Genug darüber geschlafen: Anna Rosenwasser nimmt Nationalratswahl an - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Lara Blatter

Co-Geschäftsleitung & Redaktorin

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24. Oktober 2023 um 16:15

Mit Social Media ins Parlament: Anna Rosenwasser nimmt Nationalratswahl an

LGBTQ-Aktivistin Anna Rosenwasser schafft die SP-Sensation und springt vom 20. Listenplatz direkt in den Nationalrat. Überrumpelt vom Resultat, musste die 33-Jährige erstmal darüber schlafen. Nun hat sie die Entscheidung getroffen: Sie nimmt das Mandat an.

Die wohl spektakulärste Aufholjagd legte am vergangenen Wahlsonntag Anna Rosenwasser hin. Sie kandidierte für die SP auf dem Listenplatz 20 und rückte im Verlaufe des Tages immer weiter vor. «Warum habe ich plötzlich Wahlchancen? WTF», verkündete sie in einer Instagram-Story. Kurz nach 21 Uhr war dann klar: Rosenwasser ist auf Platz 8 und somit gewählt. «Büsis ich bin gewählt», schrieb sie daraufhin. 

Zwei Tage später am Telefon erzählt sie, dass sie sich wie bekifft fühlte und fassungslos war. Sie war an diesem Sonntag spazieren, im Gym am Gewichte heben – sich ablenken. Danach ging sie ins Café Boy, das Zürcher SP-Lokal. «Alle schauten mich mit riesigen Augen an und gaben mir zu verstehen, dass ich nicht alleine bin», sagt sie.

Anna Rosenwasser und Parteikollege Flavien Gousset am Sonntag vor dem Café Boy. (Foto: Sylvie Fee Matter)

Die Autorin und LGBTQ-Aktivistin ist eine der bekanntesten politischen Influencerinnen der Schweiz. Rosenwasser macht politische Arbeit in den sozialen Medien und holt junge Menschen dort ab, wo sie sind. Mit 35’900 Followern hat sie beispielsweise mehr als der Account der stärksten Partei, der SVP Schweiz. 

Auch wenn die 33-Jährige noch kein politisches Amt innehatte, ist sie seit gut zehn Jahren politisch unterwegs. Sie studierte Journalismus und Politikwissenschaften. Seit fünf Jahren ist sie Juso-Mitglied, seit drei Jahren bei der SP. 2019 kandidierte sie bereits auf der Liste der Juso als Nationalrätin, damals noch erfolglos. Sie engagierte sich stark für die Ehe-für-alle-Abstimmung und war Co-Geschäftsleiterin der Lesbenorganisation Schweiz. Daneben baute sie sich ihren Instagram-Kanal auf, politisiert in den sozialen Medien, erhebt die Stimme für die queere Community und schrieb ein Buch. 

Doch dass ihr dieses Engagement dazu verhelfen würde, dass sie nun 12 Plätze aufholte, hätte sie selbst nicht gedacht. Mit dem Listenplatz 20 galt sie eher als Lückenfüllerin. Zusammen mit Parteikollege Flavien Gousset hatte sie knapp 30’000 Franken für den Wahlkampf gesammelt – im Vergleich zu Wahlkampfbudgets von bürgerlichen Kandidierenden nichts. Andri Silberschmidt von der FDP beispielsweise hatte ein Budget von 280’000 Franken, erzielte aber rund 12’000 Stimmen weniger als Rosenwasser.

So war die SP-Politikerin erstmal einfach überrumpelt vom Ergebnis und wusste nicht, ob sie den Sitz wirklich will. Nun weiss sie es. 

Anna Rosenwasser, treten Sie Ihr Amt an?

Ja, und ich freue mich sehr! Was für ein Privileg. Die Wahl am Sonntag kam für mich überraschend, und so ein Nationalratsmandat ist eine Aufgabe, die ich ernst nehme. Ich brauchte zwei Nächte, um darüber zu schlafen und musste mich mit meinen Engsten austauschen. Aber bereits am Sonntag im Café Boy habe ich wahnsinnig viel Unterstützung von Parteikolleg:innen zugesagt bekommen. Sie geben mir Zuversicht, ich bin eingebettet in einer Partei und nicht alleine. Das ist neu für mich, bis jetzt war ich als Aktivistin eher alleine unterwegs. 

Mussten Sie schon den Unterschied zwischen Motion und Postulat googeln?

Das kommt alles noch, das gebe ich zu. Politisch zu sein, ist ein stetiges Dazulernen. So funktioniert auch meine Arbeit auf Instagram. Die Leute sollen lernen und sich nicht schämen, etwas noch nicht zu wissen. Denn Scham bremst uns nur aus.

Bereits im Dezember geht es los und Sie müssen den Bundesrat wählen. 

Stell dir vor, es ist Sonntagmorgen und du denkst, ah chillig, heute Abend stosse ich mit Parteikolleg:innen an. 24 Stunden später weisst du, dass du mitbestimmen darfst, wer Bundesrät:in wird. 

«Über meine Wahl wird gesprochen, als ob ich noch nie Politik gemacht hätte.»

Anna Rosenwasser

Werden Sie Daniel Jositsch wählen, sofern ihn die SP aufs Ticket setzt, oder wen hätten Sie gerne als Nachfolge auf Alain Berset?

Dazu mache ich noch keine Aussage.  

92’462 Stimmen haben Sie gemacht. Auf Instagram haben Sie 35'900 Follower. Medien und Politik zeigen sich überrascht ab Ihrer Wahl. Wird Ihre jahrelange Arbeit als Polit-Influencerin unterschätzt?

Total. Über meine Wahl wird gesprochen, als ob ich noch nie Politik gemacht hätte. Dabei mache ich seit so vielen Jahren politische Arbeit, ich hatte einfach noch kein politisches Mandat. Ich war in der Geschäftsleitung der Lesbenorganisation. Da habe ich massgeblich die Kampagnen für die Erweiterung der Rassismus-Strafnorm um die sexuelle Orientierung und jene für die Ehe für alle mitgeprägt. Schon seit Jahren sensibilisiere und politisiere ich junge Frauen und Queers – das wird unterschätzt. Ja, ich habe mir Plattformen – wie meinen Instakanal oder meine Kolumne in der Republik – erarbeitet und suche aktiv die Öffentlichkeit. Aber diese Glaubwürdigkeit und Reichweite ist harte Arbeit. 

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Dennoch, Sie haben auf die klassische politische Ochsentour verzichtet. Sind die Zeiten vom klassischen Wahlkampf vorbei?

Ich muss die demografische Auswertung der Wahlbeteiligung noch anschauen. Ich vermute, dass ich Menschen für die SP mobilisieren konnte, die sonst nicht wählen gegangen wären. Die SP hat in Zürich gewonnen, aber dass ich so weit hinaufklettern würde, hätte ich nicht gedacht. Im Wahlkampf habe ich nicht dazu aufgefordert, mich zu kumulieren oder zu panaschieren. Meine Message war: Werft einfach die SP-Liste ein. 

Gibt es auch Vorteile, als nicht klassische Parteipolitikerin ins Parlament zu gehen?

Ich bin nahe am Geschehen, weiss, wie Menschen erreichen und muss nicht performen, um ernst genommen zu werden. Ich habe meinen Kommunikationsstil, meine Plattform und meine Stimme gefunden. Meine aktivistische Perspektive tut dem Parlament sicher auch gut. 

Im Frühjahr erschien Ihr erstes Buch, nun dürfen Sie in den Nationalrat einziehen: Ist 2023 Ihr Jahr?

Anfang vom Jahr sagte ich mir: Ich habe drei grosse Dinge, die bevorstehen. Mein Buch, die BüsiCon, eine Tagung zu queerfeministischen Themen, und die Wahlkampagne. Für mich hiess das nicht, «es wird mein Jahr». Es hiess eher, dass ich vorsichtig mit meinen Ressourcen umgehen muss. Darum habe ich dann auch die Tagung abgesagt, es war mir zu viel. Das 2023 ist das Jahr meiner Selbstfürsorge. Auch dass ich mir für mein definitives Ja für dieses Mandat Zeit nahm, heisst, dass ich «süferli» mit meinen Ressourcen bin und dieses Amt ernst nehme. 

«Ich will mit SP-Menschen an Problemen arbeiten, die mir alleine über den Kopf wachsen.»

Anna Rosenwasser über den Rechtsrutsch

Sie sind selbstständig als Moderatorin und Autorin unterwegs. Wie sehr bringt diese Wahl Ihre Pläne durcheinander?

Ich muss einiges umstellen, meine nächsten Monate waren geplant. Meine Agenda ist aktuell noch nicht Nationalrats-tauglich. Aber als Selbstständige habe ich hohe Flexibilität und ich habe keine Mühe im Grenzen setzen, also auch Dinge abzusagen. 

Gibt so eine Wahl auch Erleichterung? Die nächsten vier Jahre haben Sie bestimmt keine Geldsorgen.

Scheint so. Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Aber alles Geld der Welt bringt nichts, wenn ich mich kaputt arbeite. Darum ist mein Fokus jetzt nicht, mir meine nächste fancy Nailart zu gönnen, sondern meine Zeit gut einzuteilen und allen Aufgaben und Lebensbereichen gerecht zu werden. Ich will auch weiterhin Zeit haben für Freund:innen und Schlaf. Der Nationalrat kann auch ein Highway to burnout sein.

In Zürich hat die SP gewonnen. Ansonsten zeigen die Wahlen ein eher anderes Bild auf. Die Schweiz rückt nach rechts. Gar internationale Medien haben das aufgenommen. Die Zeit etwa titelte «Die Hau-den-Ausländer-Karte hat gezogen». Überschattet dieses Ergebnis Ihre Wahl?

Der Rechtsrutsch war leider absehbar. Ich bekämpfe diesen ja schon länger. Mein Engagement ist mein persönliches Mittel gegen die düstere politische Stimmung. Sich engagieren und Teil einer Bewegung zu wissen, hilft mir. Meine Entscheidung zu kandidieren, hat viel auch mit diesem Rechtsrutsch zu tun. Es war eine aktive Entscheidung, jetzt Partei zu ergreifen. Ich will mit SP-Menschen an Problemen arbeiten, die mir alleine über den Kopf wachsen. 

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