Zerstrittene Eltern: In Zürich steigt die Nachfrage nach begleiteten Treffen - Tsüri.ch #MirSindTsüri
account iconsearch

6. März 2024 um 05:00

Wenn sich Eltern streiten: In Zürich nehmen begleitete Treffen zu

In Zürich treffen immer mehr zerstrittene Eltern ihre Kinder unter Aufsicht. Über die Gründe und wie die zuständigen Stellen mit der steigenden Nachfrage umgehen.

In den Räumlichkeiten des Kinderhaus Artergut in Hottingen finden begleitete Besuchstreffen statt. (Foto: Fiorella Koch)

Marcos Eltern streiten sich schon lange. Sie haben sich Flüche und Verwünschungen an den Kopf geworfen, Marco hat es von seinem Zimmer aus gehört. Dass seine Eltern sich trennen werden und sein Vater ausziehen wird, hat ihm seine Grossmutter erklärt. Seit diesem Gespräch hat er seinen Vater nicht mehr gesehen. Doch nun soll er ihn wieder sehen können – bei einem «Begleiteten Besuchstreff» (BBT) in einem fremden Haus. Marcos Geschichte ist fiktiv und doch steht sie für die Geschichten zahlreicher Kinder von zerstrittenen Eltern im Kanton Zürich. 

Begleitete Besuchstreffen sind ein Angebot der Stadt und des Kantons Zürich. An drei Standorten in Zürich und Winterthur können zerstrittene Eltern wie die von Marco ihr Besuchsrecht ausüben. Das Gericht oder die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) können Besuche in einem BBT anordnen. Eltern können ein Treffen aber auch freiwillig in Anspruch nehmen. Das Ziel ist es, eine eigene Lösung für die zukünftigen Besuche zu finden. Die zerstrittenen Eltern können jeweils samstags oder sonntags überlappend oder zeitlich versetzt ihre Kinder an einem der Standorte übergeben oder einen Besuch vor Ort durchführen. Sie werden dabei von Fachpersonen begleitet.

Gründe für die Anordnung eines BBT

  1. Konflikt zwischen den Eltern beim Ausüben des Besuchsrechtes
  2. Verdacht auf sexualisierte Übergriffe
  3. Entführungsverdacht
  4. Verdacht auf häusliche Gewalt gegenüber dem Kind
  5. Verdacht auf eine psychische Erkrankung der Eltern
  6. Beschluss durch die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) oder Gerichte

Neben den Beschlüssen durch die KESB oder Gerichte können sich Eltern auch freiwillig für BBT anmelden. Das sei aber eher die Ausnahme, wie die Sozialen Einrichtungen und Betriebe mitteilen.

Schritt für Schritt durch ein begleitetes Treffen 

Begleitete Besuchstreffen sind nicht allen geläufig. Katharina Volkart ist die Leiterin des BBT in Zürich und zeigt, wie ein solches Treffen im Kinderhaus Artergut abläuft.

Zunehmender Anstieg in der Nachfrage

Marco hat sich gefreut, seinen Vater wiederzusehen. Er konnte mit ihm im Garten eine Schneeballschlacht machen. Seine Betreuerin war nett, hatte aber auch viel zu tun. Denn neben ihm und seinem Vater waren auch viele andere Eltern und Kinder da. «Auf drei bis vier Mitarbeitende pro Tag haben wir Platz für 35 Personen – Kinder und besuchende Elternteile. Die Erfahrung zeigt, dass meistens einige Personen nicht auftauchen, weshalb ich oft leicht überbuche», sagt Katharina Volkart. Sie leitet den BBT im Kinderhaus Artergut seit über drei Jahren, arbeitet aber schon seit mehr als 25 Jahren in unterschiedlichen BBTs.

Trotz der Familien, die nicht auftauchen, hat sie in den letzten drei Jahren ein Wachstum in der Nachfrage nach solch begleiteten Treffen wahrgenommen. «Seit 2021 sind die Anmeldungen für beide Standorte in der Stadt Zürich in die Höhe geschossen», sagt sie. 

(Foto: Fiorella Koch / Soziale Einrichtungen und Betriebe Zürich)

Volkart vermutet verschiedene Gründe für diese gestiegene Nachfrage. Zum einen glaubt sie, dass Eltern ihr Besuchsrecht öfter einfordern würden als früher. «Die Eltern wenden sich eher an eine Anwält:in oder an eine soziale Einrichtung, um ihr Recht geltend zu machen», sagt sie. Dieses angesprochene Recht steht im Zivilgesetzbuch und lautet folgendermassen: «Eltern, denen die elterliche Sorge oder Obhut nicht zusteht, und das minderjährige Kind haben gegenseitig Anspruch auf angemessenen persönlichen Verkehr.»

Katharina Volkart arbeitet seit mehr als 25 Jahren in diversen BBTs. (Foto: Fiorella Koch)

Zum anderen nennt Volkart den steigenden Schutz der Kinder bei Verdachtsfällen von beispielsweise Gewalt, psychischen Erkrankungen der Eltern oder sexuellem Missbrauch in der Familie. 

Einen weiteren Grund für die steigende Nachfrage sieht Volkart in der zunehmenden Zahl der Trennungen. Denn je mehr familiäre Trennungen es gibt, desto mehr zerstrittene Eltern müssen oder wollen begleitete Treffen in Anspruch nehmen. Das Bundesamt für Statistik spricht zwar mittlerweile von einer stabilisierten Scheidungsrate. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass die Schweizer Bevölkerung immer seltener heiratet und Trennungen von unverheirateten Paaren somit nicht mitgezählt werden.

Volkart erwähnt zudem eine deutliche Zunahme von Eltern mit psychischer Erkrankungen, welche begleitete Treffen in Anspruch nehmen. Dabei fällt ihr auch auf: «Im Gegensatz zu früher gehören heute auch Frauen zu den besuchenden Elternteilen. Sie machen derzeit ungefähr ein Viertel aus», sagt Volkart.  

Züri Briefing abonnieren!

Jeden Morgen um 6 Uhr findest du im Züri Briefing kuratierte News, Geschichten und Tipps für den Tag. Persönlich. Informativ. Unterhaltsam. Bereits 10'000 Menschen lesen mit – und du?

Wie das Team mit dem Ansturm umgeht

Aktuell betreuen Katharina Volkart und ihr Team ungefähr 100 Familien. Diese Familien nutzen das Angebot durchschnittlich für ein halbes Jahr. Doch auch diese Zahl steige, sagt Volkart. Um mit der erhöhten Nachfrage klarzukommen, sei ein hohes Engagement nötig. «Ich versuche, die Effizienz zu steigern und die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Ämtern zu optimieren.»

Ihr Team müsse zudem mehr Schulungen machen, um mit der Komplexität der Fälle mithalten zu können. Auch werde die Begleitung anspruchsvoller, weil die Eltern höhere Ansprüche mitbringen und Anwält:innen im Hintergrund mitwirken würden. «Wir müssen die Protokolle viel genauer führen als früher.» Für die Zukunft sieht Volkart keine Verlangsamung der steigenden Nachfrage. Auch sei momentan kein Ausbau des Angebots geplant. 

 «Der Fokus muss auf dem Kind liegen, denn dieses hat immer die leiseste Stimme.»

Katharina Volkart

Ein Frühling als Neuanfang

Von Wachstumsraten und Zukunftsaussichten weiss Marco noch nichts. Ihm ist nur wichtig, dass er beide seiner Eltern sehen kann. Er hat sich mittlerweile an die BBT gewöhnt und hat sich sogar mit einigen der anderen Kinder angefreundet. Jetzt freut er sich auf das nächste Treffen, wo er hoffentlich mit seinem Vater die Frühlingsluft im Garten geniessen kann. 

Volkart erklärt, dass sich die Mitarbeitenden immer Mühe geben, gute Gefühle bei den Eltern und Kindern zu erwecken. Wichtig ist ihr, dass es bei den BBT nicht in erster Linie um die Mütter oder Väter geht. Sie sagt: «Der Fokus muss auf dem Kind liegen, denn dieses hat immer die leiseste Stimme.»

Auf neutralem Gebiet: Wo zerstrittene Eltern ihre Kinder treffen. (Foto: Fiorella Koch)

«Ein Paarkonflikt darf nicht auf dem Rücken von Kindern ausgetragen werden»

Immer mehr getrennte Eltern benötigen also Hilfe bei der Ausübung des Besuchsrechts, in Form von «Begleiteten Besuchstreffen». Die Kinder- und Jugendpsychologin Stefania Curschellas erklärt, wie sich dieser Trend auf die betroffenen Kinder auswirken könnte.

Fiorella Koch: Die KESB oder das Gericht meldet zerstrittene Familien im Falle einer Trennung für einen BBT an. Dort können sie mit professioneller Begleitung ihr Besuchsrecht wahrnehmen. Ist diese Lösung von Vorteil für das Kind?

Stefania Curschellas: Für ein Kind ist es sehr wichtig, dass es die Beziehung zu seinen Eltern nicht verliert. Ein Besuchstreffen ermöglicht es dem Kind, die Beziehung zum Elternteil an einem sicheren und neutralen Ort aufrechtzuerhalten. Das Setting gibt allen Beteiligten Raum und Zeit. Dadurch kann das Elternteil mit mehr Feinfühligkeit auf das Kind eingehen. Zudem werden die Besuchstreffen von ausgebildeten Fachpersonen begleitet, die in einer unsicheren und anspruchsvollen Situation Unterstützung bieten können. Also ja, ein Begleiteter Besuchstreff ist für das Kind, wie auch für die Eltern von Vorteil. 

Jedes Elternpaar hat mit Konflikten zu kämpfen. Aber wie genau leiden Kinder unter den Konflikten ihrer Eltern?

Wie Eltern streiten, beeinflusst ein Kind unmittelbar, aber auch längerfristig. Das Verhalten der Eltern hat eine Vorbildfunktion für die Kinder. Die Art, wie die Eltern Konflikte austragen, übernehmen die Kinder oft, wenn sie erwachsen sind. 

Bestimmte Eltern werden in ihrer Beziehung an einen Punkt kommen, an dem sie ihre Konflikte nicht mehr lösen können. Sie werden hochstrittig. Heisst sie stecken in einer konfliktreichen Treunnung und haben mit meist lang anhaltenden Auseinandersetzungen zu kämpfen. Wie beeinflusst das ihr Kind?

Wenn ein Kind Zeuge eines aggressiven Konflikts wird, führt das kurzfristig zu starkem körperlichen Stress (wie Unruhe, Kopf- oder Bauchschmerzen). Gleichzeitig beschäftigt der Konflikt das Kind emotional. Das heisst, dass das Kind sich Sorgen macht, es fühlt sich ängstlich, traurig oder schämt sich. Manchmal denkt das Kind, dass es zwischen den Elternteilen vermitteln oder sich für eine Seite entscheiden muss. Das ist ein massiver innerer Loyalitätskonflikt.

Wie beeinflusst Hochstrittigkeit die Beziehung zwischen den Eltern und dem Kind?

Eltern können sehr absorbiert sein, wenn sie sich viel und häufig streiten. Sie sind mit ihrem eigenen Konflikt zu beschäftigt, um feinfühlig auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen. Das wirkt sich negativ auf die Beziehung zwischen ihnen, aber auch auf die Entwicklung des Kindes aus.

Wie können Eltern sicherstellen, dass die Erfahrungen des Kindes bei Begleiteten Besuchstreffen positiv sind?

Es ist wichtig, dass der Konflikt der Eltern nicht auf dem Rücken des Kindes ausgetragen wird.
Daher sollte man dem Kind klarmachen, dass der Konflikt nichts mit ihm zu tun hat. Während eines Besuchstreffens sollten die Eltern also aktiv Zeit mit dem Kind verbringen, das andere Elternteil nicht schlecht reden und dem Kind ihre Unterstützung vermitteln. 

Fiorella Koch studiert Kommunikation mit der Vertiefung Journalismus an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Dieser Beitrag entstand im Rahmen der Werkstatt «Multimediales Storytelling».

Das könnte dich auch interessieren