Unbewilligte Demo: Wie zwei Unschuldige in Polizeigewahrsam landeten - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Noëmi Laux

Redaktorin

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12. April 2023 um 04:00

«Im Polizeiwagen bekam ich zum ersten Mal richtig Angst»

Nach der unbewilligten Demonstration von Anfang April war in vielen Medien von Linksextremen, die durch die Stadt wüteten, die Rede. Kritik am Verhalten der Polizei wurde dabei kaum geäussert. Die Geschichte von Julia S. und Alexandra P. zeigt ein anderes Bild. Sie wurden an jenem Abend ohne erkennbaren Grund festgenommen und mussten mehrere Stunden in Polizeigewahrsam verbringen.

Nach unbewilligter Demo: Zwei Frauen erzählen, wie sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren und am Ende die Nacht in der Zelle verbrachten. (Foto: Lara Blatter)

Es hätte ein entspannter Samstagabend werden sollen, zumindest für Julia S. und Alexandra P. Nachdem die Freundinnen, beide um die dreissig, in einem Restaurant im Kreis 4 zu Abend gegessen hatten, zogen sie weiter in die nahegelegene Gamper-Bar an der Dienerstrasse. Dass die Stimmung in der Stadt alles andere als entspannt war, bemerkten die beiden, als sie in der Bar sassen. «Es muss gegen 23 Uhr gewesen sein, als direkt vor der Bar um die zehn vermummten Gestalten vorbei rannten, dicht gefolgt von mehreren Polizist:innen. Wir dachten uns nichts dabei, gingen davon aus, dass das Fussball- oder Eishockey-Fans sein müssen», erinnert sich Julia S. an den Abend zurück. 

Kein Vor und kein Zurück mehr

Rund eine halbe Stunde später verliessen die beiden Frauen die Bar und machten sich auf den Heimweg Richtung Langstrasse. Doch weit kamen sie nicht. Als die zwei in die Langstrasse einbiegen wollten, gab es für sie erst kein Vor und dann kein Zurück mehr. «Die Polizei versperrte uns den Weg. Als wir umdrehen wollten, standen dort ebenfalls Polizist:innen, die uns nicht durchlassen wollten.» Mit rund 40 anderen Personen wurden Julia S. und Alexandra P. gegenüber von der Piazza Cella eingekesselt, ohne Vorwarnung und ohne Begründung seitens der Polizei.

Als sich der Kessel bildete, also gegen 23.30 Uhr, hatte sich der Demonstrationszug bereits seit geraumer Zeit aufgelöst. Warum es an der Piazza Cella dennoch zu einem derart grossen Aufgebot kam, begründet die Mediensprecherin der Stadtpolizei Zürich auf Anfrage von Tsüri.ch: «Die Stadtpolizei Zürich stellte fest, dass sich ein Teil der Personen, die zuvor an der unbewilligten Demonstration mit Sachbeschädigungen und Angriffen auf Polizist:innen teilgenommen hatten, im Bereich Piazza Cella besammelten.» Aus diesem Grund habe der zuständige Einsatzleiter entschieden, die mehreren Dutzend Personen einer Kontrolle zu unterziehen. Abschliessend heisst es: «Die Kontrollaktion war aus Sicht der Stadtpolizei Zürich verhältnismässig.»

Tsüri-Redaktor William Stern erging es in der Nacht der Demonstration ähnlich. Auch er war mit Freund:innen unterwegs, als er plötzlich im Kessel gefangen war. Am nächsten Tag beschrieb er das, was er erlebt hatte, wie folgt: «Es begann ein seltsames Schauspiel, das ich mir nicht recht erklären konnte. Noch verblüffter waren diejenigen Personen, die wegen Sprach- und polytoxikomanischen Barrieren einigermassen ahnungslos waren, in was sie da an der Ecke Diener-/Langstrasse genau reingestolpert waren: Angeschickertes Ausgehpublikum torkelte kopfvoran in Reizgas, deutsche Touristen suchten zwischen breitschultrigen und Gummischrotgewehr-präsentierenden Polizist:innen verzweifelt den Ausgang aus diesem Hardcore-Pop-Up-Club.»

Eine Odyssee ohne Ende

Die Stimmung im Kessel, erinnert sich Julia S. zurück, sei aggressiv gewesen. «Alle wollten raus und niemand hat verstanden, was hier abgeht.» Den eingekesselten Menschen wurde untersagt, auf Toilette zu gehen, Fragen nach dem «Warum» und dem «Wie lang noch» blieben unbeantwortet. «Nach rund einer halben Stunde äusserte Alexandra, dass sie auf Toilette müsse. Daraufhin wurden wir von der Gruppe gelöst und kontrolliert. Dabei legte man uns Kabelbinder an. Während der Durchsuchung gingen die Polizist:innen sehr grob vor, nahmen uns Natel und Portemonnaie ab», so Julia S.

«Während der Durchsuchung gingen die Polizist:innen sehr grob vor, nahmen uns Natel und Portemonnaie ab.»

Julia S., wurde ohne Grund von der Polizei festgehalten

Als sie nach dem Grund der Festnahme fragte, sagte man ihr, es liege an ihrer Kleidung. Sie trug Nylonstrumpfhosen, ein knöchellanges schwarzes Kleid und einen schwarzen Mantel. Alexandra P. wurde indes auch nach mehrmaligem Nachfragen kein Grund genannt. Als sie die Polizist:innen darum bat, jemanden anrufen zu dürfen, habe sie die Antwort bekommen: «Wieso wollen Sie jemanden anrufen, wenn Sie nichts getan haben?»

Und dann kam die Angst

Noch immer gefesselt, wurden die beiden laut eigenen Aussagen etwas abseits in einen Kastenwagen gebracht. «Im Polizeiwagen bekam ich zum ersten Mal richtig Angst», sagt Julia S. «Unsere Hände wurden uns hinter dem Rücken zusammengebunden und wir konnten uns kaum bewegen.» Seit Alexandra P. zum ersten Mal äusserte, dass sie auf Toilette müsse, verging mehr als eine Stunde. «Der starke Drang, auf die Toilette zu müssen und nicht zu wissen, wie lange wir noch warten müssen, war extrem unangenehm und entwürdigend.»

«Der starke Drang, auf die Toilette zu müssen und nicht zu wissen, wie lange wir noch warten müssen, war extrem unangenehm und entwürdigend.»

Alexandra P. wurde über mehrere Stunden der Gang auf Toilette verwehrt

Etwa eine Stunde später, die zwei wussten noch immer nicht, weshalb die Polizei derart hart durchgriff, wurden sie mit zwei weiteren Frauen auf die Polizeiwache beim Toni Areal gebracht. Dort sperrte man sie in eine Zelle, bevor sie gegen drei Uhr endlich auf Toilette durften, ihre Handys und Portemonnaies zurückbekamen und schliesslich freigelassen wurden.

Den beiden stecke das Erlebte noch immer in den Knochen. Während des gesamten Einsatzes seien sie weder über ihre Rechte aufgeklärt worden, noch sei man auf ihre Schilderungen des Abends eingegangen, die bewiesen hätten, dass sie unschuldig seien, so Julia S.. «Wir erwarten eine Entschuldigung und eine Richtigstellung seitens der Polizei.» Mit dieser Forderung wandten sich die beiden in einem langen Schreiben an die Stadtpolizei Zürich. Das Schreiben, welches Tsüri.ch vorliegt, blieb bislang jedoch unbeantwortet. 

In mehreren Medien erscheinen Julia S. und Alexandra P. in den darauffolgenden Tagen im Zusammenhang mit der Demonstration. (Foto: Screenshot TeleZüri)

Julia S. am darauffolgenden Tag in den ZueriNews während sie abgeführt wird. (Foto: Screenshot TeleZüri)

«Wir erwarten eine Entschuldigung und eine Richtigstellung seitens der Polizei.»

Julia S.

Weshalb die Frauen so lange festgehalten wurden, dazu wollen sich die Verantwortlichen nicht äussern. Man könne aus Datenschutzgründen keine Auskünfte zu einzelnen Personen geben, heisst es bei der Stadtpolizei, aber: «Die Mehrheit der Kontrollierten wurde vor Ort wieder entlassen. Bei 17 Personen bestand ein begründeter Anfangsverdacht, was bedeutete, dass es weitere Abklärungen benötigte.» Um die nötigen Abklärungen vornehmen zu können, sei entschieden worden, diese in eine Polizeiwache zu bringen. «Dass es dabei zu Wartezeiten kommen kann, ist möglich.» Weiter heisst es, dass die Stadtpolizei im Vorfeld keinerlei Kenntnis von einer Demonstration hatte und die Kontrollaktion deshalb spontan und kurzfristig «mit den vorhandenen verfügbaren Ressourcen» durchgeführt werden musste.

Dass Julia S., Alexandra P. und vermutlich noch weitere Unschuldige, die in jener Nacht im April zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren in den Tagen nach dem Ereignis klar erkennbar in der Berichterstattung diverser Medien erschienen sind, damit will man bei der Zürcher Stadtpolizei nichts zu tun haben.

Bei den zwei betroffenen Frauen bleibt vor allem etwas: Wut und Ratlosigkeit. Dass einem in der Schweiz so etwas widerfahren könnte, stimmt sie fassungslos. Mit dem Gang an die Öffentlichkeit ist für Julia S. und Alexandra P. die Sache aber abgeschlossen. Zu viel Zeit, Mühe und Nerven habe sie das alles schon gekostet. Dass sie jemals eine Entschuldigung von den betroffenen Polizist:innen erhalten, diese Hoffnung haben sie aufgegeben.

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