderen Bevölkerungsgruppe nehmen wir uns heraus, aufgrund eines nicht selbst gewählten Merkmals so abschätzig über sie zu sprechen wie bei Kindern. Wird eine Gruppe mit wenig gesellschaftlicher Macht von einer privilegierteren Gruppe aufgrund eines demographischen Merkmals in einen Topf geworfen und negativ bewertet, beschreiben wir das in der Regel in einem -ismus. Und ja, so ein Wort gibt es auch, wenn dieses Merkmal das Alter ist: Ageismus. Ageismus bedeutet die Bewertung und Ungleichbehandlung von Menschen aufgrund ihres Lebensalters. Benachteiligt werden dabei in der Regel Jugendliche, ältere Menschen und eben Kinder. Kinder doof zu finden, weil sie Kinder sind, ist also keine «coole, edgy» Meinung, sondern einfach nur ageistisch. 

Wer Kinder ausschliesst, schliesst damit auch die Menschen aus, die mit diesen Kindern unterwegs sind. Und das sind in der Regel, wer hätte das gedacht, Frauen und/oder Menschen mit Uterus. Kinder nervig zu finden ist also nicht nur ageistisch, sondern auch ziemlich antifeministisch. Wer bei der Diskussion um unbezahlte Care-Arbeit ein bisschen aufgepasst hat, sollte wissen, dass volle Windeln politischer sind als alle Songs von AnnenMayKantereit zusammen. 

Ich wünsche mir also mehr Räume, in denen Kinder und Menschen mit Kindern willkommen sind. Und dass bei der Gestaltung dieser Räume Kinder mitgedacht werden. Wenn Kindern Raum für ihre Bedürfnisse zugestanden wird, sind sie nämlich in der Regel erstaunlich «unnervig». 

(Foto: Elio Donauer)

Jessica Sigerist

Kolumnistin Jessica Sigerist ist Zürich geboren und aufgewachsen. Sie wusste schon früh, woher die Babys kommen. In ihrer Jugend sammelte sie schöne Notizbücher, alte Kinokarten und Zungenküsse. Sie studierte Ethnologie (halbmotiviert) und das Nachtleben Zürichs (intensiv). Nach vielen Jahren in der Sozialen Arbeit hatte sie die Nase voll, nicht vom Sozialen, aber von der Arbeit. Sie packte wenig Dinge und viel Liebe in einen alten Fiat Panda und reiste kreuz und quer durch die Welt. Sie ritt auf einem Yak über das Pamirgebirge, überquerte das kaspische Meer in einem Kargoschiff und blieb im Dschungel von Sierra Leone im Schlamm stecken.

Auf ihren Reisen von Zürich nach Vladivostock, von Tokio nach Isla de Mujeres, von Tanger nach Kapstadt lernte sie, dass alle Menschen eigentlich dasselbe wollen und dass die Welt den Mutigen gehört. Wieder zurück beschloss sie, selbst mutig zu sein und gründete den ersten queer-feministischen Sexshop der Schweiz. Seither beglückt sie Menschen mit Sex Toys und macht lustige Internetvideos zu Analsex, Gleitmittel und Masturbation. Jessica liebt genderneutrale Sex Toys, Sonne auf nackter Haut und die Verbindung von Politik und Sexualität. Sie ist queer und glaubt, dass Liebe grösser wird, wenn man sie teilt. Mit einem ihrer Partner und ihrem Kind lebt sie in Zürich.

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