Armut in Zürich: «Ich kann nicht ruhig schlafen, wenn Menschen Hunger leiden» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Valerie Thurner

Redaktorin

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11. Juni 2020 um 11:08

Armut in Zürich: «Ich kann nicht ruhig schlafen, wenn Menschen Hunger leiden»

Seit drei Monaten zeigen Schweizer Städte Bilder, die wir hierzulande kaum je gesehen haben: Tausende Menschen stehen etwa in Zürich jeden Samstag im Langstrassenquartier stundenlang für Essenspakete an. Einer ist von Anfang an dabei, mittels der Aktion «Essen für Alle» Nothilfe zu organisieren: Amine Diaré Conde von der Autonomen Schule. Eine Geschichte über das Engagement eines ehemaligen Sans-Papiers sowie über den politischen (Nicht)-Willen, die Ärmsten finanziell zu unterstützen.

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Amine Conde organisierte in Rekordtempo Essen für notleidende Zürcher*innen. Bild: zvg

Die Krise machte ihn ungewollt zum Medienstar, sogar ein Film über ihn ist in Entstehung: Amine Diaré Conde, freiwilliger Mitarbeiter an der Autonomen Schule Zürich, seit rund fünf Jahren in Zürich wohnhaft. Er organisiert seit drei Monaten praktisch rund um die Uhr und unterstützt durch zahlreiche Helfer*innen die Aktion «Essen für Alle». Jeden Samstag vergibt er dabei an die tausend Hilfspakete im Wert von zehn Franken an Bedürftige. Teigwaren, Reis, Mehl, Tomatensauce, Öl, Kartoffeln, Zwiebeln oder auch mal Bio Bananen, die gespendet wurden.

Die Nachfrage ist gross: «Es werden immer mehr, vor allem auch Familien», sagt Conde besorgt. Als die Schweiz Mitte März in Quarantäne ging und viele Leute in irregulären Arbeitsverhältnissen quasi über Nacht ihre Jobs verloren, war Conde für diese Personen die erste Anlaufstelle. Meist waren es Menschen, die einst in die Schweiz geflüchtet sind und nicht wussten, an wen sie sich sonst wenden sollten.

Nach ein paar Telefonanrufen kamen schon die ersten Spenden

Die Aktion startete mit einem spontanen Spendenaufruf. Weil Conde selbst aus seinem Heimatland Guinea geflohen ist und sich mit den Abläufen der Migrationsbehörde auskennt, wurde ihm von Anfang an Vertrauen geschenkt. Er wurde gar auch nachts angerufen: «Ich habe einfach so schnell wie möglich gehandelt, denn die Leute hatten Hunger oder Panik», so Conde.

Ein paar Telefonanrufe reichten und schon wurden die ersten 500 vorgefertigten Mahlzeiten gespendet – von einem Catering Unternehmen, das eigentlich Kindertagesstätten beliefert, welche aber aufgrund des Lockdowns vorübergehend geschlossen wurden. Die Solidarität aus der Bevölkerung und auch von Seiten der Stadt sei indes gross, sagt Conde. Es komme immer mal wieder jemand mit gespendeten Lebensmitteln und alle, die gerade vor Ort seien würden beim Ausladen mit anpacken.

In Zürich herrscht immer mehr Armut

Der Verein Incontro, der ebenfalls jeden Samstag an der Langstrasse Essenspakete vergibt, bestätigt den Fakt, dass in Zürich immer mehr Armut herrscht, immer mehr Menschen haben ihre Arbeitsstelle verloren und es sind vor allem Sans-Papiers, die darunter leiden. Denn sie haben kein Anrecht auf Versicherungsgelder. Die Initiant*innen der Aktion beschreiben in einem Beitrag der Felix und Regula Kirche die grösser werdende Not und dass inzwischen längst nicht mehr ausschliesslich Obdachlose oder Sex-Workerinnen auf ihre Nothilfe angewiesen seien. «Wir erleben, dass Kinder von Eltern in die Schlange geschickt werden, um ein Paket zu holen. Die Scham sich in die Reihe zu stellen ist für Letztere zu gross», schreiben die Initiant*innen.

Conde sagt indes: «Ich kann nicht in Ruhe schlafen, wenn ich weiss, dass Leute Hunger leiden, denn ich habe am eigenen Leib erfahren, wie das ist.» Sein Netzwerk zu Initiativen, die sich um notleidende Menschen mit Fluchthintergrund wie Sans-Papiers kümmern, reicht über die Kantonsgrenzen hinaus. Er lieferte während des Lockdowns Lebensmittel nach Biel, Freiburg, Basel, Aargau, Schwyz oder Bern. Inzwischen wurden bereits gegen 160'000 Franken ausgegeben, bei Grosshändlern bekommt er einen Spezialpreis und Lebensmittel, die sonst auf dem Müll landen würden.

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Zusammen mit Katharina Morello, Präsidentin des Vereins Bildung für Alle und Gründerin der Autonomen Schule, kümmert sich Conde um die Finanzierung des Nothilfe-Projekts. Langsam könnte es zu Engpässen kommen, denn die Nachfrage hat nicht nachgelassen: «Viele Betroffene arbeiten in der Gastronomiebranche. Doch die Restaurants haben aufgrund der Bestimmungen des Bundes weniger Kapazitäten und brauchen dementsprechend weniger Personal.» Viele Menschen hätten auch Angst, auf das Sozialamt zu gehen, wie Conde weiss, «zum Beispiel Menschen mit einem vorläufigen Aufenthaltsrecht fürchten trotz Anrecht auf Sozialhilfe, dass sich dies negativ auf ihre Aufenthaltsbewilligung auswirken könnte.» Das meiste Geld komme über Privatspenden – von der Glückskette zum Beispiel bislang 25'000 Franken. Ein neuer Spendenaufruf ist lanciert, denn es sind derzeit erst etwa zwei bis drei weitere Wochen finanziell gesichert

«Es fehlt klar an politischem Willen den sozial Schwächsten zu unterstützen»

Das Schweizer Parlament hat vergangene Woche den Notleidenden im übertragenen Sinne die Türe vor der Nase zugeschlagen. Der Antrag der SP-Nationalrätin und Mitglied der Finanzkommission Céline Widmer auf einen Nothilfekredit von über 10 Millionen Franken wurde mit 123 zu 72 Stimmen deutlich versenkt. «Es hat sich gezeigt, dass der Bund sehr schnelle und effiziente Hilfe für Unternehmen stellt, nicht aber für die sozial Schwächsten», bedauert Widmer den Entscheid der Legislative. Noch nie in der Geschichte der Schweiz hat das Parlament so hohe Kredite gesprochen, über 65 Milliarden Franken wurden als Kredite an die Wirtschaft vergeben. «Es wäre einfach gewesen, diesen vergleichsweise bescheidenen Beitrag an gemeinnützige Organisationen über die schweizweit tätigen Institutionen oder die Kantone zu verteilen», sagt Widmer.

Es kann nicht sein, dass wir vom Verein Bildung für Alle langfristig die Aufgabe der Stadt Zürich übernehmen.

Katharina Morello, Präsidentin des Vereins Bildung für Alle und Gründerin der Autonomen Schule

Partikularinteressen von starken Lobbys mit direktem Zugang zum Bundesrat und den Räten wie zum Beispiel der Tourismus- oder Sportbranche, konnten sich offenbar durchsetzen. Doch Armut hat keine starke Lobby und ist auf gelebte Solidarität und entsprechende Institutionen angewiesen. Armutsbekämpfung sei Aufgabe der Kantone, war das Hauptargument der Gegner des Nothilfekredits. Ein Argument, das Nationalrätin Widmer nur bedingt gelten lässt. Es handle sich um eine Pandemie bedingte ausserordentliche Lage, in der auch andere kantonal geregelten Institutionen vom Bund unterstützt wurden, wie zum Beispiel Kindertagesstätten.

Stadt Zürich unterstützt mit 30'000 Franken

Der Kanton Zürich zeigte sich indes von seiner unbürokratischen Seite und hat bereits im April gestützt auf das Sozialhilfegesetz den Maximalbeitrag eines einmaligen Nothilfebeitrags von über 870'000 Franken für gemeinnützige Organisationen mit kantonalem Leistungsauftrag wie Caritas oder Frauenhäuser oder die Sans-Papiers Anlaufstelle SPAZ ausgesprochen. Die Autonome Schule ersuchte damals über den kantonalen Lotteriefonds einen finanziellen Beitrag vom Kanton, allerdings ohne Erfolg. Der Aktion «Essen für Alle» konnte unter anderem nicht entsprochen werden, da es sich nicht um «den normalen Betrieb des Projekts» handle und somit nicht sämtliche Richtlinien des Verwendungszwecks, auch nicht zu Pandemie-Zeiten, erfülle. Auf Anfrage betonte die kantonale Finanzdirektion, dass der Entscheid keineswegs ein Werturteil ausspreche, sondern dass man an Rahmenbedingungen gebunden sei. «Wir gehen aber davon aus, dass das Projekt durchaus Chancen hat, im Rahmen der Corona-Hilfe von der Stadt Zürich unterstützt zu werden, falls dies nicht schon geschehen ist.»

So geschehen, erreichte eines morgens ein Anruf vom Sozialdepartement der Stadt Zürich die Autonome Schule. Stadtrat und Sozialvorsteher Raphael Golta hätte aus der Presse von der Aktion «Essen für Alle» erfahren. Die Stadt begrüsse die Abgabe von Lebensmittelpaketen an Menschen mit knappem Haushaltsbudgetals Ergänzung zu den städtischen Sozialleistungen und sei froh, «in Krisensituationen auf bewährte Partner*innen zählen zu können» wie die Sprecherin des Sozialdepartements Heike Isselhorst auf Anfrage erläutert. Die Stadt Zürich unterstützt das Projekt mit einem Beitrag über 30'000 Franken aus einem gemeinnützigen Fonds.

Die längerfristigen wirtschaftlichen Folgen der Pandemie und deren Auswirkungen auf Arbeitslosigkeit und Sozialhilfequote lassen sich heute allerdings nicht abschätzen, wie auch das Sozialdepartement der Stadt Zürich bestätigt. Es sieht nicht so aus, als würde der Bedarf bald nachlassen. Aber eine Lösung muss gefunden werden. Conde und Morello würden sich eigentlich gerne bald wieder auf ihr Kerngeschäft konzentrieren: Bildung für Menschen, denen der Zugang zum regulären Bildungssystem verwehrt bleibt. «Es kann nicht sein, dass wir vom Verein Bildung für Alle langfristig die Aufgabe der Stadt Zürich übernehmen», sagt Morelli nachdenklich. Im Büro an der Ausstellungsstrasse herrscht ein Kommen und Gehen, es ist ein Klima der offenen Türen. Die regelmässigen Ausweiskontrollen vor der Schule sind zumindest während der Pandemie ausgeblieben.

Hoffen, dass auch im Kanton Zürich eine Lösung für Sans-Papiers gefunden wird.

Bea Schwager von der Sans-Papiers-Anlaufstelle SPAZ

Hoffnung auf politische Lösungen für Sans-Papiers?

Könnte diese Krise politisch eine Hebelwirkung auslösen, sodass auch im Kanton Zürich eine Lösung für die prekäre Situation von papierlosen Menschen gefunden wird? «Das hoffen wir natürlich», sagt Bea Schwager von der Sans-Papiers Anlaufstelle SPAZ, die sich vor ein paar Jahren für eine Operation Papyrus in Zürich einsetzte, die dem Beispiel von Genf folgen sollte.

Im Februar hat der Kanton Genf die Bilanz der bisher schweizweit einmaligen Legalisierung von bisher 2390 Sans-Papiers durch die oben erwähnte Operation Papyrus gekannt gegeben. Der Kanton Genf sprach bei diesem Projekt auch die Arbeitgeber*innen an: Sie erhielten Gelegenheit, bestehende Arbeitsverhältnisse aus der Schattenwirtschaft gesetzeskonform umzugestalten, ohne für vergangene Verfehlungen belangt zu werden. Die Regulierung der Arbeitsverhältnisse kommt sowohl den Arbeitnehmenden wie den Sozialversicherungsstellen zu Gute. Der Bund stellte für dieses Jahr einen Bericht zur Lage der Sans-Papiers in Aussicht. Das Genfer Pionierprojekt könnte durchaus landespolitischen Einfluss haben. Das wäre ein grosser Schritt im Vergleich, wie der Kanton Zürich noch vor drei Jahren auf dieses Pilotprojekt reagierte.

Von den rund 19'000 papierlosen Menschen im Kanton Zürich gehen mindestens 90% einer Arbeit nach

«Unsere Forderungen wurde damals vom Kanton Zürich abgelehnt mit der Begründung, das sei nicht notwendig, weil es hier gar keine arbeitstätigen Sans-Papiers gäbe, es handle sich um abgewiesene Asylsuchende in den Notunterkünften» erinnert sich Schwager.

Eine neue Studie des Kantons in Zusammenarbeit mit dem SECO bestätigt allerding, dass von den rund 19'000 papierlosen Menschen im Kanton Zürich mindestens 90% einer Arbeit nachgehen. Dass der Kanton eine solche Studie in Auftrag gibt, könnte allenfalls ein Zeichen sein, dass man sich der ungelösten Problematik nochmals zuwende.

Seit fünf Jahren kämpft Amine Conde für sein Aufenthaltsrecht in der Schweiz, gerade kürzlich wurde seinem Härtefallgesuch vom Kanton Zürich stattgegeben. Ganz geschafft hat er es aber noch nicht, denn das Konsulat seines Herkunftslandes, wo er seine Dokumente beantragen muss, ist bisher unerreichbar. Wenn alles gut kommt, möchte er gerne noch diesen Herbst eine Lehre antreten. Solange hilft er weiterhin den Bedürftigen. Inzwischen hat er rund 30'000 Lebensmittelpakete bereitgestellt. Er schrieb Bundesrätin Viola Amherd, Vorsteherin des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, einen offenen Brief, in dem er um Unterstützung bat. Vor wenigen Tagen kam eine Antwort ebenfalls in Briefform, in der erklärt wurde, warum das VBS weder Ressourcen noch Soldaten stellen könne. Man sei gesetzlich gebunden und könne nicht in den Dienst von zivilgesellschaftlichen Organisationen treten. Für Armutsbekämpfung seien entsprechende Institutionen zuständig, an die er sich wenden müsse.

Amine Conde wird wohl noch lange gebraucht werden.

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