Architektur-Kolumne: Auf den Spuren der Zürcher Stadtküchen - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von ZAS*

Kolumnist:innen

13. Januar 2024 um 06:00

Die ganze Stadt zu Gast

In der Regel teilen wir unsere Küchen nicht. Dabei würde es aus mehrerlei Hinsicht Sinn machen, den Raum, indem gekocht wird, gemeinschaftlich zu nutzen. Diese Idee ist nicht neu: Viele Jahrzehnte lang betrieb die Stadt Zürich eine öffentliche Stadtküche und verschiedene Speiselokale. Unsere Architektur-Kolumnist:innen begaben sich auf Spurensuche.

In der Zürcher Stadtküche traf man sich zum Essen – aber nicht nur. (Foto: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich)

Vor ein paar Tagen war ich auf dem Heimweg von einem dieser verspäteten Weihnachts-Abendessen. Mein Weg führte durch die Idastrasse im Kreis 3. An der Ecke zur Gertrudstrasse blieb ich vor dem Restaurant «Da Michelangelo» stehen. Es gibt immer mindestens einen Tisch, um den sich eine grosse Gruppe an Menschen zu einem Fest versammelt. Der silberne Schriftzug an der Fassade «Aemtlerhalle» erinnert an den früheren Namen, schon seit über 100 Jahren ist der Ort Schauplatz für kleinere und grössere Feste. Um 1916, in einer Zeit der Wohnungsnot, liess die private Wohn- und Speisehausgenossenschaft das «Amerikanerhaus» nach den Plänen des Architekten Oscar Schwank errichten. Anstatt bloss klassische Wohnungen für Arbeiterfamilien zu vermieten, entstand hier Zürichs Beispiel eines Einküchenhauses.

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Eine Küche für alle

Die Grundidee des Einküchenhauses ist, auf private Küchen in Einzelwohnungen zu verzichten und stattdessen mit einer Zentralküche die Bewohnerschaft zu verpflegen. Die Idee sollte den Arbeiterwohnungsbau reformieren, und nicht nur Kosten durch Gemeinschaftseinrichtungen sowie zentrale Bewirtschaftung einsparen, sondern auch ein alternatives Lebensmodell anbieten. In den geteilten Räumen trifft man sich und tauscht sich aus, eine Nachbarschaft entsteht. Damit wurde nicht nur die Kleinfamilie infrage gestellt, sondern am Anfang der Frauenbewegung die Aufteilung der Hausarbeit hinterfragt.

Das «Amerikanerhaus» an der Idastrasse sollte ursprünglich ein Einküchenhaus werden. (Foto: ZAS*)

An besagtem Abend stellte ich mir vor, wie es wohl gewesen wäre, nach der Feier hochzugehen; in eine der 41 Wohnungen, die in diesem Haus an der Idastrasse geplant waren. Mein Weg führte mich vorbei an der Küche zum gemeinsamen Hof, entlang des breiten Laubengangs mit Rundbögen, die steinerne Doppeltreppe hoch. Nach Plänen des Architekten hätten Küche, Speisesaal und Bäder komplett gemeinschaftliche Einrichtungen werden sollen. Das Gebäude wurde schlussendlich jedoch nicht als konsequentes Einküchenhaus ausgeführt, der Speisesaal wurde schon früh zum Restaurant und in den Wohnungen gab es doch kleine Küchen. Die Utopie wurde hier nie so richtig Realität. 

Doch die Idee, dass durch geteilte Mahlzeiten ein gemeinsamer Raum geschaffen werden kann, lebte weiter. Nur zwei Parallelstrassen weiter wird seit den 70ern in der Genossenschaft Karthago die Utopie des Einküchenhauses zumindest teilweise gelebt. Das Teilen von Wohnräumen und Infrastrukturen macht auch heute aus ökonomischen, sozialen und ökologischen Aspekten Sinn, wobei inzwischen vor allem letzterer immer wichtiger wird.

«Wenn ich mir die Küche mit meiner Nachbarschaft teile, gewinnen wir alle nicht nur an Raum, sondern kommen uns im besten Falle auch näher.»

ZAS*

Räume zum Verweilen

Auch die Stadt sprang auf den Zug auf. Zur gleichen Zeit wie das Einküchenhaus in der Idastrasse, entstand in anderer Form die Grundlage für ein Netzwerk von etwa 20 öffentlichen Speiselokalen, die von einer Institution mit dem klingenden Namen «Stadtküche» versorgt wurden. Als Verein im 19. Jahrhundert an der Schipfe im Herzen von Zürich gegründet, bot die Küche bald an verschiedenen Orten in der Stadt Suppe an. Nach der Übernahme durch die Stadt wurde aus einer einfachen Essensausgabe über die Gasse ein Netzwerk an Speiselokalen mit Heizung, Ausstattung und Verweilmöglichkeit aufgebaut.

Das grösste dieser Lokale wurde am Sihlquai 340 in der Nähe vom Escher-Wyss-Platz in den 40er-Jahren von Stadtbaumeister des Roten Zürichs, Hermann Herter, geplant. Mit dem steigenden Wohlstand nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Anzahl der Stadtküchen in Zürich, die bald als öffentliche Innenräume der gesamten Stadtbevölkerung zur Verfügung standen – inklusive Tageszeitung, Brettspielen, Telefonen, vor allem aber ohne Konsumationszwang. 

Was mit dem Haus der ehemaligen Stadtküche nach dem Wegzug der Firma «Menu and More» passiert, bleibt ungewiss. (Foto: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich, Juliet Haller)

2010 fiel der Verein in private Hände, die Lokale wurden aufgelöst und die Erinnerung an die Speiselokale und der einst grössten Produktionsküche der Schweiz begann zu verblassen. Karl(a) die Grosse im Niederdorf ist noch eine Hinterbliebene dieser vergessenen Geschichte.

Wo einst ein Mosaik am Eingang der Stadtküche an der Limmat die mythische Bedeutung des Essens in den öffentlichen Raum trug, ist jetzt eine hellblau verputzte Wand ohne Eingang, darauf ein Schriftzug mit «Menue and More». Das Unternehmen versorgt vom Sihlquai aus tausende Kinder in Primarschulen und Kitas von Zürich bis Bern täglich mit frischem Essen. Da das modernistische Gebäude bei diesem enormen Bedarf aus allen Nähten zu platzen droht, entschied sich das Unternehmen vergangenes Jahr für den Umzug nach Spreitenbach. Die ehemalige Stadtküche bleibt wohl bald ohne Koch zurück.

Ehemalige Stadtküche am Sihlquai hat schon viele Veränderungen erlebt. (Foto: ZAS*)

Wandlungsfähigkeit ist charakteristisch für das Gebäude am Sihlquai. Es hat sich stetig mit der Art, wie gekocht und gegessen wurde, verändert. Vom Kartoffellager zur Kühlzelle, von der Thermophore zur Vakuumverpackung, vom Suppentopf zum Brat-Förderband. Beim Bau der Hardbrücke wurde eine Ecke wie Butter abgeschnitten, das Oberlicht der Küche ist einer riesigen Gastrolüftung gewichen und das Mosaik wurde ins Schulhaus Friesenberg versetzt. Gerade durch all diese Veränderungen ist dem Gebäude an der Limmat eine Geschichte eingeschrieben, die im Rückblick bedeutungsvoll erscheint.

«Die Wahrscheinlichkeit, dass die Stadtküche wieder ins Leben gerufen wird, ist ungefähr so hoch wie eine erneute Seegfrörni.»

ZAS*

Die direkte Nachbarschaft der ehemaligen Produktionsküche befindet sich gerade im Wandel. Beim alten Tramdepot entstehen 200 neue Stadtwohnungen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der direkten Nachbarin an der Hardbrücke, einem städtischen Wohngebäude aus den 40er-Jahren, auch Veränderungen bevorstehen. Vielleicht ist die ehemalige Stadtküche der Fels in der Brandung an der Limmat. 

Stadtküche 2.0?

Wenn ich durch die Stadt laufe, komme ich an einer Vielzahl von Imbissen, Restaurants, Bars, Kiosken und Supermärkten vorbei. Die Gastronomielandschaft der Stadt ist attraktiv und vielfältig, trotz meiner Hingezogenheit zu all dem muss ich aber anerkennen, dass die Räume des Essens, die wir heutzutage in der Stadt erleben, grösstenteils Räume des Konsums sind. Ich kann mich schlecht in ein Café setzen und den Kauf einer Tasse Kaffee verweigern. Das Schlürfen des Getränks ist meine Berechtigung, um an diesem Ort verweilen zu können. Sobald sich mein Getränk dem Ende zuneigt, läuft auch meine Berechtigung ab. Verständlich, die Miete muss auch hier gezahlt werden. 

Picknick auf Zürichsee

Während der Seegrörni 1929 traf sich die Stadt zum Essen auf dem Zürichsee. (Foto: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich, Wilhelm Pleyer)

Öffentliche Innenräume, wo ich als Stadtbewohnerin hingehen kann, um Leute zu treffen, ein Buch zu lesen, mich nicht alleine zu fühlen und mir doch, wenn ich das will, eine Tasse Kaffee zu gönnen, sind heute rar. Ich kann mich dafür am See oder auf einem der Plätze treffen und den öffentlichen Raum nutzen. Im Winter 1929 wurde der eingefrorene Zürichsee selbst zum Schauplatz einiger winterlicher Picknicks, und die ganze Stadt war plötzlich zu Gast. Aber auf diese Eisschicht wartet man bislang vergeblich. Und nicht bloss die Gefahr, dass das Eis unter einem brechen könnte, beschränkt heute die Nutzbarkeit öffentlicher Räume. 

Der gefrorene See war eine Ausnahmesituation, die ein kurzlebiges Spektakel ermöglichte. Doch wenn es ums Essen geht, dann können eben schon alltägliche Räume viel leisten. Ob Einküchenhaus oder Stadtküche, Teilen ist ein hilfreiches Mittel zur Verdichtung. Wenn ich mir die Küche mit meiner Nachbarschaft teile, gewinnen wir alle nicht nur an Raum, sondern kommen uns im besten Falle auch näher. In Genossenschaften ist dieser Gedanke gang und gäbe.

Doch wenn wir ehrlich sind, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Stadtküche wieder ins Leben gerufen wird, ungefähr so hoch wie eine erneute Seegfrörni. Das potenzielle Freiwerden des Gebäudes der Stadtküche jedoch erlaubt es, sich an dem Ort eine vielleicht neue Form von öffentlichem Innenraum vorzustellen und so die Idee weiterleben zu lassen. Im besten Fall wird dort weiter gekocht, die nötige Infrastruktur ist schliesslich schon da. Die Grösse des Raumes kommt zwar nicht an die Ausmasse eines Zürichsees ran, aber es wäre mindestens genauso spektakulär, wenn Zürich hier bald wieder zu Gast sein könnte. 

ZAS*

ZAS* ist ein Zusammenschluss junger Architekt:innen und Stadtbewohner:innen. Unter ihnen kursieren heute verschiedene Versionen darüber, wo, wann und warum dieser Verein gegründet wurde. Dem Zusammenschluss voraus ging eine geteilte Erregung über die kurze Lebensdauer der Gebäude in Zürich. Durch Erzählungen und Aktionen denkt ZAS* die bestehende Stadt weiter und bietet andere Vorstellungen an als jene, die durch normalisierte Prozesse zustande gekommen sind. Um nicht nur Opposition gegenüber den offiziellen Vorschlägen der Stadtplanung zu markieren, werden transformative Gegenvorschläge erarbeitet. Dabei werden imaginative Räume eröffnet und in bestehenden Überlagerungen mögliche Zukünfte lokalisiert. Die Kolumne navigiert mit Ballast auf ein anderes Zürich zu und entspringt einem gemeinsamen Schreibprozess. Zur Kontaktaufnahme schreiben an: [email protected]

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