Kolumne: Die wahre Herausforderung polyamorer Beziehungen - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Jessica Sigerist

Gründerin untamed.love

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6. Mai 2023 um 04:00

«Die Welt ist auf Monogamie zugeschnitten – und wir sind nicht mitgemeint»

In den 20 Jahren, in denen unsere Kolumnistin Jessica Sigerist in nicht-monogamen Beziehungen lebt, hat sie einiges gelernt. Unter anderem, dass die grösste Herausforderung am Ausleben von Polyamorie weder der Umgang mit Eifersucht noch das Zeitmanagement ist.

Illustration: Artemisia Astolfi

In der letzten Kolumne habe ich darüber geschrieben, dass offene Beziehungen, Polyamorie und Co. nicht per se herausfordernder seien als Monogamie. Eine Sache gibt es aber, die in nicht-monogamen Beziehungen schwieriger ist als in monogamen. Die grösste Herausforderung alternativer Beziehungsformen ist – Überraschung! – aber weder der Umgang mit der Eifersucht noch das Organisationsmanagement (Die Lösung ist ein geteilter Online-Kalender, thank me later): Es ist die Diskriminierung, die wir täglich erfahren. 

Dass nicht-monogam lebende Menschen von struktureller Diskriminierung betroffen sind, scheint vielen nicht bewusst zu sein. Das merke ich zum Beispiel an Medienanfragen, die ich zum Thema bekomme. Journalist:innen wollen im besten Fall wissen, wie eifersüchtig ich bin und im schlimmsten Fall, wie oft und mit wem ich Sex habe. Interviewfragen, welche die gesellschaftliche Ebene einbeziehen, habe ich bisher noch nie erhalten. Die persönliche Ebene sei halt interessanter, heisst es.

Tja, meine persönliche Ebene ist davon geprägt, dass die mononormative Mehrheitsgesellschaft mir das Leben schwer macht. Von Wohnraum bis hin zu Spezialaktionen für Familien und Paare: Die Welt ist auf Monogamie zugeschnitten. Und nein: Wir sind nicht mitgemeint. Wir dürfen nicht mehr als zwei Elternteile eintragen lassen und müssen uns bei Anlässen für ein Plus-eins entscheiden, obwohl wir vielleicht gerne ein Plus-drei mitbringen würden. Die Ehe ist zwar für alle, aber auch nur solange man brav in einer Zweier-Konstellation antanzt. Mehrfachliebende können ihre Beziehungen nicht rechtlich absichern und ich glaube nicht, dass hier die Gleichstellung in greifbarer Nähe ist. 

«Für mich war es oft viel schwieriger, mich als nicht-monogam zu outen, als zu erklären, dass ich bi- oder pansexuell bin.»

Jessica Sigerist über ihr Leben in nicht-monogamen Beziehungen

Uns fehlen Vorbilder; die Repräsentation in der Popkultur ist etwa gleich null. In meiner doch recht umfassenden Sammlung von Kinderbüchern, die diverse Familien abbilden, gibt es Alleinerziehende, gleichgeschlechtliche Paare und Patchworkfamilien, doch eine Poly-Familie suche ich vergebens. Serien wie Sex Education und Heart Stopper, die ich in meiner Jugend schmerzlich vermisst habe, zeigen ein breites Spektrum von Queerness. Aber Menschen, die konsensuell nicht monogam leben? Fehlanzeige.

Wenn ich «Spielfilm Polyamorie» auf Google eingebe, sind die ersten beiden Ergebnisse noch immer Vicky Christina Barcelona und The Dreamers – zwei über 15 Jahre alte Filme, die beide ziemlich dramatische Dreiecksgeschichten ohne Happy End zeigen. Da wundert es mich eigentlich nicht, dass so viele negative Vorurteile in den Köpfen der Leute stecken. 

Ich wurde wegen meiner Beziehungsform schon als bösartige Schlampe bezeichnet oder als Mauerblümchen, das ständig betrogen wird. Als Egomanin, die keine Rücksicht auf Gefühle anderer nimmt oder als gehörnte Person, die aus reiner Gefühlsduselei in einer offensichtlich toxischen Beziehung bleibt. Es scheint den Leuten wahrscheinlicher, dass ich entweder Opfer oder Täterin bin, als dass alle Beteiligten freiwillig in einem nicht-monogamen Setting sein könnten.

Menschen, die mich kaum kennen, massen sich an, über meine Beziehungen zu urteilen. Mein «Lifestyle» sei falsch, schlecht, ungesund und bestimmt garantiert kein Umfeld, um Kinder grosszuziehen. Und wenn  die Reaktionen weniger bösartig sind, sind sie in der Regel liebevoll belächelnd: «Das hab ich auch mal ausprobiert als ich jung war», «das ist jetzt halt voll im Trend», «ihr werdet schon noch merken, dass das längerfristig nicht funktioniert» – als wäre meine Lebensweise und meine Identität eine trendige Lifestyle-Entscheidung, die zwar durchaus interessant, aber doch nicht ganz ernstzunehmen ist. 


All diese Reaktionen führen dazu, dass wir uns ständig überlegen müssen, wo wir uns zu erkennen geben sollen und wo nicht. Will ich mich bei den Menschen an meinem Arbeitsplatz outen? Wer aus dem Umfeld unseres Kindes soll es wissen? Nehme ich das Risiko in Kauf, unangenehmen Fragen ausgesetzt zu sein oder verheimliche ich lieber einen Teil von mir? Es ist eine Wahl zwischen zwei Übeln.

Für mich persönlich war es oftmals viel schwieriger, mich als nicht-monogam zu outen, als zu erklären, dass ich bi- oder pansexuell bin. Das hat dazu geführt, dass ich meine Beziehungsform über Jahre hinweg vor vielen Menschen geheim gehalten habe. Mit Auswirkungen auf mein Wohlbefinden und jenes der Menschen, mit denen ich in intimen Beziehungen war. Wenn ich zurückblicke auf fast 20 Jahre nicht-monogames Beziehungsleben, war die grösste Herausforderung nie die Nicht-Monogamie an sich, sondern die Gesellschaft, in der wir sie leben. 

Celebrating Care! Fürsorge Feiern!

Wenn du Lust hast, dich mit nicht-monogamen Beziehungs- und Familienformen auseinanderzusetzen: Am 14. Mai, dem offiziellen «Muttertag», wollen wir Familie, Liebe, Fürsorge und Lust jenseits des cis-hetero Patriachats sichtbar machen, diskutieren und feiern. Mehr Infos findest du hier.

(Foto: Elio Donauer)

Jessica Sigerist

Kolumnistin Jessica Sigerist ist Zürich geboren und aufgewachsen. Sie wusste schon früh, woher die Babys kommen. In ihrer Jugend sammelte sie schöne Notizbücher, alte Kinokarten und Zungenküsse. Sie studierte Ethnologie (halbmotiviert) und das Nachtleben Zürichs (intensiv). Nach vielen Jahren in der Sozialen Arbeit hatte sie die Nase voll, nicht vom Sozialen, aber von der Arbeit. Sie packte wenig Dinge und viel Liebe in einen alten Fiat Panda und reiste kreuz und quer durch die Welt. Sie ritt auf einem Yak über das Pamirgebirge, überquerte das kaspische Meer in einem Kargoschiff und blieb im Dschungel von Sierra Leone im Schlamm stecken.

Auf ihren Reisen von Zürich nach Vladivostock, von Tokio nach Isla de Mujeres, von Tanger nach Kapstadt lernte sie, dass alle Menschen eigentlich dasselbe wollen und dass die Welt den Mutigen gehört. Wieder zurück beschloss sie, selbst mutig zu sein und gründete den ersten queer-feministischen Sexshop der Schweiz. Seither beglückt sie Menschen mit Sex Toys und macht lustige Internetvideos zu Analsex, Gleitmittel und Masturbation. Jessica liebt genderneutrale Sex Toys, Sonne auf nackter Haut und die Verbindung von Politik und Sexualität. Sie ist queer und glaubt, dass Liebe grösser wird, wenn man sie teilt. Mit einem ihrer Partner und ihrem Kind lebt sie in Zürich.

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