Ziegel oh Lac: «Eigentlich ist es noch immer eine Utopie» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Rahel Bains

Redaktionsleiterin

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2. Januar 2021 um 14:39

Ziegel oh Lac: «Eigentlich ist es noch immer eine Utopie»

Das Ziegel oh Lac bei der Roten Fabrik ist ein Gastro-Kollektiv, entstanden aus der 80er-Bewegung und somit das älteste, das wir in dieser Serie porträtieren. «Alt» heisst in diesem Fall aber nicht gleich «unbeweglich».

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Eines der ältesten Kollektive dieser Stadt: Das Gastro-Kollektiv des Ziegel oh Lac (Rote Fabrik) im Jahr 1982. ©Olivia Heussler

Zürich hat unzählige Kollektive – was treibt diese an, wie sind sie organisiert und wie haben sie das Jahr 2020 erlebt? Wir haben es in dieser Serie für dich herausgefunden.

Das Ziegel oh Lac ist seit fast 40 Jahren ständiger Treffpunkt des alternativen Kulturzentrums Rote Fabrik, entstanden aus der Jugendbewegung der 80er-Jahre. Der Gastrobetrieb, idyllisch am Wollishofer Seeufer gelegen, funktioniert als Kollektiv – und ist somit das älteste, das wir in der aktuellen Serie porträtieren. Geführt wird die Beiz als unabhängige Genossenschaft. Was viele nicht wissen: Das Ziegel wird nicht subventioniert und profitiert lediglich von den günstigen Mieten auf dem Areal.

Ein Besuch des Lokals kurz vor Weihnachten zeigt ein Bild, das sich im Moment auf alle Gastrobetriebe dieser Stadt übertragen lässt: Es herrscht Geisterstimmung. Die Stühle sind leer, die Bartheke und die Küche ebenso. Nur eine handvoll Mitglieder des insgesamt fast 50 Personen umfassenden Kollektivs sind zugegen. Aus den Boxen tönt Musik, einige trinken Prosecco, andere sind dabei, vor dem Lokal ein politisches Transparent zu sprühen.

Alle Mitglieder seien gleichberechtigt, erzählen sie, als man sich schliesslich draussen am langen Holztisch versammelt, an dem im Sommer Bier getrunken und Konzerten gelauscht wird. Alle verdienen gleich viel, ungeachtet dessen, ob sie nur gerade ihren Job ausüben oder sich massgeblich für Administration oder Planung im Betrieb einsetzen.

«Alt» ist nicht gleich «unbeweglich»

Die Umsetzung dieses Tsüri-Beitrags läuft indes schnell. So schnell, wie bei keinem anderen der porträtierten Kollektive. Bereits einen Tag nach der Anfrage sind bereits ein Treffen, das Beschaffen von Archivfotos und das Beantworten des Fragebogens in die Tat umgesetzt. «Alt» bedeutet in diesem Fall also nicht gleich «unbeweglich», sondern genau das Gegenteil. Vielleicht aus dem lang gewachsenen Vertrauen hinaus, das es die anderen schon gut machen werden? Vielleicht, weil man gelernt hat, dass man bei gewissen Dingen einfach loslassen darf?

Die Neuen bringen immer ihre ganz eigene Note mit.

Ziegel oh Lac

Auf der Holzbank sitzt ein Mitglied, das sich seit mehr als 30 Jahren im Kollektiv engagiert. Es sei ein Privileg ausprobieren zu dürfen, ob diese seit den Anfängen angestrebte Utopie «Selbstverantwortung und gleiches Recht für alle» funktioniert. Ihre Antwort lautet: Sie tut es. «Klar haben auch wir immer wieder Herausforderungen und Differenzen, denen wir uns stellen müssen, aber am Ende halten alle zusammen und setzen sich für das Gleiche ein.» Das sei in der normalerweise hierarchisch organisierten Gastro-Branche nicht selbstverständlich.

Man sei zwar im Kollektiv langsamer und schwerfälliger was Entscheidungen betreffe, erhalte dafür von allen jederzeit Rückhalt. «Eigentlich ist es noch immer eine Utopie – wenn ich anderen erzähle, dass in unserem Betrieb mit 50 Menschen niemand eine Führungsposition inne hat, glaubt mir das niemand», lacht sie.

Dass das Kollektiv über die vielen Jahre hinweg beweglich geblieben ist, hat es einerseits seinen dezentralen Strukturen zu verdanken. Es haben sich einzelne Gruppen gebildet, die Entscheidungsfreiheiten über einzelne Themen besitzen. «Sonst hätten wir viel zu viele Sitzungen», sind sich alle einig. Und weil das Ziegel ein Saisonbetrieb ist, kommen im Sommer immer wieder neue Mitglieder dazu. Das trägt ebenfalls dazu bei, dass das Kollektiv frisch bleibt und nicht einrostet: «Weil die Neuen immer ihre ganz eigene Note mitbringen.»

Tsüri.ch: Das Jahr 2020 in drei Worten?

Ziegel oh Lac: KAE (Kurz-Arbeits-Entschädigung).

Was für Herausforderungen hat die Corona-Krise mitgebracht – und wie seid ihr damit umgegangen?

Durch den Einbruch der Veranstaltungen seitens der Roten Fabrik haben wir vermehrt selber Konzerte, kulinarische Abende und andere Veranstaltungen organisiert und uns entsprechend in Autonomie geübt.

Was ist eure Message als Kollektiv?

Kollektives Wirtschaften ist möglich und dies sogar über ein laaaaaaange Zeit!

Wer oder was inspiriert euch?

Andere Kollektive, welche manchmal sogar ebenfalls im Gastgewerbe aktiv sind, jedoch ganz andere Strukturen haben. Zudem sicher die über die Jahre gemachte kollektive Erfahrung und das Selbstverständnis, dass ein anderes gemeinschaftliches Wirtschaften überhaupt möglich ist und möglich bleibt.

Waren die Stadt und ihre Bewohner*innen bislang gut zu euch? Wo haben sie euch Steine in den Weg gelegt, wo Türen geöffnet?

Dies ist nicht so einfach zu beantworten und reicht wahrscheinlich von einem klagewütigen Anwalt in der Nachbarschaft bis hin zu Menschen, die nach der verordneten Schliessung noch Ess-Gutscheine kaufen möchten, um uns zu unterstützen.

Was war euer schönster und/oder prägendster Moment seit der Gründung?

40 Jahre, hunderte von Kollektivist*innen, schwierige Frage.

Wünschen uns einen Pachtvertrag für die nächsten 100 Jahre.

Ziegel oh Lac

Wie geht ihr als Gruppe kollektiv mit Entscheidungsprozessen um?

Generell haben wir nebst den kleinen Arbeitsgruppen, welche jeweils einen kleinen Grad an Autonomie geniessen und wahrnehmen müssen, die Gesamtsitzung. An dieser werden die grundlegendsten Entscheidungen getroffen, die in stundenlanger Arbeit ausdiskutiert werden. Klar entsteht dadurch eine gewisse Trägheit im Prozess, dafür herrscht in den meisten Fällen eine höhere Akzeptanz für den gefällten Entscheid.

Was wünscht ihr euch von Zürich?

Nebst dem üblichen linken, anarchistischen und/oder marxistischen Gesäusel: Ein Pachtvertrag für die nächsten 100 Jahre. Ein Eisfeld auf dem Gelände der Roten Fabrik in den Wintermonaten wäre natürlich auch schön oder eine Altersresidenz für Ex-Ziegelistas auf dem KIBAG-Areal. Und eine Wasserrutsche vom Dach des Restaurants in den See.

Ihr seid es, die unsere Stadt zu der machen, die sie ist. Sie beleben – kulturell, aber auch politisch. Was plant ihr für dieses Jahr?

Das Restaurant bald wieder zu öffnen, Menschen zu bewirten und sicher die eine oder andere kulinarische, kulturelle und politische Überraschung. Stay Tuned!

Serie «Zürcher Kollektive»
Immer mehr Menschen dieser Stadt schliessen sich zu einem Kollektiv zusammen. Für diese Serie wollten wir wissen: Was treibt diese Menschen an? Wie gehen sie mit Entscheidungsprozessen um? Wie haben sie, die das kulturelle Leben dieser Stadt prägen, das Jahr 2020 gemeistert? Und was ist trotz der widrigen Umstände für die kommenden Monate geplant?

1. Was ist eigentlich ein Kollektiv?
2. Urban Equipe
3. Ziegel oh Lac
4. Organ Tempel
5. Zentrum für kritisches Denken
6. Jungthaeter
7. Vo da.
8. Literatur für das, was passiert
9. F 96
10. Tempofoif

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