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Von DJ Restaurant

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30. Dezember 2021 um 04:00

Aktualisiert 30.12.2021

Die beste Gelateria Zürichs: Aldi

Unser Kolumnist über das Yuppie-Phänomen Gelateria: «Obwohl wir täglich an zirka 50 Tiefkühlern voller Glaces vorbeilaufen, kommen wir an diesem ganz speziellen Ort zusammen, um gemeinsam Schlange zu stehen. Niemand von uns möchte sich alleine Zuhause zwei Pralinatos vor dem Fernseher reindrücken. Das wäre total Unterschicht.»

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Illustrationen: Artemisia Astolfi

Dieser Beitrag ist zum ersten Mal am 22. Mai 2021 erschienen. Im Rahmen einer Repost-Woche holen wir die meistgelesenen Artikel 2021 aus unserem Archiv.

Vor vielen Jahren zog ich nach Zürich und versuchte dann, mich hier zu integrieren. An einem schönen Frühlingstag lud ich deshalb eine dieser ultracoolen Geschichtsstudentinnen vom Marxismus-Seminar per SMS zur unverfänglichsten Aktivität ein, die ich damals kannte: Eis essen in einer damals gerade neu eröffneten Hipster-Gelateria beim Lochergut. Ihre Antwort kam schnell und ohne Satzzeichen: «Sicher nicht ich hasse diesen yuppie scheiss gehen wir zu aldi eine magnum holen dann zur limmat.»

Natürlich verstand ich die Welt nicht mehr. Was denn bitte hat diese hübsche kleine Gelateria beim Lochergut mit Yuppies zu tun, fragte ich mich. Noch lange spukte mir diese SMS als grosses Fragezeichen im Kopf herum. Heute endlich glaube ich zu wissen, was die ultracoole Geschichtsstudentin damit meinte. Uns junge, urbane Elite ziehen solche Orte an wie das Licht die Motten. Denn hier können wir zeigen, wer wir sind und – noch viel wichtiger – was wir haben:

1. Zeit: Schau uns an. Unser 60-Prozent-Pensum ist gut genug bezahlt, um die Mieten hier im Quartier zu bestreiten und an unseren freien Tagen gönnen wir uns ein gutes Eis. Wir haben die Geduld, dafür über eine Stunde anzustehen. Zum Glück leben wir in einer ruhigen Nebenstrasse und kriegen deshalb vom Lärm und der Hektik der Stadt nicht viel mit. Deshalb verbringen wir unsere Freizeit auch umso lieber hier, «im Geschehen».

2. Demut: Wenn wir über diese Gelateria sprechen, erwähnen wir häufig, dass zwei Kugeln hier nur so-und-soviel kosten. Wir sind nämlich überzeugt davon, dass sich alle dieses hervorragende marokkanische-Minze-Dattel Sorbet leisten können sollten. Obwohl der Preis für uns, die dort anstehen, eigentlich überhaupt keine Rolle spielt, ist das irgendwie wichtig. Die Tatsache, dass diese Gelaterias nur in den gentrifiziertesten Ecken Zürichs anzutreffen sind, kümmert uns dabei nicht gross. Dass eine Sozialhilfe-Familie aus Schwamendingen am einzigen freien Tag der Woche zum Lochergut reist, um dort ein «günstiges» Löwenzahn-Eis zu essen, ist zwar schon etwas unwahrscheinlich. Aber egal, in der Theorie wäre diese Gelateria auch für die Unterschicht zugänglich und das reicht uns für inklusive Gefühle.

Obwohl nirgends etwas von Bio steht und der verarbeitete Kakao hier höchstwahrscheinlich auch von Kindern geerntet wurde, verleihen die handbeschriebenen Tafeln und grosszügig verteilten Topfpflanzen dennoch ein diffuses Gefühl von Nachhaltigkeit.

DJ Restaurant

3. Geschmack: Obwohl wir täglich an zirka 50 Tiefkühlern voller Glaces vorbeilaufen, kommen wir an diesem ganz speziellen Ort zusammen, um gemeinsam Schlange zu stehen. Denn wir schmecken den Unterschied. Niemand von uns möchte sich alleine Zuhause zwei Pralinatos vor dem Fernseher reindrücken. Das wäre total Unterschicht.

Wir möchten handgemachte Spezialitäten mit italienischen Namen in stilvollem Ambiente geniessen. So wie wir unseren peruanischen Kaffee mit floralen Röstnoten, unseren Wein in mundgeblasenen Gläsern und unser Brot aus dem Holzofen wollen, möchten wir unser Eis von Wannabe-Italienern mit Schnauz und Piaggio serviert bekommen. Und so laufen wir munter am Kiosk vorbei und stellen uns vorfreudig zu den anderen jungen Kreativen in die Schlange.

4. Ansprüche: Obwohl nirgends etwas von Bio steht und der verarbeitete Kakao hier höchstwahrscheinlich auch von Kindern geerntet wurde, verleihen die handbeschriebenen Tafeln und grosszügig verteilten Topfpflanzen dennoch ein diffuses Gefühl von Nachhaltigkeit. Spätestens wenn dann irgendwo noch «We Care» steht und pro verkauftem Eis zwei Rappen an das Kinderhilfswerk XY gehen, fühlen wir uns als Konsument:innen ernst genommen. Ja, die Nachhaltigkeit liegt uns am Herzen.

Damals vor vier Jahren, als die ultracoole Geschichtsstudentin und ich zufrieden unsere Aldi-Magnum schleckend an der Limmat sassen, gingen wir nicht weiter auf ihre merkwürdige Antwort ein. Ich erinnere mich noch gut, wie ich sie eigentlich nach den Gründen für ihren Gelateria-Hass fragen wollte, es dann aber doch bleiben liess – aus Angst, herauszufinden, dass ich zu «denen» gehöre.

So verbrachten wir einen friedlichen Abend zusammen am Flussufer, ganz ohne Kapitalismuskritik. Und vielleicht gerade weil meine Aldi-Magnum weder marokkanische Minze enthielt noch einen italienischen Namen trug oder vielleicht auch weil sie im Sixpack kaum vier Franken gekostet hatte: Sie schmeckte sehr inklusiv.

Kolumnist DJ Restaurant
DJ Restaurant glüht für gesellschaftliche Brennpunkte. Deshalb sinniert er als freier Autor und Kolumnist regelmässig über die kleinen Flammen des Alltags. Über die grossen Brände dieser Welt forscht er als Klimawissenschaftler an der Uni Bern. Abends ist DJ Restaurant oft in seinem Zürcher Musikstudio anzutreffen, wo er stundenlang an winzigen Knöpfen herumdreht. Seit er vor fünf Jahren ein Schwein hinter dem Ohr gekrault hat, träumt er von seinem eigenen Bauernhof. Wie naiv. Doch für nichts auf der Welt würde er seinen Leichtsinn hergeben.
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Yuppie-Kolumne
Die neue urbane Elite wird in jüngster Zeit als aspirational class bezeichnet. Während früher teure Autos und schicke Uhren als Statussymbol galten, braucht es für die Aneignung moderner Statussymbole nicht viel Geld, sondern Insiderwissen. Billige Digitaluhren, zerrissene Hosen, Adiletten, wackelige Tattoos auf den Fingern, Drehtabak – alle diese Statussymbole sind nicht teuer. Ihre Träger:innen müssen sich aber das nötige Wissen für deren Aneignung erarbeiten. Gerade in einer so unglaublich wohlhabenden Stadt wie Zürich, wo sich die städtische Elite (und damit sind nicht bloss die Google-Mitarbeiter:innen aus der Europaallee gemeint) seit Kindesbeinen an alle Requisiten des «guten Lebens» leisten kann, sind solche neuartigen Statussymbole allgegenwärtig. Diesen Symbolen und Manifestationen möchte DJ Restaurant mit seiner Kolumne auf die Spur gehen.
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