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Von Rahel Bains

Redaktionsleiterin

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30. Januar 2023 um 08:09

Der lange Arm der Migros

Der Migros-Konzern betreibt im Langstrassenquartier zahlreiche Betriebe und Filialen. Die Menschen aus dem Quartier stehen dieser Präsenz kritisch gegenüber.

Migros-Präsenz am Limmatplatz. (Foto: Elio Donauer)

Es ist ein Phänomen, das sich immer auf die gleiche Art und Weise wiederholt: Steigert sich der Wert des Eigentums, können die Eigentümer:innen höhere Mieten verlangen. Wenn dadurch jemand vertrieben wird, nennt man das Ganze auch: Gentrifizierung. Ein Quartier, das in Zürich besonders stark davon betroffen ist, ist bekanntlich jenes rund um die Langstrasse. Und wenn von Aufwertung die Rede ist, drängt sich im gleichen Atemzug die Frage auf, wer sich die gestiegenen Mietpreise leisten kann.

Bei den Gewerbeflächen der Langstrasse scheint das vor allem ein grosser Player zu sein: Die Migros. Die Migros Gruppe hat vor kurzem die Zahlen des vergangenen Jahres präsentiert. Sie sind so gut wie noch nie: 2022 wurden 30,1 Milliarden Franken Umsatz erzielt, das sind 3,9 Prozent mehr als im Vorjahr. Zu dieser Verbesserung trugen laut Medienmitteilung vor allem jene Bereiche bei, die besonders unter der Pandemie gelitten hatten, also unter anderem das Reise- und Freizeitgeschäft sowie die Gastronomie. Die Migros-Läden, die von Covid-Effekten profitiert hatten, machten hingegen weniger Umsatz. 

Unternehmen, die zum Migros-Konzern gehören, prägen mittlerweile das ganze Langstrassenquartier. (Foto: Elio Donauer)

In einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» liess Migros-Chef Fabrice Zumbrunnen neulich verlauten, dass das Unternehmen sein Nahversorgungsnetz stärken will. Dies bedeute aber nicht, dass die grossen Supermärkte verkleinert werden sollen. Man sähe lediglich zusätzliches Potenzial für mittelfristig 50 und langfristig bis zu 100 zusätzliche kleine Migros-Filialen. «Es ist aber für uns nicht immer einfach, die richtigen Standorte zu finden», so Zumbrunnen. 

Die Standortfrage scheint sich zumindest im Zürcher Kreis 4 und 5 nicht zu stellen. Blickt man dort etwas genauer hin, merkt man schnell: Unternehmen, die zum Migros-Konzern gehören, prägen mittlerweile das ganze Langstrassenquartier. Bereits am Limmatplatz ist der «Orange Riese» mit einem Bürokomplex, einer grossen Migros- sowie einer kleinen Denner-, und Melectronics-Verkaufsfläche, einem Migros-Restaurant, der Migros Bank und -Klubschule und dem Reiseanbieter Hotelplan präsent. 

Gleich daneben liegt die Dropa-Apotheke, vis-à-vis der Bio-Supermarkt Alnatura und am Sihlquai die Migrol Tankstelle. Diese Unternehmen sind alle im Besitz des Migros-Konzerns – also entweder Teil der Migros Genossenschaft oder der Migros Gruppe. Auch die jeweiligen Liegenschaften sind im Besitz des Konzerns, wie das Notariat, Grundbuch- und Konkursamt Aussersihl-Zürich auf Anfrage bestätigt. 

Bewegt man sich weiter in Richtung Süden, sind da weitere Betriebe, die der Migros gehören: So zum Beispiel das Restaurant Molino an der Gasometerstrasse, der Denner an der Josefstrasse sowie das Activ Fitness an der Langstrasse, von dem es an der Badenerstrasse einen weiteren Ableger hat. Auch die Migrolino-Fresh-Filiale an der Langstrasse und der Migros-Supermarkt an der Wengistrasse gehören, wie es der Name schon sagt, dem Grosskonzern, der dank dem Gastrolokal «Bridge» sogar in der Europaallee präsent ist. In der Nähe des Helvetiaplatzes an der Langstrasse 39 befindet sich zudem eine Filiale der Medbase-Apotheken, welche die Liegenschaft laut Medienstelle auch besitzt und die ebenfalls der Migros Gruppe angehört. Alleine damit hat das Unternehmen bereits fast 20 Betriebe in nur einem Quartier.  

Eine von mehreren Denner-Filialen im Langstrassenquartier. (Foto: Elio Donauer)

Kritik aus dem Quartier

Die ETH-Stadtforscherin und Vizepräsidentin des Vereins L200, Ileana Apostol, steht dieser Präsenz kritisch gegenüber: Kleinunternehmer:innen hätten auf dem derzeitigen Immobilienmarkt im Kreis 4 und vor allem im Kreis 5, in denen die Mieten in die Höhe schiessen, kaum eine Chance auf Zugang und Überleben, daher gebe es kaum Konkurrenz zur Macht der Konzerne. «Unter verschiedenen Namen und Fassaden weitet die Migros ihre homogenisierenden Investitionsstrategien aus und folgt dabei einem vereinfachenden Marktethos, ohne sich der Rolle der Stadtpolitik bei der Förderung des Quartierlebens und der Stadtentwicklung bewusst zu sein», so Apostol, die seit über fünf Jahren bei L200 aktiv ist. 

Das gleichnamige Lokal wird seit viereinhalb Jahren an der Langstrasse als «offene und vielfältige Infrastruktur» betrieben und kann als kultureller Veranstaltungsort, Pop-up Store, Coworking Space, Sitzungszimmer, Denkwerkstatt und vieles mehr genutzt werden. «Dies im Gegensatz zu vielen anderen teuren Lokalen, die den ganzen Tag ungleichmässig und meist gewerblich genutzt werden», so Apostol. Betrieben wird der Raum von den ehrenamtlichen Mitgliedern des Vereins. Zentrale Orte wie dieser, an denen junge Macher:innen, Produzent:innen und Künstler:innen experimentieren können, seien wichtig für eine Stadt, finden die Initiant:innen. Zusammengeschlossen haben sie sich aus «nachbarschaftlichen Bedürfnissen heraus», darunter die Erhaltung der Vielfalt und die Förderung der Urbanität des Kreises 5.

«Das Langstrassenquartier wird zerstört werden, wenn dieser Trend anhält.»

Stadtforscherin Ileana Apostol

Weil in ihren Augen dazu auch die Gewerbevielfalt gehört, hat sich in diesem Zusammenhang das Forum 5im5i, das dem Verein angehörte, sich mittlerweile aber wieder aufgelöst hat, mit der Frage des sogenannten «Lädelisterbens» beschäftigt. Eine Umfrage des Forums aus dem Jahr 2021 stützt die Aussagen Apostols: Laut den Befragten sind nur noch sehr wenige kleine Geschäfte im Kreis 5 tätig – eine Hauptursache für die Unmöglichkeit im Quartier zu bleiben, sei der Anstieg der Mietpreise. «Diese Situation hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Nachbar:innen, Händler:innen und Kund:innen, die nicht durch anonyme Grossunternehmen ersetzt werden können, mit der Folge eines Verlustes an Lebensqualität in der Nachbarschaft», so Apostol. 

Die Dominanz grosser Konzerne in der Stadtentwicklung hätten für sie unweigerlich eine Homogenisierung zur Konsequenz, wodurch die Urbanität mit der Zeit verloren gehe: «Das Langstrassenquartier wird zerstört werden, wenn dieser Trend anhält.» Auf die Frage, welche Verantwortung grosse Konzerne wie die Migros in Bezug auf die Prägung eines Stadtteils haben, sagt sie: «Unternehmensverantwortung muss ethische, philosophische und sozialwissenschaftliche Einsichten zusammenführen. In den meisten Fällen liegt das Hauptaugenmerk der Unternehmensinvestitionen jedoch auf der Gewinnmaximierung.» Der fehlende Zugang der Einwohner:innen zu den Entscheidungsprozessen sei ein grosses Problem, das die demokratischen Prozesse in Frage stelle.

Mehr Einbezug der Quartieranwohner:innen wünscht sich auch Fred Frohofer. Der Zürcher war Mitglied bei 5im5i, ist Vorstandsmitglied des Vereins Neustart Schweiz sowie der Bau- und Wohngenossenschaft NeNa1. Er erinnert sich an ein 5im5i-Podium aus dem Jahr 2019. «Spekulangstrasse» hiess der Anlass: «Wir hatten damals auch Migros Genossenschaft-Chef Jörg Blunschi eingeladen, er zeigte sich sehr überrascht darüber, wie viele Leute gekommen sind, welche die Migros im Kreis 5 als viel zu dominant wahrnehmen, da sie zunehmend inhabergeführte Quartierläden und Gastrobetriebe verdrängt.» Gerne hätten wir mit Blunschi über diese Vorwürfe gesprochen, die Medienstelle liess jedoch auf Anfrage verlauten, dass sich der Chef der Migros Genossenschaft für Interviews nicht zur Verfügung stellt.

Das L200 wird seit viereinhalb Jahren als «offene und vielfältige Infrastruktur» betrieben. (Foto: Elio Donauer)

Auf die Frage, welchen Einfluss die Präsenz eines solch grossen Konzerns auf ein Quartier hat, sagt Frohofer: «Ich glaube nicht, dass sich die Migros diese Frage stellt.» Gabriela Ursprung, Leiterin Corporate Communications und Kulturprozent der Migros Genossenschaft, antwortet auf Anfrage dazu: «Unser Ziel ist die Versorgung der Bevölkerung mit Produkten und Dienstleistungen.» Die Anmietung von Flächen sei für dieses Geschäftsmodell zwingend und man wolle da sein, wo die Kund:innen einen erwarten. «Gerade in den vergangenen Jahren hat sich gezeigt, dass unsere Kundinnen und Kunden kurze Wege schätzen. Als Genossenschaft haben wir uns hohen Standards in Bezug auf Nachhaltigkeit verpflichtet. Neben nachhaltigen Sortimenten, Klimaschutz und Kreislaufschliessung ist die Förderung der Lebensqualität in unserer Gesellschaft ein wichtiger Fokus.» 

Dass man als Unternehmen in der Verantwortung steht, nicht überall maximalen Gewinn zu erwirtschaften, sondern dafür zu sorgen, dass an den Standorten ein Nutzungs-Mix entsteht, findet auch Anna Schindler, Direktorin Stadtentwicklung Stadt Zürich. An der Langstrasse betreibe die Migros mit einem Take-Away-Angebot, kleinen Supermarkt-Filialen, dem Activ Fitness und anderen Betrieben aber grundsätzlich einen solchen. Und auch wenn dies nicht der Fall wäre: Privaten Vermieter:innen vorschreiben, wem sie die Gewerbeflächen vermieten sollen, könne die Stadt ohnehin nicht. Auch wenn es schade sei, wenn vor allem in erdgeschossigen Flächen keine öffentlichen Nutzungen entstehen, die zu einem lebendigen Quartierleben beitragen (wir berichteten).

Erinnerung an alte Zeiten

Wie sich der Aufwertungsprozess im Langstrassenquartier künftig gestalten wird, lasse sich schwer sagen. Solange die Wertsteigerung des Bodens wie bis anhin voranschreite, wird es laut Schindler immer wieder Vermieter:innen geben, die ihre Häuser erneuern und die Mieten dadurch steigern.

Auch Frohofer meint: «Das Quartier steht je länger desto mehr unter einem unheimlichen Gentrifizierungsdruck.» Das war nicht immer so. Er erinnert sich an die 90er-Jahre, als die Gegend noch als «Drogenhölle» bekannt war, in der Süchtige sich «auf offener Strasse Spritzen gesetzt haben». Oder an die Zeit, in der vor allem ausländische Arbeiter:innen das Quartier prägten und aus der auch der heutige Name, «Industriequartier», stammt. 

Heute sei alles anders: «Das Quartier wird immer teurer, und wenn denn ausnahmsweise mal ein Häuschen an der beliebten Fierzgasse auf den Markt kommt, dann, weil es für mehrere Millionen verkauft wird. Es ist absurd.» Ob dem Quartier das gleiche Schicksal droht wie dem durch Verkehrsberuhigung aufgewerteten Westrassenquartier? «Die Tendenz geht zumindest in diese Richtung. Zum Glück hat es im Quartier aber viele Genossenschaften und städtische Liegenschaften, die den durchschnittlichen Mietpreis dämpfen», so Frohofer.  

Alle Migros-Standorte im Quartier (Screenshot/Google)

Die grossen Veränderungen kommen in den Aussenquartieren

Schindler beschwichtigt: Der grosse Umbau des Quartiers sei abgeschlossen: «Die Europaallee und das Zollhaus sind fertiggestellt, und auf dem Neugasse-Areal wird in naher Zukunft auch nichts mehr passieren.» Die grossen Veränderungen würden in den Aussenquartieren vonstatten gehen. Zum Beispiel in Schwamendingen, wo derzeit die Bauarbeiten zur Einhausung der Autobahn zwischen dem Autobahnkreuz Aubrugg und dem Schöneichtunnel im Gange sind. Durch die Verkehrsberuhigung soll das Quartier um ein Vielfaches an Attraktivität gewinnen und laut Schindler in 15 bis 20 Jahren ganz anders aussehen als heute: «Schwamendingen wird bis zu 60 Prozent mehr Einwohner:innen haben.» Durch die vielen Genossenschaften werde sich die Gentrifizierung aber in Grenzen halten.

Um auch die Vielfalt und Urbanität des Langstrassenquartiers zu erhalten, ist gemäss Apostol nun das unmittelbare aktive Engagement der Bewohner:innen und der Organisationen von unten, wie zum Beispiel des Vereins L200,  «sicherlich von entscheidender Bedeutung». 

Auch die Migros lässt in ihrer Stellungnahme verlauten, mit dem Migros-Kulturprozent «kulturelle, soziale, ökologische und breitensportliche Aktivitäten» zu fördern und dabei auch zahlreiche Partnerschaften mit Institutionen und Vereinen im Kreis 5 zu pflegen. Auf die Frage, wer genau unterstützt wird, heisst es: «Auf Stufe einzelner Zusammenarbeiten kommunizieren wir unsere Engagements nicht, entsprechend werden wir auch in diesem Kontext keine einzelnen Kooperationen hervorheben. Danke für Ihr Verständnis.» 

Dieser Artikel wurde mit Unterstützung von JournaFONDS recherchiert und umgesetzt.

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