Kolumne: Was macht eine «richtige» Beziehung aus? - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Jessica Sigerist

Gründerin untamed.love

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3. Juni 2023 um 06:00

«Je mehr ich über zwischenmenschliche Beziehungen rede, desto schwieriger wird es»

Die Frage, wie viele Beziehungen unsere Kolumnistin Jessica Sigerist als nicht-monogam lebende Person hat, interessiert viele Menschen. Gut, dass sie gerne darüber spricht. Doch immer öfter führen solche Gespräche ins Leere, weil das Gegenüber ihre Beziehungen zählen möchte.

Illustration: Artemisia Astolfi

Ich rede wirklich sehr gerne über zwischenmenschliche Beziehungen. So gerne, dass daraus sozusagen ein Hobby, später sogar teilweise mein Beruf geworden ist. Doch je mehr ich darüber rede, desto schwieriger wird es. Je mehr ich rede, desto weniger scheinen die Worte zu passen. Ich rede und erkenne, wie ungenügend und unpräzise unsere Sprache ist. Die Wörter sind klein und die Dinge, die in meinem Leben vorkommen, sind zu gross, um da rein zu passen.

Worüber ich oft rede, seit ich offen damit umgehe, nicht monogam zu leben, ist darüber, wie viele Beziehungen ich führe. Diese Frage scheint die Menschen zu beschäftigen. Und mir fällt es, je länger, je schwerer, darauf eine befriedigende Antwort zu geben.

Denn jede Zahl zwischen null und fünf würde sich auf ihre Art richtig anfühlen und dennoch falsch. Genau genommen, käme sogar jede Zahl zwischen null und etwa hundertfünfzig in Frage, denn eigentlich habe ich ja eine Beziehung zu jeder Person, die ich kenne. Der Anthropologe Robin Dunbar definiert die Zahl hundertfünfzig als die Anzahl stabiler sozialer Beziehungen, die ein Mensch pflegen kann. Selbst ursprünglich Anthropologin beginne ich also zu forschen. Ich variiere meine Antworten und beobachte die Reaktionen meines Gegenübers mit ethnologischem Interesse. 

«Verliebtheit bedeutet für mich ein Kribbeln im Bauch. Das empfinde ich im Moment für meinen neuesten Ok-Cupid-Match.»

Jessica Sigerist

Als ich mal wieder gefragt werde, wie viele Beziehungen ich habe, entscheide ich mich für die Dunbar-Zahl. «Hundertfünfzig», antworte ich ungerührt. Nach einem kurzen Moment der Irritation fasst sich mein Gegenüber und präzisiert, dass es nicht «alle» Beziehungen meine, sondern nur die «Liebesbeziehungen».

«Ach soooo», antworte ich, «sage das doch gleich. Also Menschen, die ich liebe, gibt es so einige in meinem Leben. Da wären das Kind, meine Schwester,…» «Nein, nein», unterbricht mich mein Gegenüber und korrigiert sich aufs Neue: Es hätte nicht Liebe im Allgemeinen gemeint, sondern mehr so was wie romantische Liebe oder Verliebtheit. Genau: In wie viele Menschen sei ich denn verliebt?

Von wegen verliebt!

Verliebt sein also. Ich würde mein Gegenüber gerne fragen, was es denn darunter versteht, entscheide mich aber, ihm die Arbeit abzunehmen und den Begriff für mich selber zu definieren. Verliebtheit bedeutet für mich eine starke Anziehung, eine angenehme Aufregung, ein Kribbeln im Bauch. Das empfinde ich im Moment für meinen neuesten Ok-Cupid-Match, den ich bisher zweimal getroffen habe.

Für die Person, mit der ich seit fünfzehn Jahren zusammen Wohnraum teile, eher nicht. Wäre ja auch ultra anstrengend, wenn es mich seit fünfzehn Jahren jedes Mal «wegkribbeln» würde, wenn die Person an mir vorbei zur Kaffeemaschine schlurft. 

An der gerunzelten Stirn meines Gegenübers erkenne ich, dass es mit dieser Antwort nicht ganz zufrieden ist. Beziehung gleich Verliebtheit scheint also nicht aufzugehen und mein Gegenüber ringt nach neuen Worten, um auszudrücken, was es denn genau von mir wissen will.

Ich versuche zu helfen und mache einen eigenen Vorschlag: «Interessiert dich vielleicht, mit wie vielen Menschen ich in einem intensiven, emotionalen Austausch stehe?» Mein Gegenüber wirkt erleichtert und nickt eifrig. Genau das wollte es wissen. Auch ich bin froh, dass wir endlich eine Übereinkunft treffen konnten, über welche Art von Beziehung wir sprechen wollen. «Dann wären das also fünf», antworte ich. Doch mein Gegenüber lässt sich nicht so einfach abspeisen und es platzt aus der Person heraus: «Und mit all denen hast du Sex!?»

Ein Kästchen mit der Aufschrift «Sex»

Es geht also – wer hätte das gedacht – doch wiedermal um Sex. «Hmmm kommt drauf an», antworte ich, «was meinst du denn mit Sex?» «Na Sex halt, mit Küssen und so.» «Ah Küssen? Hm, ja, also dann sind’s vermutlich mehr als diese fünf, die ich regelmässig küsse. Zählt nur mit Zunge oder auch ohne Zunge? Weil dann wär zum Beispiel das Kind ja dann wieder dabei…» «Nein nein, also ich mein schon Sex, mit Genitalien und so!» «Ah so, mit Genitalien. Nein, ich habe nicht mit allen fünf genitalen Sex.»

«Mein Gegenüber will meine Beziehungen zählen können, auflisten, nummerieren, kategorisieren.»

Jessica Sigerist

Diese Antwort scheint meinem Gegenüber erstaunlich gut zu gefallen. «Dann sind es also keine ‹richtigen› Beziehungen», sagt es, mehr zu sich selbst. «Also wenn du wissen möchtest, wie viele Beziehungen ich führe, in denen genitaler Sex eine Rolle spielt, dann müsste ich nochmals anders rechnen. Einige fielen dann weg und andere kämen dazu. Zählt die Person, die ich alle paar Monate treffe und dazwischen kaum Kontakt habe als ‹Beziehung›? Oh, und was machen wir mit One-Night-Stands? Genau genommen weiss ich ja nicht, ob ich die Person wiedersehen werde und wir wieder Sex haben. Eigentlich weiss ich das ja bei niemandem.»

Ich verstumme und wir schauen uns beide überfordert an. Mein Gegenüber will meine Beziehungen zählen können, auflisten, nummerieren, kategorisieren. Fein säuberlich in klar voneinander abgetrennte Kästchen legen und jedes mit einem Etikett versehen. Während ich schon mein Leben lang daran arbeite, die Zwischenwände der Kästchen aufzuweichen; Etiketten umschreibe, mit Neuen überklebe und schliesslich ganz wegreisse. Wir finden keine gemeinsame Sprache – und schweigen. 

Mein Gegenüber hat mir früher am Abend stolz sein Kästchen gezeigt. «Beziehung» steht drauf und darin befindet sich eine mehrjährige, monogame Partner:innenschaft. Ich könnte nun meinerseits ein paar Fragen stellen.

Ob das eigentlich eine Liebesbeziehung sei und ob sie verliebt seien. Ob sie sich küssen oder täglich darüber reden würden, wie sie sich fühlen. Ob sie Sex haben würden und ob dabei auch die Genitalien im Spiel seien. Ich könnte laut darüber nachdenken, ob das wohl eine «richtige» Beziehung ist. Aber ich glaube, ich lasse es ganz einfach bleiben. Wer so ein Kästchen hat, ist sich solche Fragen nicht gewohnt.

(Foto: Elio Donauer)

Jessica Sigerist

Kolumnistin Jessica Sigerist ist Zürich geboren und aufgewachsen. Sie wusste schon früh, woher die Babys kommen. In ihrer Jugend sammelte sie schöne Notizbücher, alte Kinokarten und Zungenküsse. Sie studierte Ethnologie (halbmotiviert) und das Nachtleben Zürichs (intensiv). Nach vielen Jahren in der Sozialen Arbeit hatte sie die Nase voll, nicht vom Sozialen, aber von der Arbeit. Sie packte wenig Dinge und viel Liebe in einen alten Fiat Panda und reiste kreuz und quer durch die Welt. Sie ritt auf einem Yak über das Pamirgebirge, überquerte das kaspische Meer in einem Kargoschiff und blieb im Dschungel von Sierra Leone im Schlamm stecken.

Auf ihren Reisen von Zürich nach Vladivostock, von Tokio nach Isla de Mujeres, von Tanger nach Kapstadt lernte sie, dass alle Menschen eigentlich dasselbe wollen und dass die Welt den Mutigen gehört. Wieder zurück beschloss sie, selbst mutig zu sein und gründete den ersten queer-feministischen Sexshop der Schweiz. Seither beglückt sie Menschen mit Sex Toys und macht lustige Internetvideos zu Analsex, Gleitmittel und Masturbation. Jessica liebt genderneutrale Sex Toys, Sonne auf nackter Haut und die Verbindung von Politik und Sexualität. Sie ist queer und glaubt, dass Liebe grösser wird, wenn man sie teilt. Mit einem ihrer Partner und ihrem Kind lebt sie in Zürich.

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