Kolumne: «Ich begegne der Verlustangst mit Verbindungsfreude» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Jessica Sigerist

Gründerin untamed.love

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11. Februar 2023 um 08:00

Die Sache mit der Verlustangst in Beziehungen

Wie kommt man mit der Verlustangst klar, wenn man nicht-monogame Beziehungen lebt? Wenn sie mit ihren Beziehungsmenschen rumhängt und stundenlang Tee trinkt, spürt unsere Kolumnistin Jessica Sigerist eigentlich ziemlich wenig davon.

Illustration: Artemisia Astolfi

Polyamorie, offene Beziehung oder Beziehungsanarchie – es gibt verschiedene Labels für alternative Beziehungsformen. Für mich passt irgendwie keines so richtig. Deshalb bleibe ich meistens dabei zu sagen, nicht-monogam zu leben. Oft werde ich gefragt, wie ich denn in meiner nicht-monogamen Lebensform mit Verlustängsten umgehe. Die Frage, meist von monogam lebenden Menschen, irritiert mich manchmal. Denn eigentlich finde ich ja die Art und Weise, wie ich Beziehungen führe, besonders geeignet, um eben genau keine Verlustängste zu haben. Also zumindest weniger als bei einer monogamen Lebensweise. 

Wenn ich das mit dieser Monogamie richtig verstanden habe (ich habe da ja keine persönliche Erfahrung, aber schon viel davon gehört), dann läuft das da folgendermassen ab: Man ist in einer Beziehung, aber sobald sich eine der beiden Personen in jemand anderen verliebt und oder mit jemand anderem Sex haben möchte, ist man sozusagen dazu gezwungen, Schluss zu machen. Da mir persönlich das wirklich ständig passiert – also ich verliebe mich ständig in jemanden und oder hab ständig Lust mit jemandem Sex zu haben – müsste ich dann ja andauernd Schluss machen oder es würde mit mir Schluss gemacht werden.

Und bei der Monogamie läuft das ja so, dass man, sobald Schluss ist, unter keinen Umständen noch zusammen wohnen, zusammen in den Urlaub fahren oder allgemein zu viel Zeit miteinander verbringen sollte. Die offizielle Regelung, so habe ich gehört, ist, dass man sich einmal im Jahr auf einen verkrampften Kaffee trifft und that’s it. Unter diesen Umständen wäre ich wohl auch von Verlustängsten gebeutelt. Ich würde mal kurz mit meinem neuen Crush rumknutschen und schwupps, verwandelt sich eine enge Beziehungsperson, mit der ich emotionale und körperlich Intimität geteilt habe, in Null Komma Nichts in eine Einmal-pro-Jahr-verkrampft-Kaffee-trinken-Person? Eine schreckliche Vorstellung. 

«Wenn man die Definition von Beziehung nicht so eng sieht, sieht man auch die Definition von Trennung nicht so eng.»

Jessica Sigerist

In meinem Beziehungsmodell, in dem die Grenzen zwischen Freundschaft und Liebesbeziehung verschwinden und verschiedene Beziehungen gleichzeitig existieren dürfen, dünkt mich das alles viel entspannter. Es gibt weniger «Entweder oder» und viel mehr «Sowohl als auch». Es gibt mega fest verknallt sein und trotzdem auch jede zweite Person an der queeren Party abknutschen wollen. Es gibt jahrelang gemeinsam durchs Leben gehen und trotzdem auch das Wochenende mit der neuen Flamme verbringen. Es gibt mir die Möglichkeit, Beziehungen so zu leben, wie es für mich und die daran Beteiligten gerade stimmt, ohne Beziehungen nach einer Checkliste in eine Kategorie einteilen zu müssen. Wir ficken zwar leidenschaftlich gerne, wollen aber unter keinen Umständen zusammen wohnen? Wunderbar. Wir sind beste Freund:innen und küssen uns gerne, haben aber keinen Sex? Geht klar! Wir sehen uns nur einmal im Jahr, weil wir weit auseinander wohnen, halten dazwischen nicht viel Kontakt, sind aber jedes Mal neu verliebt, wenn wir uns treffen? Relationship Goals, würde ich sagen!

«Die serielle Monogamie produziert verkrampfte Kaffee-Treffen am Laufmeter»

Jessica Sigerist

Ausserdem geben mir alternative Beziehungsformen die Möglichkeit, Beziehungen zu transformieren. Wenn man die Definition von Beziehung nicht so eng sieht, sieht man auch die Definition von Trennung nicht so eng. Dass bestimmte Aspekte einer Beziehung wegfallen oder sich verändern, heisst nicht, dass die ganze Beziehung beendet werden muss und man sich nur noch einmal pro Jahr auf einen verkrampften – ihr wisst schon. Wir müssen nicht von der Kategorie «Paar» in die Kategorie «Ex-Paar» springen, wenn wir keinen Bock darauf haben. 

Wenn ich mit einem Beziehungsmenschen entscheide, dass wir nicht mehr zusammen wohnen möchten oder dass Sexualität gerade keine Rolle spielt für uns, müssen wir uns nicht zwangsläufig trennen. Vielleicht wollen wir weiterhin miteinander durchs Leben gehen und andere Formen von körperlicher und emotionaler Intimität teilen. Vielleicht wollen wir uns weder als Liebesbeziehung noch als Freundschaft definieren, weil wir beides sind und doch keines davon passt. Mit einigen meiner Beziehungsmenschen wäre ich wohl nicht mehr zusammen, wenn ich mich irgendwann hätte entscheiden müssen zwischen einer monogamen Beziehung mit ihnen oder gar keiner. Die serielle Monogamie produziert verkrampfte Kaffee-Treffen am Laufmeter. Aber bei uns muss niemand gehen, bloss weil jemand Neues dazu kommt. Wir rücken einfach näher zusammen und setzen noch eine Kanne Tee auf. 

Das heisst natürlich nicht, dass es bei alternativen Beziehungsformen nie zu Trennungen kommt. Zu Beziehungen, die von den Beteiligten nicht auf die gleiche Art und Weise weitergeführt werden wollen. Zu Enden, die sich eine Seite wünscht und die andere Seite fürchtet. Zu Schmerz, Verletzungen und Liebeskummer. Das habe ich alles auch erlebt. Aber ich möchte mein Leben und meine Beziehungsgestaltung nicht von der Angst davor leiten lassen. Ich begegne der Verlustangst mit Verbindungsfreude. 

Ich freue mich, mit den Menschen um mich herum in Verbindung zu sein. Und jedes Mal, wenn ich meine Beziehungsmenschen sehe, weiss ich, dass sie auch mit mir in Verbindung sein wollen. Sie treffen mich nicht, weil man das in einer Beziehung «halt so macht» oder weil sie eine innerliche Checkliste abhaken oder weil ich die weniger schlechte Option eines «Entweder oder» bin. Ich bin in diesem Moment Teil ihres «Sowohl als auch» und das macht mich sehr glücklich. Wenn du mich also fragst, wie ich mit der Verlustangst zurecht komme, kann ich sagen, es läuft ganz gut bei mir. Und bei dir?

(Foto: Elio Donauer)

Jessica Sigerist

Kolumnistin Jessica Sigerist ist Zürich geboren und aufgewachsen. Sie wusste schon früh, woher die Babys kommen. In ihrer Jugend sammelte sie schöne Notizbücher, alte Kinokarten und Zungenküsse. Sie studierte Ethnologie (halbmotiviert) und das Nachtleben Zürichs (intensiv). Nach vielen Jahren in der Sozialen Arbeit hatte sie die Nase voll, nicht vom Sozialen, aber von der Arbeit. Sie packte wenig Dinge und viel Liebe in einen alten Fiat Panda und reiste kreuz und quer durch die Welt. Sie ritt auf einem Yak über das Pamirgebirge, überquerte das kaspische Meer in einem Kargoschiff und blieb im Dschungel von Sierra Leone im Schlamm stecken.

Auf ihren Reisen von Zürich nach Vladivostock, von Tokio nach Isla de Mujeres, von Tanger nach Kapstadt lernte sie, dass alle Menschen eigentlich dasselbe wollen und dass die Welt den Mutigen gehört. Wieder zurück beschloss sie, selbst mutig zu sein und gründete den ersten queer-feministischen Sexshop der Schweiz. Seither beglückt sie Menschen mit Sex Toys und macht lustige Internetvideos zu Analsex, Gleitmittel und Masturbation. Jessica liebt genderneutrale Sex Toys, Sonne auf nackter Haut und die Verbindung von Politik und Sexualität. Sie ist queer und glaubt, dass Liebe grösser wird, wenn man sie teilt. Mit einem ihrer Partner und ihrem Kind lebt sie in Zürich.

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