Zwei Psychiatrie-Erfahrene: «Die Leute sehen nur, dass man mir nichts ansieht» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Zwei Psychiatrie-Erfahrene: «Die Leute sehen nur, dass man mir nichts ansieht»

Beinbruch oder Burnout? Noch immer sind nicht alle Krankheiten in der Gesellschaft gleich gut akzeptiert. Ein Gespräch über das Tabuthema psychische Gesundheit.

Katja und Rafael reden gerne über ihre persönlichen Erfahrungen, solange sie nicht stigmatisiert werden. (Foto: Pascale Amez)

Manche behaupten, Zürich höre beim Milchbuck auf. Dass das nicht stimmt, wissen wir längst. Doch um deinen Horizont über die Stadtgrenzen noch ein bisschen mehr zu erweitern, wählen wir für dich jeden Sonntag eine Perle von unseren verlangsunabhängigen We.Publish-Partnermedien aus.

Dieser Text ist bereits auf unserem Partnerportal Hauptstadt erschienen. Die Hauptstadt gehört wie Tsüri.ch zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.

Es ist Winter, die dunkelste Zeit des Jahres. Auch heute dringen die Sonnenstrahlen fast nicht durch die dicken Wolken. Rafael* (39) und Katja* (31) haben beide Psychiatrie-Erfahrung – und sie haben sich bereit erklärt, darüber zu sprechen. Auch, um mit Vorurteilen aufzuräumen. Um aufzuzeigen, was das Stigma «Psychiatrie-Erfahrung» heute noch bedeutet. Beide, Rafael und Katja, geben beim Recovery College in Bern Kurse. Das Recovery College ist von den Universitären Psychiatrischen Diensten (UPD) ins Leben gerufen worden. Es sieht Krisenerfahrung auch als Chance, indem Psychiatrie-Erfahrene gemeinsam mit Fachpersonen Kurse leiten. Das Kursprogramm steht allen Interessierten offen. Es ersetzt keine Therapie, beschäftigt sich aber mit psychischer Gesundheit in all ihren Facetten.

Rafael verliess seine Wohnung während eines Jahres praktisch nie. (Foto: Pascale Amez)

Marina Bolzli: Die Tage sind kurz, es gibt wenig Sonne. Ist es jetzt besonders schwer für Sie?

Rafael: Ich habe mehr Mühe mit dem Sommer. Wenn alle draussen sind, habe ich das Gefühl, ich müsse etwas unternehmen, weil das die Erwartungshaltung der Gesellschaft ist. Und wenn es wieder kälter wird, habe ich die Legitimation, drinnen zu sein. Ich habe den Winter mega gern, weil ich mich nicht so getrieben fühle.

Fällt Ihnen nicht die Decke auf den Kopf?

Rafael: Überhaupt nicht, ich kann ganze Tage in der Wohnung verbringen und habe null Probleme damit.

Katja: Bei mir ist es genau gleich. Ich mag es, wenn es lange dunkel ist. Ich habe es viel lieber ein bisschen versteckt. Im Sommer geht es mir nicht so gut. Jetzt habe ich aber einen Freund, der mega aktiv ist. So ergänzen wir uns gut.

Rafael: Die Winterdepression bekommt man als Mensch mit Psychiatrieerfahrung schnell angehängt. Aber es gibt eben auch eine Sommerdepression.

Ich kenne Ihre Geschichte nicht – darf ich alles fragen, was ich will?

Katja: Ich finde es super, wenn Leute mich fragen, aber es kommt darauf an, aus welchem Grund. Haben sie ein echtes Interesse an meiner Person oder fragen sie, weil sie mich als Anschauungsobjekt einer Störung sehen?

Merkt man den Unterschied?

Katja: Ja, es gibt Leute, die haben mal ein Youtube-Video über ein Trauma gesehen und meinen dann, sie wissen alles darüber. Die haben so einen Blick, das spürt man einfach. Ich bin sowieso sehr feinfühlig, ich fühle mich schnell angegriffen. Wenn jemand mich aus diesem Grund fragt, rede ich nicht darüber. Das läuft nur auf eine Stigmatisierung hinaus.

Was heisst das?

Katja: Dass sie zum Beispiel meinen, das Krankheitsbild Borderline ganz genau zu kennen.

Heute arbeitet Rafael in einem Plattenladen und beim Radio. (Foto: Pascale Amez)

Wie sehen Sie das, Rafael?

Rafael: Eigentlich gleich. Meine Diagnose ist Bipolarität – und die kann ganz unterschiedliche Ausprägungen haben.

Katja: Deshalb finde ich Dokus ganz schwierig, auch wenn sie gut gemeint und gut gemacht sind. Wir können auch beide Husten haben, aber es ist ein ganz anderer Husten. Ich kann Ihnen meine Arme zeigen, ich habe keine Narben, weil ich mich geritzt hätte. Darum wurde mir auch über Jahre die falsche Diagnose gestellt. Seit ich 12 war, dachten alle, ich hätte Depressionen; erst mit 28 Jahren bekam ich die Diagnose Borderline.

Sie haben beide eine Diagnose, sind Sie froh darüber?

Rafael: Ich war mit meiner Diagnose irgendwann im Reinen. Ich fand, Bipolarität beschreibt eigentlich am besten, was ich habe. Aber es fühlt sich in unserer Gesellschaft halt an wie ein Stempel. Manchmal ist es schwierig mit dem Stempel, andererseits kann ich sagen, ich bin mit den Medikamenten richtig eingestellt, seit etwa sieben, acht Jahren geht es mir relativ gut.

Katja: Für mich war die Diagnose ein Befreiungsschlag. Ich konnte mir plötzlich Verhaltensweisen von mir erklären. Ich habe kein selbstverletzendes Verhalten, sondern selbstsabotierendes Verhalten. Ich mache Beziehungen zu Menschen kaputt. Es ist schwierig, das zu unterdrücken und damit umzugehen.

Wie offenbart man sich in der Öffentlichkeit?

Rafael: Mein erster Klinikaustritt war der Horror. Ich kam mir vor, wie wenn ich ein Holzbrett vor dem Kopf tragen würde, auf dem meine Diagnose steht. Und die Leistungsgesellschaft, in der wir leben, ist nicht unschuldig daran. Es bereitet mir zum Beispiel Mühe, jemandem zu sagen, dass ich teilweise IV beziehe – wegen meiner Diagnose und diverser gescheiterter Wiedereingliederungsversuche. Ich lebe von den Steuern der anderen, das Sozialsystem ist ja dazu da, einen aufzufangen. Aber sobald man persönlich damit konfrontiert ist, bereitet es Mühe.

Katja: Darf ich dich etwas fragen: Bist du manchmal auch zu gesund, um krank zu sein?

Rafael: Ich mache Radio, ich legte jahrelang als DJ auf, ich arbeite auf freiwilliger Basis in einem Plattenladen. Aber es gibt Leute, die finden, ich sollte nichts machen, weil ich ja krank sei, ich müsse einfach daheim bleiben. Sie sehen nicht dahinter. Sie sehen nicht, dass ich mich an einem Morgen vielleicht übergeben muss, weil ich nicht arbeiten mag, weil ich nicht zum Radio gehen will. Oder dass ich in diversen Clubs in Bern nicht mehr gebucht werde, weil ich drei Stunden vor dem Auftritt nicht auftauchte. Das sehen die Leute nicht, die sehen immer nur, dass man mir ja nichts ansieht.

Katja: Das geht mir auch so, man sieht uns nicht an, dass wir krank sind. Auch in einer Klinik sieht man vielen Menschen nicht an, dass sie krank sind. Für mich ist jeder Schritt schwierig, ich mache einfach, weil ich muss. Ich leistete immer, weil ich es so gelernt habe. Und als ich es nicht mehr konnte, habe ich mich sehr geschämt. Dabei bin ich eigentlich nie fähig dazu gewesen. Ich überspielte es, ehe ich zusammenbrach. Und das verstehen viele bis heute nicht. Dabei kann ich manchmal nicht aufstehen, ich tauche manchmal einfach nicht zu einer Verabredung auf. Und dann mache ich mir einen Kopf, dass ich es nicht schaffe. Und darum: Aufklärung ist so wichtig. Aufklärung in der Gesellschaft und auch in den Schulen. Die älteren Generationen sind so resistent dagegen.

Rafael und Katja mögen beide lieber den Winter als den Sommer. (Foto: Pascale Amez)

Aber psychische Probleme gibt es auch dort.

Katja: Ja, aber sie werden unterdrückt. Ich glaube, viele ältere Menschen durften nicht krank sein, es war noch anders. Heute darf man sich mehr mit sich beschäftigen und an sich arbeiten.

Rafael: Viele gehen ja auch nach Corona mit Grippe ins Büro. Wie soll ich denen sagen, dass ich nicht arbeiten kann wegen meiner Psyche? Das Körperliche wird immer noch über das Psychische gestellt. Und das ist das Problem: Wenn du ein Bein brichst, gehst du sofort ins Spital, hast eine Operation und einen Gips. Wenn du psychische Probleme hast, wartest du zum Teil Jahre. Das würdest du mit einem gebrochenen Fuss nicht machen. Aber eine psychiatrische Klinik ist ja eigentlich dasselbe wie ein Spital: Beide sind dazu da, dich wieder gesund zu machen. Und dieser Druck, dass du arbeiten gehen musst, das war für mich ein Grund, warum ich die Wiedereingliederung nicht geschafft habe. Ich hatte das Gefühl, ich muss jetzt wieder funktionieren, ich darf nicht krank sein, weder psychisch noch physisch. Die Leistungsgesellschaft stellt Erwartungen an dich, du musst ein Ideal erfüllen. Modelle wie das Grundeinkommen oder eine Viertagewoche würden helfen, wären der psychischen Gesundheit zuträglich. Und dass Leistung nicht immer mit Lohnarbeit gleichgesetzt wird.

Katja: Für mich heisst Leistungsgesellschaft, dass du nicht mehr auf deine Instinkte hören darfst. Heute geht es mir schlecht, ich gehe trotzdem arbeiten. Morgen geht es mir noch schlechter, ich gehe trotzdem. Ich muss, ich muss, ich muss. Was darf ich? Am Wochenende zwei Tage saufen gehen, damit mein Druck abgebaut ist und ich am Montag wieder funktionieren kann? Es macht uns alle krank. Ob wir jetzt «normal» sind oder nicht. Die wenigsten haben einen Job, den sie wirklich wollen und der ihnen Spass macht. Und das ist gefährlich. Ich sehe die Jüngeren, es fängt schon dort an. Wir verlieren den Draht zu uns selbst und unserem Gegenüber.

«Wir sind ein zu grosses Risiko für einen Betrieb. Weil wir ausfallen könnten.»

Rafael

Aber eigentlich sagten Sie doch, man dürfe sich mehr mit sich beschäftigen…

Rafael: Ich habe das Glück, dass es beim Plattenladen, wo ich arbeite, voll akzeptiert ist, wenn ich nicht arbeiten kann. Das ist nicht selbstverständlich. In der Gesellschaft ist das noch nicht richtig angekommen.

Katja: Für mich war es auch schwierig, auszusteigen. Ich habe vorher im Büro gearbeitet, hatte das KV gemacht. Mir wurde gekündigt, als ich aus der Klinik kam. Mein Chef kam zwar noch in die Klinik und hat mit meiner Therapeutin geredet, sagte, es sei alles gut, aber dann kündigte er mir. Er sagte, aus wirtschaftlichen Gründen. Und schrieb meine Stelle wieder aus.

Rafael: Das tut weh.

Katja: Ich war zu ehrlich.

Rafael: Wir sind ein zu grosses Risiko für einen Betrieb. Weil wir ausfallen könnten. Oder weil wir die Krankheit als Ausrede für alles brauchen könnten. Wobei ich denke, dass wir beide das nicht machen würden.

Katja: Ich finde, jeder und jede bräuchte einen Haustherapeuten analog zur Hausärztin. Denn Krisen haben alle.

Rafael: Ja, Krisen können das Leben bereichern. Als es mir richtig schlecht ging, sagte ich mir: Jetzt machst du etwas. Vorher war ich während eines Jahres praktisch nicht aus dem Haus gegangen. Am Briefkasten klebte ein Zettel der Post: Verstorben? Die Post ging ich manchmal holen, ich sortierte die Briefumschläge, stapelte sie, aber öffnete sie nicht. Ich wohnte in einer Wohnung in Zollikofen, mein Vermieter war der Vater eines Schulfreundes. Er hat ein Jahr lang keine Miete von mir bekommen. Er hat immer gesagt, wir schauen dann. Aber irgendwann sagte er: Hey, du musst etwas machen. Und endlich rief ich auf dem Sozialamt an, sagte, ich sei der und der und meine Situation sei die und die. Sie haben mich eingeladen. Ich ging mit drei Papiersäcken voller geschlossener Kuverts dorthin.

Katja: Hast du das alleine geschafft?

Rafael: Ja. Das klingt jetzt hart: Andere sind an diesem Punkt und wollen nicht mehr leben. Ich war an diesem Punkt und wusste, weiter hinunter geht es nicht. Ich ging mit diesen Papiersäcken aufs Soz. Sie sagten, es ist gut, sind Sie da, aber Sie brauchen eine Tagesstruktur und die können Sie sich nicht mehr selber geben. Wir empfehlen einen Klinikaufenthalt. Und ich war so froh. Sie liessen mich mit der Ambulanz in die Waldau fahren und ich habe es sofort akzeptiert. Ich wusste, ich möchte mein Leben verändern, ich möchte nicht mehr leben, wie ich vorher gelebt habe.

Katja: Mit deiner Diagnose Bipolarität fallen ja viele auch wieder zurück, weil es diese Hochs und Tiefs gibt – und weil man die Hochs wieder fühlen will. Ich finde es noch krass, dass es bei dir nicht so ist.

Rafael: Doch, ich ging auch mal mein ganzes Geld abheben. Ich fühlte mich wie ein Popstar, dabei hatte ich 500 Franken oder so. Und ich gab alles aus.

Katja möchte auf den Bildern lieber nicht erkannt werden. (Foto: Pascale Amez)

Was wirkt von der grossen Krise bis heute nach?

Rafael: Ich habe ein Jahr keine Rechnungen bezahlt und dadurch recht viele Schulden. Jetzt wird mein Haus grundsaniert und ich muss raus. Mit meinem Betreibungsregisterauszug kommen existentielle Ängste. Ich konnte nun mit dem Vermieter einen Deal aushandeln, dass ich intern eine neue Wohnung bekomme. Manchmal läuft es auch gut.

Katja: Aus meiner Krise entstand zum Beispiel auch, dass ich ein Atelier habe und male. Das hilft mir sehr. Und es hilft mir, es nicht zu Hause zu machen. Meinen eigenen Rhythmus zu haben. Ich bin gerne nachts wach, ich fühle mich sicher in der Dunkelheit. Es hilft mir, wenn ich meine eigenen Regeln machen kann. Im Mondlicht ist es mir viel heimeliger als wenn es hell ist.

Rafael: Da sind wir wieder bei der Gesellschaft und deren Erwartungen.

Katja: In der Krise hilft es mir überhaupt nicht, wenn Leute mir sagen, komm, sieh es doch mal positiv.

Rafael: Komm, geh doch mal raus.

Katja: In diesem Moment hilft mir, wenn ich mich zurückziehe, wenn es dunkel ist. Mir hilft es, wenn Leute mir Angebote machen. Immer wieder.

Rafael: Was auch hilft: Wenn jemand fragt, was mir im Moment helfen würde. Wahrscheinlich antworte ich dann: Nichts. Aber die Person gibt mir eine Option und ich ihr.

*Aufgrund der immer noch herrschenden Stigmatisierung werden die Gesprächsteilnehmer*innen nur mit Vornamen genannt.

Save the Date: Fokusmonat «psychische Gesundheit»

Jede zweite Person ist im Verlauf ihres Lebens von einer psychischen Krankheit betroffen. Trotzdem kämpfen Betroffene mit Stigmatisierung und fehlenden Therapieplätzen. Grund genug, um das Thema einen Monat lang in den Fokus zu stellen. Während einem Monat befassen wir uns intensiv mit dem Thema psychische Gesundheit. Nebst spannenden und aufschlussreichen Artikeln, erwarten dich auch folgende Veranstaltungen:

  1. Pitch-Night: Perspektiven auf psychische Gesundheit
  2. Gestört erzählt: Der Mensch hinter der Diagnose
  3. Workshop: Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz

Hier gibt es Hilfe

  1. Die Dargebotene Hand bietet unter der Nummer 143 ein Krisentelefon an (neu auch in Englisch).
  2. Die Notfallpsychiatrie des Universitäts Spital Zürich ist während 24 Stunden erreichbar: +41 44 255 11 11
  3. 147 unterstützt junge Menschen, wenn sie kleine oder grosse Sorgen, Probleme oder Fragen haben. 
  4. Die Krisenintervention (KIZ) mit ihrem ambulanten und kurzzeit-stationären Angebot bietet als Ergänzung zu notfallpsychiatrischen Diensten Menschen in aussergewöhnlichen Lebenssituationen die Möglichkeit für Gespräche und psychiatrische Behandlung.
  5. Hier findest du weitere Notfallnummern und Adressen.

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