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21. April 2019 um 09:00

«Homos sind perverse Schweine und gehören kastriert»

Heute ist eine solche Aussage, wie sie mir ein fremder Mann einmal um die Ohren geschmettert hat, in der Schweiz nicht strafbar – und soll gemäss über 70’000 Schweizer Bürger*innen auch zukünftig nicht strafrechtlich verfolgt werden. Letzten Dienstag wurde im SRF Club über die kommende Abstimmung zur Ausweitung der Rassismus-Strafnorm diskutiert. Mit dabei waren unter anderen «Weltwoche»-Redaktor Rico Brandle und der Philosoph Philipp Tingler.

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Sie waren mit behelfsmässigen Maulkörben ausgestattet und machten Mienen, als sei es bereits um unsere Demokratie geschehen. «Nein zu diesem Zensurgesetz» nannte sich das Referendumskomitee. Am 8. April haben Vertreter*innen bürgerlicher Organisationen die erforderliche Anzahl Unterschriften bei der Bundeskanzlei eingereicht, damit das Schweizer Stimmvolk darüber abstimmen muss, ob zukünftig auch Homophobie in die Rassismus-Strafnorm aufgenommen werden soll.

Diskussion im SRF Club

Letzten Mittwoch wurde nun im SRF Club über die Ausweitung der Rassismus-Strafnorm diskutiert. Mit dabei war der Politologe und Sprecher der EDU Samuel Kullmann: «Ich finde nicht, dass Homosexualität widernatürlich ist, aber sie ist nicht von der Natur vorgesehen.» Eine Aussage von aufflammender Klarheit. Da kann sogar die Notre-Dame einpacken. Kullmann spricht von einer «Gesinnungsdiktatur» und davon, dass dieses Verbot missbraucht werden könne. Ein valides Argument. Heutzutage werden ja auch Menschen aufgrund ihrer rassistischen Äusserungen belangt. Diese Heerscharen von Schwarzen, die da ständig auf ihrer Menschenwürde rumpochen. Es sind wirklich unsägliche Zustände.

Ich finde nicht, dass Homosexualität widernatürlich ist, aber sie ist nicht von der Natur vorgesehen.

Samuel Kullmann

Etwas zusammenhängender argumentierte Philipp Tingler. Selber schwul, aber gegen die Ausweitung, wie er gleich zu Beginn klarstellte: «Ich kann verstehen, dass sie gerne einen Homo, der das ablehnt, hier haben – aus dramaturgischen Gründen.» Er weiss um die Dramaturgie eines solchen Clubs und er weiss auch um die mediale Präsenz, die seine Aussage ihm bescheren wird. Aufmerksamkeitsökonomie, Lektion 2 (direkt nach Sex): Provokation.

Alles reine Identitätspolitik

Tingler meint, dass die Ausweitung der Strafnorm vor allem ein identitätspolitischer Akt sei. Es gehe nur noch um unsere «feinen Unterschiede» (ein Verweis auf den Soziologen Pierre Bourdieu) und nicht mehr darum, was uns vereint.

In der aktuellen Debatte wird Identitätspolitik weitgehend abwertend verwendet. «Identitätspolitik» an sich ist jedoch ein wertfreier Begriff und bedeutet so viel wie: «Sich für die Rechte einer spezifischen Gruppe einzusetzen». Für Menschen also, die aufgrund identitärer Zuschreibungen wie Rasse, Geschlecht, Ethnie, sexuelle Orientierung etc. diskriminiert werden.

Dass eine Mehrheit (die diskriminiert) einer Minderheit vorwirft, sie setze sich für ihre Rechte ein (betreibe Identitätspolitik), ist ziemlich zynisch. Die Minderheit würde dies ja nicht tun, wenn sie von der Mehrheit respektiert würde.

Öffnen statt spezifizieren

Tingler möchte die Strafnorm – anstatt zu spezifizieren und weitere «identitätspolitische» Kategorien anzufügen – öffnen. Die Strafnorm solle allgemein formuliert sein, sodass alle Formen von Hass bestraft werden könnten. In Theorie eine tolle Idee. Dieses Vorgehen würde funktionieren, wenn wir in einer Gesellschaft lebten, in der Homophobie nicht tief und strukturell verankert wäre.

«Schwul» ist immer noch das beliebteste Schimpfwort auf dem Pausenplatz. Homosexuelle haben eine achtfach höhere Wahrscheinlichkeit, Suizid zu begehen und eine fünffach höhere Wahrscheinlichkeit, depressiv zu werden. Und dies liegt nicht daran, dass sie in ihrem Kern sensiblere Wesen seien als heterosexuelle Menschen.

Solange das so bleibt, ist es zweifellos notwendig, Homophobie im Gesetzestext zu verankern. Denn die Richter*innen, die die «offene» Strafnorm (nach Tingler) anwenden würden, sind auch so aufgewachsen wie wir. Auch sie sind nicht von Homophobie gefeit.

Tingler argumentiert aus einem Blickwinkel, der in Theorie spannend und wichtig ist für die Frage, wie wir uns als Individuen definieren wollen. Tingler vermischt jedoch Philosophie und Realpolitik.

Tinglers Bubble-Brille

Homosexualität, so Tingler, sollte nichts sein, worauf wir unsere Identität gründen. Sein Homosexuellsein sei gleichbedeutend mit seinem Linkshändlersein – woran man sieht, dass Tingler aus seiner engen Bubble heraus argumentiert. In seiner Realität, so Tingler, höre er nur Menschen, die sagten: «Was? Ihr könnt immer noch nicht adoptieren?» Dies zeigt, dass er nicht in Berührung kommt mit Menschen ausserhalb seines sehr gebildeten, wohlhabenden Intellektuellenkreises. In weiten Teilen und anderen sozialen Schichten der Schweiz wird Homosexualität immer noch als etwas «Gruusiges» angesehen und geächtet. Gewalt und Hass gegen Homosexuelle ist an der Tagesordnung. Auch in der Schweiz, nicht nur in Brunei. Auch im Jahr 2019.

Tingler kann noch so lange mit dem erhobenen Identitätspolitik-Zeigefinger kommen. Er kann den Schwulen und Schwarzen und Frauen noch so lange sagen: Baut eure Identität nicht auf eurer Minderheiten-Zugehörigkeit auf! Den Leuten, die diese Minderheiten als minderwertig ansehen, ist es egal, auf welchem Sandkasten wir unsere Identitäten bauen. Frauen bekommen weniger Lohn, egal, ob sie sich mit ihrem Frausein identifizieren oder nicht. Schwarze haben eine viel tiefere Lebenserwartung.

Nur für die anderen bin ich anders

Ich fühle mich nicht schwul, wenn ich Sex mit einem Mann habe. Ich fühle mich schwul, wenn ich meinen Freund an der Bushaltestelle küsse, wo wir gesehen werden. Ich bin nicht schwul. Jedenfalls nicht für mich selbst. Ich bin nur im Blick der anderen schwul. Oder, wie Rosa von Praunheim es ausdrückt: «Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt.» Ich bin so, wie ich bin. Immer mal wieder anders. Aber weil ich Hass und Gewalt von aussen erlebe, muss ich wohl oder übel aus dieser zugeschriebenen Identität handeln, wenn ich meine Rechte gegenüber den Mitmenschen verändern will.

Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt.

Michel Focault

Der Unterschied zwischen Handeln und Sein

Der Schriftsteller James Baldwin (der schwarz und schwul war) sagte: «I am not your negro.» Ich bin nicht euer Neger. Ich verweigere mich eurer Zuschreibung. Trotzdem setzte er sich an vorderster Front für die Rechte von Afro-Amerikaner*innen ein.

Im Anschluss an Baldwin wäre es wünschenswert, wenn wir eine Art Doppelbewusstsein entwickeln könnten. Einerseits sind wir private Subjekte. Und als solche sind wir fluide, vielschichtige, in Beziehungen verwobene Wesen. Ob wir es wollen oder nicht, sind wir aber auch politische Subjekte. Und also solche werden viele von uns in irgendeiner Weise strukturell unterdrückt. Um dies zu ändern, müssen wir die Identität, die uns zugeschrieben wird, annehmen – und handeln.

Vielleicht schaffen wir also den Quantensprung und können zwischen unserem Handeln und unserem Sein unterscheiden. Dann kommen wir nämlich aus der reinen Betroffenheitspolitik heraus. Und die Nicht-Weissen werden sich nicht nur für die Nicht-Weissen einsetzen, die Nicht-Männer nicht nur für die Nicht-Männer und die Nicht-Cis-Heteros nicht nur für die Nicht-Cis-Heteros.

Um dahin zu kommen, brauchen wir aber (unter anderem) erst einmal die Ausweitung der Rassismus-Strafnorm auf Homophobie. Dies ist keine Lösung. Aber es ist ein Zeichen dafür, dass unsere Gesellschaft sich für die ihr innewohnende Gewalt sensibilisiert.

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