Kolumne: «Für Polyamorie braucht man keine bestimmten Skills» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Jessica Sigerist

Gründerin untamed.love

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8. April 2023 um 05:00

«Nicht-monogame Beziehungen sind nicht per se schwieriger als monogame»

Alternative Beziehungsformen gelten in der Gesellschaft als anspruchsvoll: Man müsse äusserst gut kommunizieren und sich selbst reflektieren können. Unsere Kolumnistin Jessica Sigerist findet dieses Argument überholt. Es brauche keine speziellen Fähigkeiten, um mehrfach zu lieben.

Illustration: Artemisia Astolfi

Offene Beziehungen, Polyamorie und andere alternative Beziehungsformen werden oft als schwieriger und herausfordernder als Monogamie beschrieben. Sie würden ein hohes Mass an Selbstreflektion brauchen und seien nur für Menschen geeignet, die super gut kommunizieren können. Diese Meinung höre ich sowohl von monogam als auch von mehrfach liebenden Menschen und es ist eine Meinung, die ich nicht teile. 

Ich glaube schlichtweg nicht, dass nicht-monogame Beziehungen per se eine grössere Herausforderung sind als monogame. Bei mir zum Beispiel war es genau umgekehrt. Ich habe nur einmal in meinem Leben versucht, eine monogame Beziehung zu führen und bin kläglich gescheitert. Nicht nur habe ich mich selbst, aber auch die Menschen um mich herum verletzt.

Seit ich nicht mehr monogam lebe – und das tue ich mittlerweile seit etwa fünfzehn Jahren, einfach für all jene, die jetzt schon wieder das «Langfristig-funktioniert-das-nicht»-Argument in der Pipeline haben – wurde es für mich einfacher. Ich fühle mich freier und näher an meinen Bedürfnissen und gleichzeitig fällt es mir leichter, Beziehungen zu anderen Menschen zu pflegen und fühle mich in diesen sicherer. Ja, es gab auch in diesem Prozess gebrochene Herzen (wer hatte die nicht in den letzten fünfzehn Jahren), aber es gelingt mir, besser damit umzugehen. Die Vorstellung, wieder monogam leben zu müssen, fände ich schwierig.

«Du darfst Fehler machen. Du darfst stolpern und schwierige Zeiten haben und mittelmässig sein.»

Jessica Sigerist über nicht-monogame Beziehungen

Gleichzeitig möchte ich betonen, dass man nicht ein bestimmter Typ Mensch sein muss, um nicht-monogam zu leben. Ich und meine «poly friends» sind alle ganz unterschiedlich und leben ganz unterschiedliche Arten von Mehrfachbeziehungen. Manche wünschen sich unglaublich viel Nähe und wohnen am liebsten mit mehreren Beziehungsmenschen zusammen in einem grossen Haus. Andere würden ihre eigene Wohnung niemals aufgeben und leben gerade deswegen nicht-monogam, weil sie ihre Unabhängigkeit schätzen. Manche lieben Sex mit immer wieder neuen Partner:innen, andere hingegen sind asexuell. Manche bezeichnen sich selbst als eifersüchtige Menschen, andere überhaupt nicht. Gemeinsam haben wir nur, dass wir Beziehungen so gestalten wollen, wie es für uns passt, statt sie in ein enges, gesellschaftlich vorgegebenes Raster zu pressen.

Es braucht auch keine bestimmten Skills, um nicht-monogam leben zu können. Klar hilft es, sich selbst reflektieren zu können und eine offene Kommunikation zu praktizieren. Aber seien wir mal ehrlich: Das hilft auch in monogamen Beziehungen. Oder ganz generell im Leben.

Oft lese ich, dass man keinesfalls eine monogame Beziehung öffnen soll, um diese zu retten. Nur wenn es gut läuft, sei man bereit für den nächsten Schritt und könne anderen Beziehungsformen ausprobieren. Nun könnte man ganz allgemein argumentieren, dass rein die Änderung der Beziehungsform wohl noch selten eine Beziehung gerettet hat. Dazu braucht es immer auch Arbeit an der Beziehung selbst.

Aber interessanterweise habe ich den umgekehrten Tipp, nämlich dass man eine offene Beziehung, die ein bisschen harzt, keinesfalls schliessen soll, noch nie irgendwo gelesen. Polyamorie scheint als König:innen-Disziplin zu gelten, in welcher erst mitgespielt werden darf, wer die Monogamie erfolgreich gemeistert hat.

Oft höre ich von Menschen: «Wie du lebst, könnte ich das nicht» und manchmal würde ich gerne antworten: «Doch du kannst!» Niemand muss – wirklich nicht – aber alle, die Lust darauf haben, können und dürfen nicht-monogame Beziehungsformen ausprobieren. Und stell dir vor: Du darfst dabei Fehler machen. Du darfst stolpern und schwierige Zeiten haben und mittelmässig sein. Du darfst es sogar richtig verbocken und das bedeutet immer noch nicht, dass du deswegen nicht für Nicht-Monogamie geeignet bist. Monogame Beziehungen werden schliesslich andauernd verbockt und da kommt auch niemand in um die Ecke und sagt: «Tja, Monogamie ist halt schwierig, ist wohl nichts für dich.» Und wer weiss, vielleicht findest du dabei eine Beziehungsform, die so gut zu dir passt, dass es sich überhaupt nicht mehr schwierig anfühlt. 

Eine Sache gibt es allerdings, die in Mehrfachbeziehungen wirklich schwieriger ist als in monogamen. Was es ist, erfahrt ihr in meiner nächsten Kolumne.

(Foto: Elio Donauer)

Jessica Sigerist

Kolumnistin Jessica Sigerist ist Zürich geboren und aufgewachsen. Sie wusste schon früh, woher die Babys kommen. In ihrer Jugend sammelte sie schöne Notizbücher, alte Kinokarten und Zungenküsse. Sie studierte Ethnologie (halbmotiviert) und das Nachtleben Zürichs (intensiv). Nach vielen Jahren in der Sozialen Arbeit hatte sie die Nase voll, nicht vom Sozialen, aber von der Arbeit. Sie packte wenig Dinge und viel Liebe in einen alten Fiat Panda und reiste kreuz und quer durch die Welt. Sie ritt auf einem Yak über das Pamirgebirge, überquerte das kaspische Meer in einem Kargoschiff und blieb im Dschungel von Sierra Leone im Schlamm stecken.

Auf ihren Reisen von Zürich nach Vladivostock, von Tokio nach Isla de Mujeres, von Tanger nach Kapstadt lernte sie, dass alle Menschen eigentlich dasselbe wollen und dass die Welt den Mutigen gehört. Wieder zurück beschloss sie, selbst mutig zu sein und gründete den ersten queer-feministischen Sexshop der Schweiz. Seither beglückt sie Menschen mit Sex Toys und macht lustige Internetvideos zu Analsex, Gleitmittel und Masturbation. Jessica liebt genderneutrale Sex Toys, Sonne auf nackter Haut und die Verbindung von Politik und Sexualität. Sie ist queer und glaubt, dass Liebe grösser wird, wenn man sie teilt. Mit einem ihrer Partner und ihrem Kind lebt sie in Zürich.

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