Architektur-Kolumne: Das kurze Leben der Mythenschlösser - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von ZAS*

Kolumnist:innen

20. Januar 2023 um 15:30

Das kurze Leben der Mythenschlösser

Dank dem Denkmalschutz dürfen geschichtsträchtige Bauten in der Stadt nicht willkürlich abgerissen werden. Es gibt jedoch Ausnahmen, wie ein Beispiel am Mythenquai eindrücklich zeigt. Dabei fragen sich unsere Architekturkolumnist:innen, inwiefern solche Abbrüche einen Mehrwert schaffen.

Das erste Mythenschloss im Jahr 1981. (Foto: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich)


Nostalgie ist «in», heute wie damals beim Bau des alten Mythenschlosses. Das Auto war zwar längst erfunden, aber die Fahrzeuge sahen immer noch aus, als würden sie von Pferden gezogen. Und man baute Fabriken im Stil florentinischer Paläste. Neoklassizismus, Nostalgie vor einem halben Jahrhundert, heute nennen wir es «Post-Moderne». Reaktion auf eine unbewältigte Gegenwart?

So beginnt der Einleitungstext einer Broschüre des Bauunternehmens Steiner zur Einweihung des «neuen» Mythenschlosses im Jahr 1986. Das originale Gebäude aus dem Jahr 1928 wurde komplett abgebrochen und ersetzt durch einen zweigesichtigen Bau – zum See hin eine exakte Replika des alten Hauses, auf der Rückseite ein zeitgenössisches Bürogebäude. 

Vom Zahn der Zeit auf Zeit befreit, zeigt es sich heute in der alten Pracht und Würde, wenigstens auf der Promenadenseite. Dort, wo es den Leuten weniger «ins Auge fällt», gibt es sich zeitgemäss. Neu neben Alt, eine reizvolle Kombination, weil alle Teile wie die Instrumente eines Orchesters aufeinander abgestimmt sind. Steinquader im Kontrast zu Glas und eloxiertem Metall, Masse gegenüber feiner Gliederung, aber Gleichmass in den Proportionen und Harmonie in Material und Farbe. Auch im Innenausbau: die vorwiegend in Marmor gestaltete Eingangshalle erleben wir als Fortsetzung der klassizistischen Fassade. Dieser Eindruck klingt auch nach in allen Liftvorplätzen und wird allmählich verdrängt von neuen und unserer Zeit entsprechenden Elementen; Spannteppich, Metalldecken und Glas, Chromstahl und Computerterminals beherrschen jetzt die Szene. 

Der zweiseitige Ersatzbau im Jahr 1987. (Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Vogt, Jules / Com_FC24-8002-0043 / CC BY-SA 4.0)


Die historische Rekonstruktion geschah nicht nur, weil die Nostalgie damals «in» war – in einem typischen Züri-Deal wurde die Eigentümerin, die Rückversicherungs-Gesellschaft Swiss Re, dazu verpflichtet: Die Denkmalpflege stimmte dem Abbruch nur zu, wenn die seeseitige Fassade nach dem originalen Vorbild rekonstruiert würde. Die Swiss Re nahm die Auflage in Kauf, genauso wie den Ersatz der damals unter dem Wohnerhaltungsgesetz geschützten Wohnungen. So gelang es der Swiss Re, die modernen Büroräume zu schaffen, die sie für die kommende Expansion benötigte – in einem Neubau, welcher bei der Eröffnung sogar für seine «imponierenden Massnahmen zum Schutz der Umwelt» in der NZZ gelobt wurde. 

Weniger als 25 Jahre später nagte der Zahn der Zeit wieder an dem Gebäude – und die Besitzerin wollte den Ersatzbau nochmals ersetzen. Dies aus Gründen der Nachhaltigkeit und zur Schaffung von modernen Arbeitsplätzen, also aus denselben Beweggründen, welche auch bei dem ersten Abbruch angeführt wurden. Dieses Mal sah der Denkmalschutz die Situation anders: Das Mythenschloss als Replika und Werk der Postmoderne habe eine «bescheidene architektonische Qualität» und sei somit nicht schutzwürdig. Die in den Achtzigern von den Behörden vorgeschlagene und geforderte Rekonstruktion eines klassizistischen Baus könne also nicht das leisten, was das Original konnte.

«Es wird in Kauf genommen, dass die grossen Konzerne nach Belieben junge Gebäude abreissen und sich über die Bau- und Zonenordnung hinwegsetzen können.»

ZAS*

Ein im oben zitierten Text angedeuteter Grund für den Ersatz in den 80ern war die Konstruktion einer grossen Parkgarage im Neubau: In vier Untergeschossen konnten 500 Autos untergebracht werden, welche nun im Vergleich zu 1928 das Stadtbild und speziell auch die Situation am Mythenquai dominierten. Doch vor ein paar Jahren sah die Lage am Quai trotz der Garage nicht anders aus: Der grosse offene Parkplatz vor dem Mythenschloss am See war der Stadt ein Dorn im Auge und blockierte die Entwicklung einer durchgängigen, hochwertigen Fussgängerpromenade entlang des Ufers. 

So entsteht also ein weiterer Züri-Deal. Die Swiss Re darf sich über die bestehenden Baugesetze hinwegsetzen, indem sie höher baut und den geforderten Wohnanteil nicht erfüllen muss. Der Stadtrat führt an, dass die Stadt dafür einiges erhält: Die Parkplätze am See werden in die Tiefgarage verschoben, die Wohnungen anderswo im Kreis 2 ersetzt, es gibt ein neues Café im Erdgeschoss und einen finanziellen Beitrag an die Seepromenade. Doch bei dieser Argumentation geht vergessen, dass die Bauherrschaft gesetzlich verpflichtet war, diese Wohnungen zu bauen. Ebenso wurde die Verlegung der Parkplätze schon mit einem früheren Deal ausgemacht, welcher die Parzelle nebenan betrifft – sie war Bedingung für die Bewilligung des neuen «Glaspalastes» der Swiss Re.

Der Ersatz des Mythenschlosses verzögert schlussendlich die Neugestaltung der Seepromenade, weil die Parkplätze nicht im bestehenden Parkhaus untergebracht werden können, sondern darauf gewartet werden muss, bis dieses abgebrochen und neu gebaut ist. 

Abbruch des zweiten Mythenschlosses im Jahr 2020. (Foto: zVg)


In den letzten 40 Jahren hat die Rückversicherung am Mythenquai drei grosse Gebäude abgerissen: Den Hauptsitz aus den 60ern und zweimal das Mythenschloss, 1983 und 2020. Der architektonische Ausdruck der Bauten ist Geschmackssache, doch klar ist, dass jedes der Häuser der Lage entsprechend aufwendig gebaut und jeweils sehr repräsentativ für seine Zeit war. Bei allen Ersatzbauten wurden mit Hilfe von Deals die bestehenden Vorschriften ausgehebelt, höher gebaut und 65 Wohnungen abgebrochen. Im Gegenzug kann die Stadt 140 Parkplätze auf den Campus der Swiss Re umlagern, wo schon vor den neuen Projekten ein Überschuss vorhanden war. Die einzige positive Entwicklung für die Öffentlichkeit – der Bau der neuen Seepromenade – hätte also auch ohne Abbruch und Verspätung stattfinden können. 

Wir sind gespannt, wie die Situation am Mythenquai in 30 Jahren aussieht. Vielleicht wird die Besitzerin die neusten Bauten wieder ersetzen wollen, aus Gründen der Nachhaltigkeit und um «moderne» Arbeitsplätze zu schaffen? Und sind diese Züri-Deals, die den Abbruch von intakten und teilweise geschützten Bauten zulassen, wirklich ein Mittel um Mehrwert für die Stadt zu schaffen, so wie dies die Regierung anpreist?

Was keine:r der Politiker:innen explizit ausspricht: Der wichtigste Teil des oben beschriebenen Züri-Deals war wohl einfach, dass die Swiss Re hunderte Arbeitsplätze von Adliswil in die Stadt bringt. Dafür wird in Kauf genommen, dass die grossen Konzerne in der ersten Reihe des Zürcher Stadtzentrums nach Belieben junge Gebäude abreissen und sich über die Bau- und Zonenordnung hinwegsetzen können. Städtebau als Wirtschaftspolitik.

ZAS* ist ein Zusammenschluss junger Architekt:innen und Stadtbewohner:innen. Unter ihnen kursieren heute verschiedene Versionen darüber, wo, wann und warum dieser Verein gegründet wurde. Dem Zusammenschluss voraus ging eine geteilte Erregung über die kurze Lebensdauer der Gebäude in Zürich. Durch Erzählungen und Aktionen denkt ZAS* die bestehende Stadt weiter und bietet andere Vorstellungen an als jene, die durch normalisierte Prozesse zustande gekommen sind. Um nicht nur Opposition gegenüber den offiziellen Vorschlägen der Stadtplanung zu markieren, werden transformative Gegenvorschläge erarbeitet. Dabei werden imaginative Räume eröffnet und in bestehenden Überlagerungen mögliche Zukünfte lokalisiert. Die Kolumne navigiert mit Ballast auf ein anderes Zürich zu und entspringt einem gemeinsamen Schreibprozess. Zur Kontaktaufnahme schreiben an: [email protected]

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