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Von Viviane Stadelmann

Redaktorin

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27. Dezember 2016 um 11:51

«Manchmal verschlägt es uns am Telefon die Sprache»

Zur Weihnachtszeit glühen die Leitungen des Seelsorgetelefons 143. Tony Styger ist langjähriger Mitarbeiter und Ausbildner der «Dargebotenen Hand». Er weiss, warum Leute anrufen, um mit Fremden zu reden – und spricht über die passive Ohnmacht des Zuhörens und was man Notfalls tun kann, wenn sich jemand das Leben nehmen will.

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Wer arbeitet für das Seelsorgetelefon?

Warum nicht?
Wir verlangen relativ viel Zeit und Engagement von den freiwilligen Mitarbeitenden. In jüngerem Alter setzen viele vielleicht ihre Prioritäten noch anders, was auch verständlich ist. Im höheren Alter ist es ein wenig ruhiger im Leben, manche sehen es als neue Aufgabe nach der Pensionierung.

Gibt es ein Auswahlverfahren, um bei ihnen zu arbeiten zu können?
Als erstes lege ich den Interessierten nahe, dass wir beim Seelsorgetelefon keine schnelle Lösung liefern. Wir können auch keine Sachhilfe leisten. Es ist einfach ein da sein für die Anrufenden, wir haben ein offenes Ohr für ihre Anliegen. Es gibt andere Freiwilligenarbeit, bei der man mehr zupacken kann. Die braucht es auch. Aber bei uns kann man das nicht. Der erste Schritt besteht also darin, herauszufinden, ob der*die Interessent*in gewillt sind, zu lernen, diese Ohnmacht auszuhalten.

Welche Anforderungen gibt es sonst für interessierte Freiwillige?
Eine Matura oder berufliche Ausbildung ist nicht nötig. Dafür Eigenschaften wie Belastbarkeit und Toleranz anderen Einstellungen gegenüber. Nach dem ersten Auswahlverfahren gibt es einen obligatorischen einjährigen Ausbildungskurs.

Wie häufig beantwortet man das Telefon?
Mindestens eine Schicht pro Woche, die fünf oder sechs Stunden dauert.

Was sind die häufigsten Gründe, wieso angerufen wird?
Wir unterscheiden zwischen den Erstanrufer*innen und den Wiederholungsarufer*innen, sogenannten «Stammgästen». Diese rufen vielleicht ein bis zweimal pro Woche an. Da ist die Einsamkeit einer der häufigsten Gründe. Gerade Zürich ist eine Stadt, in der sich viele Leute dafür schämen und sich nicht mal mehr auf die Strasse trauen. Wir sprechen mitunter von einer Einsamkeit, die wir uns fast nicht vorstellen können.

Wie kann man sich das vorstellen?
Letztes Jahr hatten wir zum Beispiel einen Anrufer, der uns «Es guets Neus! » gewünscht hat. Die freiwillige Mitarbeitende hat sich herzlich bedankt. Sie kamen ins Gespräch und nach einer Weile meinte er schliesslich, dass es eben niemanden gäbe, dem er ein frohes Neujahr wünschen könne.

Worüber sprechen die Anrufer mit ihnen in solchen Situationen?
Sie erzählen aus ihrem belasteten Alltag; sie schildern ihre Schwierigkeiten oder ihre Ängste. Vielfach geht es dann nicht um Problemlösung, sondern vielmehr um den Kontakt mit einem menschlichen Gegenüber.

Und bei den Erstanrufer*innen?
Da ist meist unmittelbar etwas Schlimmes passiert. Das kann von Beziehungsproblemen, Finanzsorgen, Gewalt, Sexualität, Erziehungsschwierigkeiten, Lebensmüdigkeit bis zu einer Krebsdiagnose sein, die ich am Morgen bekommen habe. Es gibt nichts, was es nicht gibt.

Sie bieten auch einen Onlineservice an, wo man mit ihnen chatten kann. Gibt es einen Unterschied zu den Telefonanrufer*innen?

Was tun Sie, wenn ein*e Anrufer*in sich wirklich umbringen will?
Dafür gibt es kein Protokoll. Das Wichtigste ist auch da wie bei allen anderen Themen, wirklich aufmerksam hinzuhören und den*die Anrufer*in ernst zu nehmen mit seiner oder ihrer Verzweiflung und Sorge. Selbstverständlich fragen wir in solchen Situationen, ob jemand in der Nähe ist, der helfen kann. Wir zeigen ihm*ihr auch auf, dass er*sie zum Kriseninterventionszentrum oder in die Notfallabteilung der Uniklinik gehen kann. Oder man kann die 144 hinzuziehen, dann kommt ein Notfallpsychiater.

Können Sie die Adresse herausfordern?
In Extremfällen können wir danach fragen, ob sie uns die Telefonnummer und ihre Adresse geben wollen und ob wir für sie anrufen sollen. So entbinden sie uns von der Schweigepflicht. Die ist für uns oberstes Gebot. Für die Anrufer ist zudem ihre Anonymität ausschlaggebend.

Die Anonymität der Anrufer selber?
Ja, dass der*die Anrufer*in weiss, wir unternehmen Nichts, wenn er*sie nicht ausdrücklich einverstanden ist. Er oder sie muss sich diesbezüglich in Sicherheit wähnen, dass er*sie sich uns anvertrauen und offenbaren kann, auch mit seinen*ihren dunkelsten Gedanken.

Was tun Sie, wenn diese dunklen Gedanken nicht aus der Opferperspektive geschildert werden?
Das kommt so gut wie nie vor. Ausser natürlich, er*sie erzählt es uns nicht. Aber selbstverständlich steht auch hier der Mensch im Mittelpunkt und nicht die Tat als solches. Wir würden ihn"sie aber darauf ansprechen, ob es ihm*r bewusst ist, dass er*sie eine strafbare Tat begangen hat und dass er*sie sich bei den Behörden stellen soll.

Wie gehen Sie mit Personen um, die glauben, von der CIA verfolgt zu werden oder glauben, der nächste Prophet zu sein?
Sogenannte Wahnvorstellungen. Das sind gar nicht so viele, wie man meint.

Aber es kommt vor?
Natürlich war auch schon jemand überzeugt, er sei Oberst im dritten Weltkrieg. Meistens sind es beim Verfolgungswahn jedoch ganz normale Ängste, die dahinter stecken. Zum Beispiel wenn Sachen verschwinden in der Wohnung, obwohl man sie möglicherweise einfach verlegt hat.

Versuchen Sie dann, mit rationalen Erklärungen entgegenzuwirken?
Nein, Streitgespräche bringen nichts, Lehrer spielen auch nicht. Ein Beispiel aus unseren Lehrunterlagen, das auch schon vorgekommen ist, geht so: Ein Anrufer ist überzeugt, die Nachbarsfrau spioniere durch den Fernseher. Da nützt es nichts, zu erklären, dass es nicht möglich ist. Man muss versuchen, die zugrunde liegende Angst oder Not auszumachen. Manchmal hilft es auch einfach, den Anrufer abzulenken. Das ist durchaus legitim, wenn man sonst nicht weiter kommt.

Wie können die Berater*innen das Gehörte selber verarbeiten?
Erstmals ist wichtig, dass sie nach der Schicht aus dem Büro gehen. Sie können hinter sich die Türe schliessen, um das Gehörte hinter sich zu lassen. Wir versuchen zudem, ihnen schon im Ausbildungskurs zu helfen, diese Ohnmacht auszuhalten. Aber jede*r von uns kommt an seine*ihre Grenzen. Um die Erlebnisse zu verarbeiten gibt es die Supervision, die für jede*n Freiwillige*n obligatorisch ist. Da werden in der Gruppe die Fälle und der eigene Gemütszustand thematisiert.

Wie lange hält man als freiwillige*r Mitarbeiter*in durch?
Bei uns ist die durchschnittliche Verweildauer mit zehn bis zwölf Jahren relativ hoch.

Haben Sie sich selber mal überlegt, aufzuhören?
Nein. Zumindest sicherlich nicht wegen den Anrufer*innen, sondern wegen normalen organisatorischen Überlegungen, wenn man schon lange am gleichen Ort arbeitet.

Die Mitarbeiter*innen sind geschult, zu antworten. Kommt es vor, dass sie selber nicht wissen, was sagen?
Natürlich. Manchmal verschlägt es sogar uns die Sprache ob dem Leid oder der ausweglosen Situation. Es ist keine Sprachlosigkeit im Sinne, dass man nicht Nichts sagen könnte, sondern dass man nichts zu sagen braucht, weil die Situation sich nicht schönreden lässt.

Gab es etwas, das Sie mal sprachlos machte?
Ja, da war zum Beispiel eine Frau, die immer wieder anrief, weil sie massiv von ihrem Ehemann verprügelt wurde. Irgendwann hat sie dann aus dem Frauenhaus angerufen – und ich dachte, sie hätte den Rank gefunden. Monate später rief sie wieder an. Sie war zurückgekehrt und wurde wieder verprügelt. Sie kam einfach nicht davon los. Und mir fiel es genauso schwer, loszulassen.

Erschienen am 27.12.2016 / Aktualisiert am 13.12.2018

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