Viel Lärm um viel Lärm? Gemeinderäte über Tempo 30 und die Zukunft der Verkehrspolitik - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Christoph Schneider

Redaktor Wahlen

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20. Januar 2022 um 14:18

Aktualisiert 20.01.2022

Viel Lärm um viel Lärm? Gemeinderäte über Tempo 30 und die Zukunft der Verkehrspolitik

Wie tickt der Verkehr von Zürich? Unser Wahlredaktor befragte zwei Zürcher Verkehrspolitiker zur geplanten Umsetzung von Tempo 30 und darüber hinaus zur Gegenwart und Zukunft des städtischen Verkehrs.

Stauffacherbrücke, 1899. Bild: © Baugeschichtliches Archiv, Robert Breitinger

Urbanität heisst auch Verkehr: Die unterschiedlichsten Bewegungs- und Transportbedürfnisse treffen in einem dichten Raum aufeinander und verursachen Konflikte. Der Anteil des Strassenraums an der Siedlungsfläche der Stadt Zürich beträgt 25 Prozent (2018). Seit seiner Etablierung als Massenprodukt in den 1950er Jahren hat das Auto diesen öffentlichen Raum massgeblich geprägt. Mittlerweile verschiebt sich der Fokus: Erst nahm die Bedeutung des öffentlichen Verkehrs zu (Stichwort S-Bahn), und seit ein paar Jahren pointierter die Velopolitik.

Tsüri.ch nähert sich dem Komplex Verkehr mit einer thematischen Fokussierung auf Tempo 30 an. Anhand der Auseinandersetzung um dessen Einführung, zuerst 1991 auf Quartier-, mittlerweile auch auf überkommunalen Strassen lässt sich viel über Verkehrspolitik und ihre Wirkung lernen. Es geht um ideologische Zugänge, den öffentlichen Verkehr, Auto versus Velo, um Bauprojekte, Lärmschutz, Investitionen und vieles mehr.


Zum aktuellen Stand: Nachdem das Stimmvolk den kommunalen Verkehrsrichtplan (in dem Tempo 30 explizit im gesamten Stadtraum vorgesehen ist) letzten November mit 57.4 Prozent angenommen hat, verabschiedete der Stadtrat kurz danach einen konkreten Umsetzungsplan (3. Etappe), in dem detailliert beschrieben wird, wo in Zukunft wie schnell gefahren werden darf. Dieser Plan wird aktuell Strasse für Strasse, Quartier für Quartier von der Stadtverwaltung überprüft. Danach wird er in Kraft treten.

Unser Wahlredaktor Christoph Schneider hat zwei Gemeinderäte getroffen und sich mit ihnen über die Konsequenzen, Chancen und Grenzen von Tempo 30 unterhalten. Unter seiner Ägide haben gestritten:

Andreas (Andi) Egli, Gemeinderat FDP, Vizepräsident Gemeinderätliche Spezialkommission Sicherheit/Verkehr, FDP-Fraktionsvizepräsident Gemeinderat Zürich, selbständiger Rechtsanwalt

Sven Sobernheim, Gemeinderat GLP, Stv. Bauinspektor

Zürich hat nicht allzu viele Brücken, und über deren Schönheit lässt sich trefflich streiten. Brücken, die sich im Bau befinden, haben aber ihren ganz eigenen Charme. Daneben stehen sie in diesem Artikel für die Mühsal, wenn es darum geht, gemeinsame Positionen zu finden, gerade in der Verkehrspolitik.

Rudolf-Brun-Brücke, 1913. Bild: © Baugeschichtliches Archiv

Wo fällt Ihnen die Tempo 30 Regelung im Alltag besonders auf?

Andreas Egli (FDP): Wenn die Buslinie 46 die Ottenbergstrasse hochfährt, wird mit Tempo 30 kein Bus mehr ein Velo überholen können. Das heisst, wir fahren da dann regelmässig maximal mit Tempo 18 und die Fahrten werden noch viel länger dauern.

Sven Sobernheim (GLP): Jedesmal, wenn ich mit meinem E-Bike der Birchstrasse in Richtung Bucheggplatz mit 40 km/h unterwegs bin, werde ich von den überholenden Autos an die parkierten Fahrzeuge am Rand gedrängt. Hätten wir hier Tempo 30, würden wir alle im selben Verkehrsfluss fahren, ohne gefährliche Überholmanöver. Das Beispiel zeigt neben dem Bedarf nach Tempo 30 einen weiteren Handlungsbedarf auf, nämlich die Reduktion von Parkplätzen im Strassenraum.

Laut der Beratungsstelle für Unfallverhütung rettet Tempo 30 konkret Leben. In der Schweiz sterben lauft BfU pro Jahr 80 Personen auf Tempo-50-Strecken, 1900 werden schwer verletzt. Sind nicht alleine diese Zahlen ein Grund, Tempo 30 überall einzuführen?

Egli: Diese Berechnungen vom BfU sind doch etwas theoretisch - auf Autobahnen wird Tempo 120 gefahren und trotzdem sind es die sichersten Strassen. Die Rechnung «Temporeduktion gleich weniger Unfallrisiko» ist für mich eine politische Legende. Richtig ist allerdings, dass der Schaden von Unfällen bei geringerem Tempo auch geringer ist. Wichtiger als das Tempo scheint mir, dass im städtischen Strassenraum die verschiedenen Verkehrsteilnehmenden besser neben- und miteinander vorwärtskommen müssen. Beispiel Wipkingen: Ich finde ich den Versuch, mit dem breiten Mittelstreifen neue Wege des Nebeneinanders zu erproben, zwar sinnvoll. Da die Beleuchtung im Dunkeln aber sehr mangelhaft ist, wird es gefährlich. Nicht zuletzt auch wegen der vielen Velofahrenden, die in der Dunkelheit ohne Licht unterwegs sind.

Koexistenz ist lernbar.

Sven Sobernheim (GLP)

Sobernheim: Die Modellrechnungen der BfU kann man durchaus sehr ernst nehmen und sie nicht einfach als theoretische Legenden abtun. Bezüglich der Koexistenz der Verkehrsteilnehmer:innen bin ich hingegen sehr einig mit dir, wir müssen das alle wieder lernen, ich finde ja, wir haben eine Übersignalisation in der Stadt. Deshalb sollten wir solche Situationen wie in Wipkingen in möglichst allen Quartierzentren umsetzen, damit wir möglichst oft zu einem «Learning by Doing» kommen. 

A propos städtebauliche Massnahmen: Wenn wir die Hardbrücke nicht zu einer Tempo-30-Strasse machen, müssen wir diese mit Lärmschutzwänden versehen. Die Hardbrücke ist ja an sich schon eine Sünde, aber wenn wir mit diesen Massnahmen den Autobahncharakter weiter zementieren, wird es richtiggehend absurd.

Bahnhofbrücke, 1949. Bild: © Baugeschichtliches Archiv

Lärm macht krank, und der Lärmschutz wird durch Bundesgerichtsurteile immer stärker gewichtet, auch im Verkehr. Kann Tempo 30 hier nicht etwas zum Lärmschutz beitragen?

Egli: Dass Tempo 30 zu weniger Krankheitsfällen führt, ist gelinde gesagt Quatsch. Lärm ist dann ein Problem, wenn man nicht mehr schlafen kann. Und der Grund für weniger Schlaf ist nicht per se der Autoverkehr, der gleichmässig rauscht, sondern etwa Trams, die spätabends quietschend durch die Quartiere fahren; ich wohne selbst an einer Strasse mit Tramverkehr.

Sobernheim: Aber das bedeutet doch nicht, dass wir als Stadt deshalb nichts machen sollten. Drei Dezibel weniger halbieren den Lärm und mit Tempo 30 kommen wir näher an diesen Wert.

Egli: Falsch. Drei Dezibel weniger bedeutet eine Halbierung der Lärmquelle. Wenn du zwei Lautsprecherboxen hast, und du nimmst eine weg (Halbierung), dann reduziert sich die gefühlte Lärmwahrnehmung bloss um 20 Prozent. Das ist knapp im wahrnehmbaren Bereich.

Europabrücke, 1962. Bild: © Baugeschichtliches Archiv

Sobernheim: Abgesehen von der individuellen Lärmbelastung haben wir vor allem ein städtebauliches Problem: Zürich muss mehr bauen und verdichten und mit dem Lärmschutz hat der Druck auf die Bauprojekte zugenommen. Gewisse Ersatzneubauten sind nicht mehr möglich, weil der Verkehrslärm zu stark ist. Wir müssen die Strassen ruhiger machen, damit grössere Siedlungsprojekte überhaupt gebaut werden können.

Weg mit den veralteten Normen!

Andreas Egli (FDP)

Egli: Tempo 30 hilft hier wenig. «Dank» veralteter Normen sind in Zürich 140 Kilometer Hauptstrassen technisch gesehen über dem Immissionsgrenzwert. Generell Tempo 30 bringt auf sage und schreibe 3 Kilometern eine Lösung, Flüsterbeläge auf zusätzlichen 6 Kilometern. Nein, die Vorgaben des Bundes sollten so angepasst werden, dass in Städten wieder gebaut werden kann.

Sobernheim: Ein zusätzliches Problem ist, dass der Lärmschutz von Anwohner:innen missbraucht wird. Aktuell sehen wir das beim geplanten Ersatzneubau an der Winterthurerstrasse. Die Baugenossenschaft hat alles gemacht, die städtebaulichen Vorgaben (zum Beispiel Fenster gegen die Strasse hin) und den Lärmschutz zu vereinen. Trotzdem hat das vor dem Zürcher Verwaltungsgericht nicht gereicht. Das Stossende daran: Die Nachbar:innen haben den Lärmschutz vorgeschoben und nur rekurriert, weil sie die Grösse des Neubaus stört. Die Leidenden sind aber Bewohner:innen der noch bestehenden Siedlung, sie sind dem Strassenlärm weiter ausgesetzt.

Egli: Nochmals: Tempo 30 bringt da gar nichts, es sind die Lärmspitzen, die belasten.

Sobernheim: Mit Tempo 30 werden auch die Spitzen gebrochen, das heisst auch die extremen Belastungen sind weniger laut.

Regierungsrätin Carmen Walker Späh, die als Volkswirtschaftsdirektorin auch für den öV und den ZVV zuständig ist, hat grosse Bedenken, was die Qualität und die Mehrkosten einer flächendeckenden Einführung von Tempo 30 betrifft.

Sobernheim: Zur Qualität, also zur Verlangsamung des öffentlichen Verkehrs: Das Thema wird meines Erachtens grösser gemacht als es ist, in Hauptverkehrszeiten ist der öV sowieso mit maximal 30 km/h unterwegs.

Egli: Die effektiv gefahrenen Durchschnittsgeschwindigkeiten werden bei maximal Tempo 30 kleiner. Bei einzelnen Linien geht es um ein paar Sekunden, bei anderen kann es bis zu mehreren Minuten ausmachen und am Schluss stehst du übers Jahr gerechnet um Stunden länger im Tram.

Willst du in Zürich schnell vorwärtskommen, nimmst du die S-Bahn.

Sven Sobernheim (GLP)

Sobernheim: Andere Effekte machen hier den viel grösseren Anteil aus: Etwa wenn der öV im Stau steht, der vom motorisierten Individualverkehr (Autos, Motorräder etc.) verursacht wird. Oder der öV blockiert sich selber, wie jeweils an der Bahnhofstrasse zu sehen ist, wo sich die Trams regelrecht stauen. Ausserdem: Wenn du in der Stadt schnell vorwärtskommen möchtest, dann nimmst du die S-Bahn und sicher nicht Tram oder Bus.

Egli: Wie viele andere Zürcherinnen und Zürcher wohne ich nicht in der Nähe eines Bahnhofs. In Höngg sind wir zeitlich mittlerweile weiter weg vom Hauptbahnhof als Thalwil. Zu den Kosten: Die Stadt rechnet jährlich mit 20 Millionen Mehrkosten, um flächendeckendes Tempo 30 einzuführen, neben Anfangsinvestitionen von 70 Millionen. Den Hauptanteil machen neue Fahrzeuge, Personalkosten, Anpassungen von Infrastruktur aus. Wenn wir dieses Geld schon ausgeben, dann lieber für schnellere Verbindungen als für die Verlangsamung des öffentlichen Verkehrs.

Sobernheim: Wie vorhin schon gesagt, es ist nicht nur das Tempo 30, das die Mehrkosten verursacht, vielmehr ist es die Kumulation der verschiedenen Faktoren: Die erwähnten Staus und Selbstblockierungen wie auch «anspruchsvolle» Wendepunkte machen bereits jetzt 10 Millionen Franken jährlich aus.

Von hinten nach vorne: Europabrücke, Hardbrücke (im Bau), Eisenbahnviadukt, 1969. Bild: © Baugeschichtliches Archiv

Wenn wir in die Zukunft blicken, wie sehen Sie beiden die Verkehrssituation in der Stadt Zürich?

Egli: Batterieantriebe werden günstiger als Verbrennungsmotoren. Die Hersteller werden schon aus Kostengründen wechseln. Das heisst, wir werden – abgesehen von ein paar Oldtimern – auf Zürcher Strassen nur noch fossilfreie Fahrzeuge sehen. Der Individualverkehr wird in Form von Fahrzeugen, die zwischen einem Velo und einem Auto liegen, eher zunehmen. Sollte das autonome Fahren (selbstfahrende Fahrzeuge) kommen, wird Tempo 30 keine Rolle mehr spielen, da man dann im Auto arbeiten kann. Die grosse Herausforderung wird aber die Frage sein, wie wir die Stromversorgung für diesen grossen Mehrbedarf hinbekommen.

Der Zürcher Verkehr wird weitgehend fossilfrei.

Andreas Egli und Sven Sobernheim

Sobernheim: Beim fossilfreien Verkehr bin ich mit dir einig, es wird weiter motorisierten Individualverkehr (elektrisch) geben, vor allem für Gütertransporte. Im Gegensatz zu den Autobahnen werden wir in den Städten aber keine autonomen oder selbstfahrenden Fahrzeuge sehen. Geteilte Fahrzeuge werden eine wichtigere Rolle spielen, der Besitz von Fahrzeugen wird zurückgehen: Wenn ich 2035 einen Menschen transportieren möchte, brauche ich kein Auto mehr. Ausserdem werde ich in 15 Jahren auch bei Schnee velofahren und auf einen 24-Stunden-öV zurückgreifen können.

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