Zürcher Kioske: Das Glück herausfordern im Steinerhof - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Alice Britschgi

Praktikantin Redaktion

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26. Juli 2022 um 04:00

Kiosk Steinerhof: «Ich habe keine Ahnung von Zigaretten»

Die Anzahl an Kiosken in Zürich ist in den letzten Jahren stark zurückgegangen. Hinzu kommt: Rund die Hälfte von ihnen sind K-Kioske. Doch wie geht es den unabhängigen Shops? Wer führt sie? Im zweiten Teil der Kioskserie erzählt der Steinerhof-Besitzer Sriram Pararajasingam, was die Leute in Wiedikon nach dem Mittag brauchen und wieso er als junger Mann keine Vorstellung von seiner Zukunft hatte.

Sriram Pararajasingam übernahm den Kiosk in Wiedikon mitten in der Corona-Zeit. (Foto: Alice Britschgi)

«Grüezi», Kioskbesitzer Sriram Pararajasingam, dreht der Kundin vor dem Kassenfenster den Rücken zu, greift nach einer Packung Winston Sky Silver und lässt die Frau wortlos von dannen ziehen. Das Ganze wirkt nicht etwa unhöflich, sondern vielmehr vertraut. Die Begegnung dauert nur wenige Sekunden, dann sitzt Pararajasingam wieder alleine in seinem Kabäuschen vor der Zigarettenwand. Zweihundert verschiedene Sorten habe er im Angebot. Wenn jemand die gewünschte Marke bei ihm nicht finde, nehme er sie ins Sortiment auf. Winston sei momentan besonders bei Frauen beliebt. Wieso, weiss der Fünfzigjährige nicht: «Ich rauche nicht. Ich habe keine Ahnung von Zigaretten.»

Der Kiosk Steinerhof liegt zwischen Bahnhof Wiedikon und Schmiede Wiedikon. An diesem Donnerstagmorgen ist auf der Birmensdorferstrasse nicht viel los. Pararajasingam nützt die Ruhe, räumt Smirnoff Ice in die Kühlschränke, schüttet halbleere Bierdosen aus und füllt das Zigarettenregal auf. Muss er weit nach oben greifen, hält er mit einer Hand sein Hemd am Bauch fest.

Der Kiosk Steinerhof liegt zwischen zwei K-Kiosken an der Birmensdorferstrasse. (Foto: Alice Britschgi)

Dafür, dass der Tag heiss wird, sind nicht nur die ansteigenden Temperaturen ein Indiz, sondern auch die Mini-Kühltruhe zwischen Kaugummis und Schleckzeug. Im blauen Licht lagern in der Box Bounties, Snickers und andere Schoggistängeli. Die Leute kämen vor oder nach der Arbeit an seinen Kiosk, oder mittags: «Nach dem Essen brauchen sie etwas Süsses.» Neben der obligaten Krimskramsauslage besteht der Steinerhof aus zwei Getränkekühlschränken, einem Lottostand, einer Glacetruhe und einer überdimensionierten Redbulldose – befüllt mit normaldimensionierten Redbulldosen.

Kochlehre mit Ende vierzig

Pararajasingam führt den kleinen Kiosk erst seit zwei Jahren. Als er damals einen Freund in Wiedikon besuchte, kam er zufälligerweise hier vorbei. Der frühere Besitzer, ein Bekannter von ihm, habe ihm erzählt, dass er den Shop verkaufen wolle. Pararajasingam schlief ein paar Nächte darüber und sagte zu – mitten in der Corona-Zeit, ohne je einen Kiosk geführt zu haben und direkt nach dem Abschluss seiner Kochlehre.

«Niemand erklärt einem, wie das System funktioniert, wenn man in der Schweiz ankommt.»

Kioskbesitzer Sriram Pararajasingam

«Haben Sie Twint?», fragt jemand durchs Kassenfenster. «Ich habe Bankkarten aber kein Twint», erwidert Pararajasingam. Seine Stimme ist leise und freundlich. Er ist einer dieser Menschen, deren Gesichter sich aufhellen, sobald sie zum Sprechen ansetzen. «Ah okay, adieu.»

Ein Relikt aus früheren Zeiten: Der Zeitungsauslage-Tisch durfte bleiben, die Zeitungen nicht. (Foto: Alice Britschgi)

Der Kioskbesitzer öffnet eine schmale Schublade im Tresen, nimmt ein in Karton eingeschlagenes Dokument heraus: sein Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis Koch. Vor seiner Zeit als Kioskbesitzer war Pararajasingam dreissig Jahre lang in der Gastro tätig, in allen Bereichen, lange auch als Koch. Am besten beherrsche er die französische Küche. Wieso er die Ausbildung trotzdem erst vor zwei Jahren absolvierte? Er habe lange gebraucht, bis er das hiesige Bildungssystem verstand: «Niemand erklärt einem, wie das System funktioniert, wenn man in der Schweiz ankommt.»

Freifach Logik im Bürgerkrieg


Der heutige Kioskbesitzer wuchs im Norden von Sri Lanka auf, wo er auch die Mittelschule besuchte. Als in den 80er-Jahren der Bürgerkrieg ausbrach, hatte er er gerade mit der Handelsschule begonnen – als Freifach wählte er Logik. Welchen Beruf er danach erlernen wollte, weiss Pararajasingam nicht. «In der Kriegszeit war alles ganz anders, ich habe schlimme Sachen gesehen. Dann überlegt man nicht, was man werden möchte.»

Sriram Pararajasingam hat keine Angestellten – sein Kabäuschen ist sein Reich. (Foto: Alice Britschgi)

Als 18-Jähriger kam er 1989 alleine im Empfangszentrum in Kreuzlingen an. Nach kurzer Zeite wurde er nach Winterthur verlegt und fand direkt eine Arbeit in der Gastronomie. Man habe damals auch ohne gute Deutschkenntnisse einfach einen Job gefunden. Als er rund dreissig Jahre später sein Kochdiplom in den Händen hält, stürzt eine Pandemie die Branche in die Krise. So fängt der Vater von drei Kindern mit fast fünfzig Jahren noch mal von neuem an.

Seine heutige Frau lernte Pararajasingam schon mit 16 kennen. Sie folgte ihm in die Schweiz. Sie sei der Grund, warum er nicht rauche: «Sie mag den Geruch nicht.» Seit über zehn Jahren arbeitet seine Frau in der Rudolf Steiner Schule in Winterthur als Köchin. Die älteste Tochter des Paares ist Lehrerin, die zweitälteste Bauingenieurin. Der Sohn sei Kundenberater bei der CS und beginne bald ein Mathe- und Informatikstudium, erzählt er.

Eine blonde Frau taucht vor dem Kiosk auf. «Hast du Parisienne für 8.20? Kann ich eine Stange haben?» – «Ich habe keine Stange, aber du kannst ein paar Päckchen haben», entgegnet Pararajasingam, «oder du kaufst sie am Bahnhof, dort ist es billiger, bei mir ist keine Aktion.» Die Frau folgt seinem Rat.

«Links und rechts von mir liegt ein K-Kiosk, bei mir kauft man spontan ein, wenn etwas kleines fehlt», erzählt Pararajasingam ohne Groll. Deshalb verkaufe er auch keine Presse mehr. Ein länglicher Tisch, der die Grenze zum Trottoir zieht, habe früher als Zeitungsauslage gedient, heute würden Kund:innen manchmal ihre Taschen darauf ablegen.

Die Chance auf das grosse Geld

Momentan ist Pararajasingam zufrieden mit seinem Kiosk. Für eine Person reiche das Geld. Aber: «Auch ich brauche einen Tag frei.» Deshalb soll sein Kabäuschen ab 2023 samstags geschlossen bleiben. Noch ist er jeden Tag hier, unter der Woche ab zehn, am Wochenende ab 14 Uhr. Um halb sieben schliesse er jeweils die Rollos, dann laufe hier nichts mehr. Ausnahmen seien Dienstag und Freitag; da bleibe er eine Stunde länger geöffnet, weil dann die EuroMillions Gewinnzahlen gezogen werden.

«Lotto spielen ganz normale Leute – alt, jung, studiert, Geschäftsleute, Handwerker:innen.»

Kioskbesitzer Sriram Pararajasingam

Das Geschäft mit dem Glücksspiel ist wichtig für den Kioskbesitzer. Neben Getränken, Süssigkeiten und Tabakwaren machen die Lottoscheine und Rubbellose den grössten Anteil seines Gewinns aus.

Pararajasingam drückt auf einen Knopf und richtet seinen Blick auf den weissen Zettel, der aus dem Gerät rattert: Für über 7000 Franken hat er die ersten drei Tage dieser Woche Chancen auf den Jackpot verkauft. Das Geld gehe direkt an Swisslos: «Die haben ihren Hauptsitz in Basel, ein riesen Gebäude, besser organisiert als eine Bank.» Für einen Betrag in dieser Höhe erhalte er ungefähr 550 Franken Provision. Zahle er den Umsatz nicht pünktlich ein, werde das gesamte System für ihn blockiert. Er lacht: «Die haben einen Schalter, wie ein Lichtschalter.»

Die Angestellten aus den Büros oberhalb des Kiosks kaufen ihr Feierabendbier bei Pararajasingam. (Foto: Alice Britschgi)

Ein älterer Mann mit Hut taucht im Kassenfenster auf: «Eine Zürcher Zeitung.» – «Habe ich nicht.» Der Mann muss zum Bahnhof Wiedikon.

«Lotto spielen ganz normale Leute», sagt Pararajasingam, «alt, jung, studiert, Geschäftsleute, Handwerker:innen.» Die Rubbellose hätten Suchtpotential. Manche Kund:innen kämen jeden Tag und kauften für 200 bis 300 Franken Lottoscheine und Lose. Rentner:innen zum Beispiel, die alleine leben würden und denen es finanziell gut gehe. «Die kombinieren Lose und Zahlen nach ihrem eigenen System», erzählt der Kioskbesitzer. Er aber verstehe davon nichts: «Ich spiele nicht. Ich habe keine Ahnung.»

Sriram Pararajasingam ist ein Beobachter. Wenn er sagt: «Die Leute brauchen nach dem Essen etwas Süsses», dann klingt das so, als würde er sich selbst nicht dazuzählen. Und wenn er erzählt, dass er von Zigaretten und Glücksspielen nichts verstehe, dann glaubt man ihm. Man könnte sich daran stören – ein Verkäufer der von sich sagt, keine Ahnung von seinen Produkten zu haben – aber man tut es nicht. Pararajasingam muss nicht wissen, weshalb Winston Silver Sky beliebt sind oder welche Lottotheorien den grossen Gewinn versprechen. Seine grosse Stärke liegt darin, seine Kundschaft zu studieren, sie ernst zu nehmen und sich niemals über sie zu stellen, nur weil er ihre Süchte nicht teilt.

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