Zuhause im Hotel: Von Jetsetter:innen zu Langzeitgästen wegen Corona - Tsüri.ch #MirSindTsüri
account iconsearch
Von Alice Britschgi

Praktikantin Redaktion

emailinstagram logotwitter logofacebook logo

9. Februar 2022 um 21:30

Aktualisiert 09.02.2022

Zuhause im Hotel: Von Jetsetter:innen zu Langzeitgästen wegen Corona

Während der Pandemie haben viele Zürcher Hotels auf Langzeitgäste umgestellt – aus Not und weil die Anfrage stieg. Ausgerechnet mit Blick auf das Rollfeld des Flughafens wohnen nun keine Jetsetter:innen mehr, sondern Grenzgänger:innen, Menschen in Scheidung, Neuzuzüger:innen aus dem Ausland und pubertierende Teenager. Eine Reportage über Aufräum-Crashkurse, Boxershorts in der Lobby und Besuche vom Betreibungsamt.

«Alles grau, alles grau in grau», wie Isolation Berlin so schön singt. (Foto: Alice Britschgi)

Why not stay longer? Über Rümlang hängt ein grauer Himmel – Ton in Ton mit der Fassade des Jet Hotels Zurich Airport, von welcher das blaue Leuchtschild spricht. Es gibt mit Sicherheit genügend Argumente, sich am angrenzenden Bahnhof den nächsten Zug in die City zu schnappen. Gute Gründe zum Bleiben scheint es aber auch zu geben. Denn seit Pandemiebeginn vor zwei Jahren wohnen hier mit Blick auf die Glatt und das Rollfeld des Flughafens hauptsächlich Langzeitgäste. Why?

«Vor Corona blieben die Gäste im Schnitt ein bis zwei Nächte», erzählt Rezeptionsleiterin Jana Habitzki (28). Auch ihr kariertes Jackett ist grau, die wachen, blauen Augen eine Spur heller als das Hotel-Logo mit dem Flugzeug. Sie erinnert sich an die Gäste vor Corona: Reisegruppen, Besucher:innen von Veranstaltungen im Raum Zürich, Hochzeitsgäste der umliegenden Eventlocations und natürlich Jetsetter:innen. «Wenn eine Fluggesellschaft anrief, weil ein Flug ausfiel, mussten 300 Menschen in der Region verteilt werden», berichtet Habitzki. Im Frühling 2020 blieben die Zimmer dann plötzlich leer – bis auf eine Ausnahme.

Rezeptionsleiterin Jana Habitzki vor dem eingepackten Anbau. (Foto: Alice Britschgi)

Kaution, Kellerabteil und Kündigungsfrist

80 Zimmer umfasst der Plattenbau. Die sechs mit Küchenzeile waren im ersten Lockdown heiss begehrt. Von wem? «Man vergisst oft», meint Geschäftsleiterin Simona Maier (54), «dass es Leute gibt, die immer arbeiten mussten.» Weil die Preise sich stark an der Auslastung orientieren, konnten sich Arbeiter:innen auf Montage die Zimmer plötzlich leisten. Auch ausländische Firmen und Versicherungen hätten vermehrt angefragt – wenn eine Familie wegen eines Wasserrohrbruchs kurzfristig untergebrachten werden musste zum Beispiel. «Gründe für einen Hotelaufenthalt dürften die hohe Flexibilität und die Kalkulierbarkeit der Kosten sein», erklärt Maier. 

Die Hotelmanagerin kannte das Longstay-Konzept bereits von einem anderen Hotel. Auch deshalb reagierte sie schnell, als die Nachfrage anstieg und inserierte die Doppel- und Einzelzimmer nicht etwa auf Booking.com, sondern auf ImmoScout24: Mindestaufenthalt ein Monat, Kündigungsfrist zwei Wochen, Kaution 500 Franken, Endreinigung 150. Falls erwünscht, ein Kellerabteil für Hab und Gut, eine Waschküche mit Tumbler und ein Parkplatz. Die kleinsten Zimmer kosten 40 Franken pro Nacht, die grössten 58. Willkommen zu Hause in Rümlang.

«Ein Hotel begründet keinen Wohnsitz», oder etwa doch? (Foto: Screenshot ImmoScout24)

Frischgebackene Rümlanger:innen

Doch Zuhause ist bekanntlich nicht nur ein Gefühl, sondern auch ein Papier. Deshalb werden die Gäste auf der Gemeinde angemeldet. Am Anfang führte dies zu Problemen. Livia Hoch von der Einwohnerkontrolle Rümlang erklärt, dass es zwei, drei Sozialhilfebezüger:innen gegeben habe, die aus anderen Schweizer Orten zuzogen und ihren Wohnsitz im Jet Hotel anmeldeten. Das gefiel der Gemeinde nicht: «Ein Hotel begründet keinen Wohnsitz.» Man habe das Problem jedoch schnell lösen können. Wer aus der Schweiz zuziehe, könne sich nun erst nach drei Monaten anmelden, Menschen aus dem Ausland umgehend.

Auch die Hotelangestellten berichten von anfänglichen Schwierigkeiten. «Der Arbeitsalltag hat sich seit der Pandemie grundlegend verändert», erzählt Habitzki, «Vieles musste zuerst erprobt werden.» Zum Beispiel der behördliche Papieraufwand. Aber auch der Umgang mit Gästen, die das Housekeeping monatelang nicht in ihr Zimmer liessen. Deshalb sei die wöchentliche Zimmerreinigung nun obligatorisch. Auch die ehemalige Angestellte ​​Cécile Hildbrand (34) erinnert sich: «Am Anfang stand das Betreibungsamt fast täglich vor der Tür». Und die Höflichkeitsformen hätten sich geändert: «Plötzlich wurde man geduzt.» Zudem habe der Umgang mit der heterogenen Gästegruppe teilweise Fingerspitzengefühl erfordert, berichtet Rezeptionist Csaba Los (35).

Rezeptionist Csaba Los verpasste einem Teenager einen Aufräum-Crashkurs. (Foto: Alice Britschgi)

Heterogene Gästegruppe

Auf die inserierten Zimmer meldeten sich die unterschiedlichsten Interessent:innen. «Ein Gast war fast zwei Jahre hier», erzählt Habitzki. Der Schweizer Wohnungsmarkt sei hart. Der Gast habe eine Familie in Deutschland gehabt und eine Arbeitsstelle in der Schweiz. Was als Übergangslösung gedacht war, bewährte sich. «Die meisten Gäste bleiben jedoch nur ein paar Wochen oder Monate», so Habitzki. Im Jet Hotel wohnen Grenzgängerinnen, Menschen in Scheidung, solche, die ein Homeoffice brauchen, Neuzuzüger:innen aus dem Ausland und Monteur:innen, die auf Zeit in der umliegenden Industrie arbeiten.

Los, der immer eine gute Geschichte auf Lager hat, erinnert sich an einen speziellen Gast. Der Teenager hatte sich mit seiner Mutter zerstritten und kam deshalb einige Wochen im Jet Hotel unter. Der Rezeptionist verpasste dem jungen Hotelgast kurzerhand einen Crashkurs im Aufräumen. Hildbrand ist die Geschichte eines Bewohners im Gedächtnis geblieben, der seinen Job in einem Fünfsternehotel verlor und deshalb gezwungen war, seine Wohnung aufzugeben. Teilweise sei es traurig gewesen, zu sehen, wie die Gäste sich ohne Routine gehen liessen. 

Doch obwohl sich Habitzki und Los auch wieder auf die Jetsetter:innen freuen, sind sie heute mit ihrem Arbeitsalltag zufrieden. «Es ist ruhiger geworden, aber aus menschlicher Sicht ist die Veränderung positiv», sagt Habitzki. Die Beziehung zu den Gästen sei viel intensiver. Manchmal bekomme man Weihnachtskarten oder werde zum Kaffee eingeladen.

Flipflops und Boxershorts in der Lobby

Auch das 25hours Hotel Langstrasse und das 25hours Hotel Zürich West boten der Pandemie wegen Langzeitaufenthalte an. «Die Gäste brachten Leben ins Haus», sagt Larissa Zurbriggen, Junior Cluster Sales & Marketing Managerin. An der Langstrasse sei man inzwischen zum Normalbetrieb zurückgekehrt, in Altstetten biete man die Longstay-Zimmer noch bis zum Sommer an. Ob man das Konzept auf längere Sicht weiterführe, stehe noch nicht fest.

Das Hotel Krone am Zürcher Limmatquai hat der Pandemie wegen ebenfalls rasch auf Langzeitgäste umgestellt. «Ein Gast ist auf Geschäftsreise, der andere sitzt mit Flipflops und Boxershorts in der Lobby», lacht Geschäftsführerin Karin Lenherr. Obwohl man während der Coronawellen froh um die Langzeitgäste gewesen sei, sehe man für sich keine Zukunft im Longstay-Konzept. «Co-Living-Projekte finde ich mega cool», sagt Lenherr, «aber unser Geschäftsmodell ist nicht darauf ausgerichtet. Die Zimmer sind zu klein.»

Ähnlich sieht es Lea Sonderegger, Geschäftsleiterin von «Zum Guten Glück». Langzeitaufenthalte seien nichts für das Wiedikoner Gasthaus. Aus Goodwill habe man während der Lockdowns zwei Gäste im Hotel wohnen lassen, die minimalistisch eingerichteten Zimmer seien jedoch nicht optimal für Langzeitgäste ausgestattet.

Alexandros Tyropolis hingegen, CEO der Novac Solutions GmbH, sieht für seine Firma, die temporäre Betriebskonzepte für leerstehende Gebäude entwickelt und betreibt, grosses Potential im Longstay-Konzept. Dennoch – oder gerade deswegen – sieht er die Umstellung von klassischen Hotels auf Langzeitgäste kritisch: «Co-Living ist viel mehr als die Langzeitmiete von vier Wänden. Co-Living ist eine gelebte Community.» Man wohne nicht nur im Zimmer, sondern im ganzen Haus. Deshalb gibt es in der von ihm betriebenen Co-Living-Residenz Becozy Zurich Sihlcity vom Living Room über Küche und Waschraum bis hin zum Homeoffice jede Menge Gemeinschaftsfläche. Zudem werden die Bewohner:innen in einem ausgetüftelten Bewerbungsverfahren auserkoren. Co-Living benötige von Anfang an ein anderes Konzept als ein Hotel, so Tyropolis.

Willkommen zu Hause in Rümlang. (Foto: Alice Britschgi)

Zweites Standbein

Im Gegensatz zu den Stadtzürcher Hotels sieht Simona Maier für das Jet Hotel dennoch eine Zukunft im Longstay-Konzept. Die Nähe zur Stadt, die erschwinglichen Preise: Der Standort sei attraktiv. Problemlos ging man natürlich trotz Longstay nicht durch die Krise. Noch heute seien alle Mitarbeiter:innen zu ungefähr 15 Prozent ihres Pensums in Kurzarbeit, sagt sie. Durch die Langzeitaufenthalter:innen habe man aber niemanden entlassen müssen. Darauf ist Maier stolz. 

Auch nach der Pandemie sollen die Langzeitgäste bleiben. Der Anbau, der schon lange in Planung war, wurde kurzerhand in einen Komplex mit zwölf Studios für Dauergäste umkonzipiert. Ab März diesen Jahres soll das Hotel so auf zwei räumlich getrennten Standbeinen stehen: die frischgebackenen Rümlanger:innen im neuen, die Jetsetter:innen im alten Bau. Denn nur auf Langzeitgäste zu setzen, das macht auch für das Jet Hotel keinen Sinn. Neben den guten Gründen für einen Langzeitaufenthalt in Rümlang scheint es nämlich tatsächlich genauso gute zu geben, um wieder zu gehen.

Das könnte dich auch interessieren