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24. Januar 2022 um 10:45

Aktualisiert 24.01.2022

Zürcher Quartierläden in der Pandemie

Coop, Migros und Denner verkünden auch 2021 Rekordumsätze. Doch die drei Giganten sind nicht die einzigen Supermärkte, die in einer Krise Esswaren verkaufen. Wie leben die Quartierläden mit den schwierigen Bedingungen?

(Foto: P.S. Zeitung)

Gerne ignoriert ein bedeutender Teil der Stadtbevölkerung alle Supermarkt-Leuchtbuchstaben, die nicht orange sind. Wie Motten zum Licht schwirren Konsument:innen meist automatisch zu Coop und Migros, wenn es um den täglichen Einkauf geht. Kein Wunder also, stehen die Konzerne auch im zweiten Pandemiejahr so solide da. Einkaufen musste man immer – aber wurde das auch ausserhalb des anscheinenden Zwei-Firmen-Monopols getan?

Sehr früh war klar, wer die wahren Gewinner der Pandemiewirtschaft sein werden: die grossen  Detailhändler. Nun bestätigen die erschienenen Jahresberichte die Umsatzrekorde bei den Lebensmittelgiganten Coop und Migros. Beispielsweise höhere Kundenfrequenz trotz tendenziell kleineren Einkäufen und erhöhte Nachfrage im Frischeangebot und bei Produkten des täglichen Bedarfs sind Faktoren für den wirtschaftlichen Erfolg. Besonders in Quartierfilialen schiessen die Umsätze in die Höhe. Doch nicht nur die Supermärkte profitieren von einer Verschiebung im Konsumverhalten. Der Hauptgewinn findet sich im Online-Handel wieder: Solide 14,6 Prozent Wachstum verzeichnete der Onlineshop von Coop im vergangenen Jahr, bei Migros Online waren es 2020 sogar glatte 40 Prozent. 

Der Konsum verschwindet nicht

Aber: Eine Pandemie führt kaum dazu, dass eine Gesellschaft plötzlich so viel mehr isst. Auch die Krise der Restaurantbranche, mitverschuldet durch die Verschiebung des Abendessens weg von den Grossküchen und hin zur eigenen, nimmt zwar bedeutenden Einfluss auf die Gastronomie, dürfte aber nicht die treibende Kraft hinter den Rekordzahlen sein. 

Ökonom:innen warnten zu Beginn der Pandemie vor einem Sparwahn. Ein Alltag, der sich in die eigenen vier Wände verschiebt, habe zur Folge, weniger Geld auszugeben. Weniger Konsum – ein sich füllendes Sparkonto. Aber ist dies auch so eingetreten? Eher weniger. Konsum verschwindet nicht, er verschiebt sich. Wenn die wöchentlichen Einkäufe also vermehrt bei Coop & Co. getätigt werden: Wo verstauben dann die Poschtichörbli am Supermarkteingang?

Mit zwei randvollen Einkaufstaschen verlässt eine dreiköpfige Familie den Maxi Frischmarkt an der Ottikerstrasse in Unterstrass. Auf der Ladenfläche, eng verschachtelt durch einige Regale, finden sich hier einerseits fast alle wichtigen Produkte des täglichen Gebrauchs, aber andererseits auch beispielsweise eine für Zürcher Standards respektable Breite eher selten gesehener Pastasorten. Wer vom eher starren, universalisierten Sortiment des orangen Monopols ausgeht, findet in Quartierläden oft eine Nische irgendwo zwischen Spezialitätenladen und Supermarkt vor. Aber wie kann man gerade im Kontext der Pandemie als Supermarkt ohne Online-Shop und mit kürzeren Öffnungszeiten mithalten? 

Die Tendenz zu Hamsterkäufen im Frühjahr 2020 sei definitiv merkbar gewesen und das Geschäft direkt zu Beginn der Pandemie so auch relativ gut vorbereitet auf logistische Schwierigkeiten – auch wenn gerade die Umbruchphase genau darum am anspruchsvollsten war, erklärt die Belegschaft. Die hohe Frequenz der Kund:nnen-Besuche kam aber überraschend. Vielleicht dem Standort zu verdanken, jeweils doch mehrere Tramstationen von Migros und Coop entfernt, seien im Maxi besonders Anwohner:innen aus dem Quartier ein- und ausgegangen. Wenn man sich mehr in den eigenen vier Wänden bewegt als ausserhalb, scheint auch die Motivation, sich für den Einkauf aus dem Quartier zu begeben, geringer zu sein. Eine treuere Stammkundschaft stützt so scheinbar die kleinen Läden.

Nicht überall sieht es aber so rosig aus.

Dasselbe Phänomen beobachtet man auch im Seker Market an der Zurlindenstrasse. Generell scheinen die kleinen Lebensmittelläden in Wiedikon keinen allzu schweren Stand zu haben. Das letzte Jahr sei durchaus gut gewesen – besonders werden hier die Hamsterkäufe 2020 betont. Anders als im eher als Familienquartier geltenden Unterstrass-Quartier bemerkt man im Seker Market und auch bei Lian Hua am Bahnhof Wiedikon aber weniger eine Zunahme von Stammkunden. sondern ein diverseres Klientel generell. Besonders junge Menschen aus dem Quartier verlassen die beiden Supermärkte vermehrt mit vollen Einkaufstaschen.  

Nicht überall sieht es aber so rosig aus. Logistische und zeitgebundene Schwierigkeiten stehen dabei im Mittelpunkt. Das Lebensmittelgeschäft Aggarwal unweit des Helvetiaplatzes hatte sich trotz ähnlichem Geschäftskonzept als Supermarkt mit viel Import-Esswaren besonders zu Beginn der Pandemie schwergetan. Auch seien insgesamt deutlich weniger Kunden gekommen, heisst es an der Kasse. Vielleicht ist es die Nähe zur Langstrasse mit einem sehr hohen Angebot an Take-Away-Restaurants oder die Migros-Filiale zwei Querstrassen weiter – die wirtschaftlich guten Pandemiejahre sind nicht universell im Lebensmitteleinzelhandel.  

Die Erfolge sind wohl primär den Anwohner:nnen zu verdanken

Weniger überraschend ist die Krise im 24-Stunden-Shop Anytime an der Langstrasse. Als Geschäft mit proportional viel höherer Getränkeselektion war das Supermarkt-Geschäft nie Kernkonzept. Und wenn dann das Nachtleben verschwindet, führt das hier schnell zu Stellenabbau, erklärt der Angestellte, der momentan mit der Verantwortung über Imbissküche und die Ladenkasse gleich doppelt belastet ist. Es fehlt die Kundschaft, die die Alkoholregale in den Wochenendnächten leerräumt. Auch eine grundlegende Neuauslegung des Angebots ist für den Shop, der aufgrund der letztjährigen Massnahmen zum ersten Mal seit Gründung schliessen musste, in dieser Situation nur schwierig umzusetzen und wäre mit weiterem Risiko verbunden. 

Die Beobachtungen der Angestellten sind schwierig unter einen Nenner zu bringen. Es lässt sich aber festhalten: Der Erfolg von Coop, Migros und Co. hat die kleinen Supermärkte weder indirekt zur Schliessung gezwungen, noch scheint die Branche in ihrer Gesamtheit einen generellen Aufwind bekommen zu haben. Nicht umsonst war für alle befragten Lädeli 2020 das bessere Jahr als das letzte. Wieso also die Unterschiede? Liegt es am Quartier? An verschiedenen kulinarisch-spezialisierten Sortimenten? Wie weit der Standort von der nächsten Migros- oder Coop-Filiale entfernt ist?  

Die Erfolge sind wohl primär den Anwohner:nnen zu verdanken, die das Angebot nahe der Haustüre vermehrt zu schätzen gelernt haben. Die Stammkundschaft, die orange Leuchtbuchstaben nicht als einzige Option wahrnimmt, ist die wichtig­ste Kraft im Gegenhalten gegen ein starres Lebensmittelsortiment. Damit verschwindet aber der existenzielle Druck auf die Quartierläden auch nicht. Denn solange dieser Druck nicht durch institutionelle Massnahmen gelockert wird, scheint die Verantwortung zu einem bedeutenden Teil bei den Konsument:nnen zu liegen – eine unangenehme Situation für die Betroffenen.

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