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15. August 2017 um 11:40

Lebensräume für Asylsuchende: Wieso ein Dach über dem Kopf nicht genügt

In der Schweiz werden Asylsuchende in Aufenthaltszentren, Zivilschutzbunkern, Containern oder kleinen Wohnungen untergebracht. Welche Rolle spielen die jeweiligen Lebensräume für die Geflüchteten und ihr Leben in der Schweiz? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Ausstellung «Shelter Is Not Enough» im Schweizerischen Heimatschutzzentrum.

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Im Jahr 2016 wurden in der Schweiz 27'207 Asylgesuche gestellt. Wer ein solches einreicht, erhält für die Dauer der Abklärung seines Gesuchs den Status N. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) entscheidet dann, ob die Person vorläufig aufgenommen oder als Flüchtling anerkannt wird. Die einen verlassen die Schweiz vielleicht bereits nach einigen Wochen oder Monaten wieder, andere bleiben mehrere Jahre oder sogar für immer hier. Mit ihrer Sonderausstellung «Shelter Is Not Enough» wollen das Heimatschutzzentrum und der Verein «Architecture for Refugees Schweiz» zu einer Auseinandersetzung mit der Frage anregen, wie die Geflüchteten in unserem Land leben.

Entstanden ist eine kleine Ausstellung, die viele Denkansätze liefert und die Besucher*innen dazu auffordert, sich selbst mit dem Thema zu befassen und eigene Gedanken und Überlegungen anzustellen. Im Foyer werden auf Plakaten die aktuellsten Zahlen und Fakten aufgeführt und das Schweizerische Asylwesen erklärt. Wer hat in der Schweiz Anrecht auf Asyl, was bedeutet etwa der Aufenthaltsstatus F und nach welchem System werden Asylbewerber*innen in der Schweiz platziert?

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In Interviews erzählen Menschen, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind, ihre persönliche Geschichte. Sie beschreiben ihr Leben damals und heute und welche Herausforderungen sie hier in der Schweiz zu meistern haben. Ausgestellte Fotos geben einen Eindruck davon, wie die Geflüchteten in der Schweiz wohnen und wie stark sich die jeweiligen Formen unterscheiden. Die einen sind in grossen Containersiedlungen, wie etwa in Neftenbach untergebracht, wo sie in umfunktionierten Büroräumen leben. Andere wohnen in einem alten Hotel im Appenzell und teilen sich zu viert ein Zimmer. Einige sind in kleinen Wohnungen untergebracht, wie etwa eine siebenköpfige somalische Familie, die in einer 2 1/2-Zimmerwohnung lebt. Auch in der Art und Weise, wie die Wohnräume eingerichtet sind, gibt es starke Unterschiede. Die einen Räume wirken fast unbewohnt. Karg und kaum personalisiert. Andere Räume wiederum sind in ihrer Einrichtung offensichtlich geprägt von ihren Bewohner*innen und deren Kultur.

Die Ausstellung bietet den Besucher*innen immer wieder die Gelegenheit, sich aktiv mit den Themen auseinanderzusetzen und etwas beizutragen. So werden im einen Raum etwa verschiedene Fragen an die Besucher*innen gestellt, welche sie dazu veranlassen, sich mit dem eigenen Begriff von Heimat auseinanderzusetzen und sich in die Situation von Geflüchteten hineinzuversetzen.

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Judith Schubiger und Bence Komlosi

Miteinander statt nebeneinander

Die Organisator*innen zeigen das Leben von Geflüchteten in der Schweiz nicht nur auf, sie haben auch eine klare Position: «Für die Asylsuchenden, die in die Schweiz kommen, braucht es gut gestaltete Lebensräume und Architektur. Es reicht nicht, einfach irgendwelche Notunterkünfte hinzustellen. Die Menschen, die hier bleiben, sollen in der Schweiz eine Heimat finden», meint Judith Schubiger vom Heimatschutzzentrum. Um dies zu vermitteln, sollen die Besucher*innen dazu bewegt werden, sich in die Lage der Geflüchteten hineinzuversetzen. Bence Komlosi vom Verein «Architecture for Refugees Schweiz» möchte diese von einer vorherrschenden «Culture of Waiting»zu einer «Culture of Care» bewegen. Sie sollen merken, dass es sie ganz persönlich etwas angeht, wie Asylsuchende in der Schweiz leben.

«Einen Grossteil unserer Zeit verbringen wir in Lebensräumen, die wir mit anderen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen teilen», erzählt der junge Architekt. «Deswegen ist es so wichtig, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was es braucht, damit wir miteinander und nicht nur nebeneinander leben.» Für ihn stehen die sozialen, kulturellen und zwischenmenschlichen Aspekte im Vordergrund. Einem Geflüchteten, ein temporäres Dach über dem Kopf zur Verfügung zu stellen, ist grundsätzlich einfach und schnell geschehen. Aber der Rest sei viel schwieriger. In den Gesprächen, die Komlosimit Geflüchteten geführt hat, hörte er immer wieder das Gleiche: Am stärksten leiden die Menschen unter fehlenden Beziehungen, weil das ganze soziale Netz, Freunde und Verwandte im Herkunftsland zurückgelassen werden musste und es für die Menschen schwer ist, im Fluchtland neue Beziehungen zu knüpfen.

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Asylunterkunft in Neftenbach (Foto: Architecture for Refugees SCHWEIZ)

Am wichtigsten sei der persönliche Kontakt zu den Geflüchteten, glaubt Komlosi. Genau diesen versuchen die Organisator*innen mit zusätzlichen Veranstaltungen zu fördern. Besonders beliebt sind die Stadtführungen. «Wenn ich mit jemandem, der als Geflüchteter in die Schweiz gekommen ist, persönlich spreche und ihm Fragen stellen kann, dann wird er und seine Geschichte plötzlich Teil meines eigenen Lebens», sagt Komlosi. 60 bis 80 Menschen nehmen jeweils an den Stadtführungen Teil, an denen Geflüchtete den Besucher*innen Zürich aus ihren Augen zeigen. Neben Stadtführungen werden auch Workshops angeboten, wo Gäste aus den Bereichen Asyl und Architektur ihre Arbeit vorstellen und wo diskutiert wird. Hier ist die Hemmschwelle für eine Teilnahme grösser. «Die Leute meinen, sie müssten bei den Workshops schon Vorwissen mitbringen und sich aktiv beteiligen. Bei den Stadtführungen spüren sie diesen Druck nicht», so Komlosi.

Die Architekt*innen sind gefragt

Das eigene Zuhause ist für den Menschen zentral, doch wie müssen die Räume gestaltet sein, damit sich die Geflüchteten darin wenigstens temporär zuhause fühlen können? Welche Möglichkeiten haben sie, etwa ihr Zimmer persönlich zu gestalten? Wie kann eine positive Durchmischung gefördert werden? Gibt es Plätze, welche das Gemeinschaftliche fördern? «Das sind Fragen, für deren Beantwortung wir auch die Architekten brauchen», sagt Schubiger. «Die Behörden benötigen meistens schnelle Lösungen, die auch von der Bevölkerung akzeptiert werden müssen. Es darf nicht zu schön und nicht teuer sein.» So kommen Notlösungen zustande. Die Gestaltung ist zweitrangig und insbesondere die Aussenräume gehen vergessen. Die Bedürfnisse der Geflüchteten spielen kaum eine Rolle. Deswegen hat es sich der Verein «Architecture for Refugees Schweiz» zum Ziel gemacht, den Diskurs über die Architektur im Flüchtlingswesen zu fördern und in Gang zu bringen. Denn gemäss Komlosi fehlt eine solche Diskussion bei uns völlig, während in Deutschland und Österreich in diesem Bereich schon viel passiert ist.

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In der Schweiz wird bisher oft auf Temporärbauten gesetzt. Doch wie sinnvoll ist das? «Wäre es nicht besser, Bauten zu erstellen, die später einmal auch von Studenten oder Menschen mit tiefem Einkommen weitergenutzt werden könnten?», fragt Schubiger. In Deutschland und Österreich wird über diese Frage unter dem Stichwort «bezahlbares Wohnen» längst nachgedacht, weiss Komlosi. Als positiv bewerten sie die Pläne um das neue Zentrum in Altstetten auf dem Geerenweg-Areal. Bis Ende 2018 sollen dort Geflüchtete und Studierende nebeneinander leben.

Besonders beschäftigt Judith Schubiger die grossen Unterschiede zwischen Stadt und Land in der Schweiz. Ein Asylbewerber, der in Appenzell untergebracht ist, erzählt in seinem Porträt, dass er sich von der einheimischen Bevölkerung abgegrenzt vorkäme und dass er Plätze vermisse, wo man einfach so Leute treffen könne. Plätze wie etwa die Josefwiese oder die Bäckeranlage. In städtischen Gebieten werden zudem oft mehr Kurse angeboten.Vereine und gemeinnützige Organisationen organisieren Anlässe für oder mit Asylsuchenden. In den ländlichen Gebieten sind solche Angebote viel seltener, weshalb die Geflüchteten noch isolierter sind. «Für die Flüchtlinge macht es einen riesigen Unterschied, wo sie hinkommen», ist Judith Schubiger überzeugt. Einfluss darauf haben sie aber nicht.

Die Ausstellung «Shelter Is Not Enough» kann noch bis 1. Oktober im Heimatschutzzentrum besucht werden. Auf der Website können zudem Informationen zu den kommenden Veranstaltungen, Workshops und Stadtführungen abgerufen werden.

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Titelbild: Architecture for Refugees SCHWEIZ

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