Warum ich den Escher-Wyss-Platz nicht gern verlasse - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Benjamin von Wyl

Journalist

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27. Mai 2015 um 13:29

Warum ich den Escher-Wyss-Platz nicht gern verlasse

Sehnsucht nach dem Escher-Wyss-Platz statt Stalldrang: Der Tsüri-Komplex scheint überwunden.

Letzter Tag: Vice-Redaktor Benjamin von Wyl lebt eine Woche draussen hinter der Pukapuka-Bar des Theater Neumarkts und schreibt täglich auf tsüri.ch.

Man nehme an, du hast sechs Nächte draussen geschlafen. Man nehme an, du hast am Anfang gefroren, obwohl du alle Kleider übereinander angezogen hast. Man nehme an, du hast wärmer bekommen, weil du dich ab der dritten Nacht in Plastik eingepackt hast. Man nehme an, du hast das alles langsam komfortabel gefunden und dann wird das Wetter wieder schlechter. Man nehme an, du hast eine Konfettikanone abgefeuert und fünf Minuten später damit begonnen, alle Konfetti zusammenzuwischen. Man nehme an, du hast vor dem zu Bett gehen mit einem Puppenspieler und zwei Musikerinnen von der Gruppe Das Helmi zwei Stunden über Kindererziehung gesprochen, nachdem sie grade eine absurde Psycho-Show spielten. Man nehme an, du bist um 05:00 Uhr aufgestanden und hast die Gin- und Bierflaschen entsorgt, die von dieser pädagogisch-hypothetischen Selbsthilfegruppe übrig geblieben sind. Man nehme an, du darfst heute nach Hause. Auf was freust du dich?



[caption id="attachment_2328" align="alignnone" width="640"]Da war er noch ein Vogel: Florian von Das Helmi Da war er noch ein Vogel: Florian von Das Helmi[/caption]

Das bin ich gestern einige Male gefragt worden, aber ich konnte nie eine Antwort geben. Einerseits weil ich daran dachte, wie ich völlig übernächtigt Gin- und Bierflaschen entsorgen werde - kritisch beobachtet von den Tramchauffeuren, die auf ihren Einsatz warten. Wie ich mein doofes Nachttischmöbel und einen Rucksack voll nasser Kleider schleppend in irgendeinen Knapp-Nicht-Mehr-Nachtzug steige. Wie ich heimkomme und mich hastig ausgeräumte Kleider, einige Gänge zur dauerbesetzten Waschmaschine und tolle Menschen, die aber alle keine Zeit haben, erwarten. Auf der B-Seite kommen dazu: Eine halb ausgefüllte Steuererklärung, die ich mit zur Pukapuka-Bar und wieder heimgenommen hab (Die ganze Woche lang hatte ich weder Zeit noch Lust drauf!), eine Wohnung, die es zu kündigen gilt, da ich bald in dieses Tsüri ziehe und ein komplexes Gebilde aus Arbeits- und Privatterminen. Normalerweise zwingen die mich zum Leben im Just-In-Time-Spurt, aber in der Woche an der Limmat konnte ich sie wunderbar ausblenden. Und zuhause erwartet mich auch wieder eine Internetverbindung, die schnell genug ist, um jedem halbwegs interessanten Link zu folgen, sprich: Zeit zu zerstören.



[caption id="attachment_2332" align="alignnone" width="640"]So sah das gestern Abend mal aus - dann habe ich wieder einen Artikel drübergekleistert. So sah das gestern Abend mal aus - dann habe ich wieder einen Artikel drübergekleistert.[/caption]

Die Negativaufzählung ist länger geworden als geplant. Und schlussendlich freue ich mich nach ein paar Stunden auf der heimischen Matratze doch über viele Dinge: Im Fensterrahmen sitzend rauchen, sich auf dem Bett wälzen, Game Of Thrones, duschen – duschen! Das habe ich ja völlig vergessen – Velo fahren und der Rhein. Aber auch noch heute Morgen im Zug hatte ich keinerlei Erwartungen an meine angestammte biologische Nische. Ich tippe eine SMS an meinen Vater, eine lange SMS, denn sie sollte mich nochmals dafür entschuldigen, dass ich es heute nicht zur Beerdigung meiner Grossmutter schaffe. Einerseits weil ich wirklich nicht mehr kann, weil ich müde bin. Andererseits weil meine Familie nicht zu den Familien gehört, die sich freuen, wenn jemand in Jogginghosen, mit einem Rucksack voll nasser Kleider und einem Nachttischmöbel in der Kirche auftaucht. Sie schätzen Konventionen, in die ich mich bei jedem Besuch neu einarbeiten muss. Und dazu reicht meine Energie jetzt nicht. Obwohl es mir wirklich leidtut.

Also zwinge ich mich dazu wieder wegzudösen, während neben mir der Aargau vorbeiweht. Ich will dösen, damit ich nicht zu viele Artikel zur FIFA lese und mich soweit treibe, dass ich einen Tag zu früh mit der Arbeit beginne. Denn eigentlich will ich mein Pseudo-Yogi-Ich gerne noch etwas pflegen. Ich denke daran, wie selbstverständlich ich gestern barfuss in der Redaktion der WOZ rumgehöselt bin, wie kindlich ich mich über den grossen Raucherraum dort gefreut hab, an all das Kommen und Gehen bei der Pukapuka. Solche, die dort arbeiten, Besucher mit irgendeinem Theaterverständnis und Besucher, die ganz ohne ein solches auskommen. Und ja: Am Ende habe ich jede Nacht alleine auf meiner Platte übernachtet, obwohl ich gerne auch eine kleine Pukapuka-Pijamaparty gefeiert hätte.



[caption id="attachment_2329" align="alignnone" width="640"]Der Raucherraum der WOZ - für eine Linke ohne Verbotskultur! Der Raucherraum der WOZ - für eine Linke ohne Verbotskultur![/caption]

Ich hätte sogar meiner Freundin den «Du schreibst nicht über unseren Sex»-Vertrag unterschrieben, wenn sie mal über Nacht geblieben wär. Ausser zwischen 00:00 Uhr und 05:00 Uh sind aber wirklich viele Leute zu Besuch gekommen. «Auf der Pukapuka-Insel» hatte ich nur Stress, wenn verschiedene Menschen, die sich untereinander nicht verstehen, gleichzeitig (und wegen mir) da waren. Quasi so eine Art einwöchiges Grundrauschen, dass dich stetig an deine Verpflichtungen als Gastgeber erinnert. Aber die Woche ist um und obwohl das Neumarkt nochmals halbironisch nachgefragt hat (anscheinend war ich ein passabler Nachtportier): Ich will auch nicht länger bleiben, würde nicht länger bleiben wollen. Natürlich bin ich auch froh, dass ich es überstanden habe. Dass ich Facebook-Nachrichten wie dieser nicht mehr mit einem kaum motivierten «Haha» begegnen muss:

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Dass ich nicht mehr das Gefühl haben muss, nur Bier zu trinken, damit ich schneller einschlafen kann. Dass ich wieder an Masturbation, vielleicht sogar an Sex denken kann. Dass ich die Wohnungs- und die Zimmertüre schliessen kann, die Türen auch abschliessen kann. Dass ich in dem Teil von Basel bin, von dem ich wenigstens bis zu meinem Umzug noch einen klitzekleinen Teil als persönlichen Innenraum betrachten darf.

Aber obwohl die Pukapuka-Bar nur 10 Minuten-Fussweg vom VICE-Büro entfernt ist, obwohl Tsüri für mich klar Arbeits- und Basel klar Rückzugsort ist, holt mich der Alltag schon heute ein. Es fehlen die Gegenstrukturen aus «Frieren – Mate trinken – Joggen – Baden - Meditieren – Besuch haben». All das könnte ich natürlich auch zuhause machen, aber es fehlt ein klarer Fixpunkt, es fehlt die Ruhe, die mir sagt, dass ich heute kein Abendprogramm brauche, dass ich mir nicht überlegen muss, wo ich meinen Sommer verbringe und ob ich es je zur Post schaffe, um die zwei ausstehenden Krankenkassenrechnungen zu zahlen.

In «Willkomme in Züri» von Skor, EKR und Tinguely gibt es irgendwo den Zwischenruf «Ha di gärn, Züri». Soweit ist es nicht. Aber ein «Ha di gärn, Limmat» kann ich mir nach dieser Woche abzwingen. Und die schrägen, teils verstörenden Leute, welche die Pukapuka-Bar noch zwei Wochen lebendig halten, die hab ich auch gern.

Ursprünglich war es ja Teil meines Escher-Wyssplans, dass ich alles, rund um die Uhr, mit meiner Webcam in die Artikel streame. Obwohl die Swisscom sehr weit entgegengekommen ist und mir die Bandbreite zwei Mal erhöht hatte, klappte es einfach nicht. Eigentlich ist das aber sehr schön, denn es heisst, dass die Möglichkeiten multimedialer Selbstüberwachung noch nicht Dystopie-Niveau erreicht haben. Als eine Art Trostgeschenk gibt's jetzt noch acht Stunden Selbstüberwachung von dort, wo sie technisch möglich ist: Von drinnen, aus meinem Zimmer, von dort, wo ich mich eigentlich privater fühle, als an einem Verkehrsknotenpunkt. Für alle, die es interessiert oder nicht interessiert: Der Stream.

Hier geht es zu den Artikeln der Tage 1 bis 6:

Tag 1: Tsüri ist auch nicht besser als der Aargau!

Tag 2: Ich bin letzte Nacht fast erfroren - und fühle mich gut!

Tag 3: Drei Schwestern stören den Verkehr im Kreis 5

Tag 4: So ist es morgens um 7 nüchtern im Hive

Tag 5: Ich bade nackt am Letten – ohne es überhaupt zu bemerken

Tag 6: Letzte Nacht war hart, unter einer Folie, im Regen

 

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