Architektur-Kolumne: In der ganzen Stadt baut man Ersatzneubauten – doch macht das Sinn? - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von ZAS*

Kolumnist:innen

10. September 2021 um 07:00

Aktualisiert 09.09.2022

In der ganzen Stadt baut man Ersatzneubauten – doch macht das Sinn?

Neu schreibt eine Gruppe junger Architekt:innen eine monatliche Tsüri-Kolumne. Dieses Mal geht es um das Thema Ersatzneubau, genauer gesagt um die 60er-Jahre Wohnsiedlung Salzweg in Altstetten, die einem ebensolchen weichen soll. Unsere Autor:innen finden: Diese Gewohnheit gilt es zu brechen. Sie stellen sich eine Zukunft vor, in der Neubau und Vorgefundenes verschmelzen, jung und alt, reich und arm, Mensch und Natur und alles dazwischen.

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Die Wohnsiedlung Salzweg heute: vielfach verflochten. (Foto: ZAS* 2020)

Von ZAS*

Wohnsiedlung Salzweg, Zürich Altstetten. Es ist Herbst. Die Blätter der Bäume verfärben sich langsam und lösen sich bald von ihren Ästen. Die verwaschene rosa Fassade trägt die Spuren der Zeit. Graue Schlieren vom herunterlaufenden Wasser, an einigen Stellen mit Moos bewachsen. Eingebettet in den sanft abfallenden Hang am Stadtrand beim Friedhof Eichbühl ist der Salzweg Lebensraum für viele Bewohner:innen – ein Biotop diverser Tier- und Pflanzenarten.

Vor Kurzem stellen Vertreter:innen der Stadt den Bewohner:innen die Zukunft der Siedlung vor: Totalersatz. Sprich: Abriss und Neubau – Ersatzneubau. Der Plattenbau aus den 60er-Jahren soll abgerissen und durch «zeitgemässe» Neubauten ersetzt werden. Auch viele der zu prächtiger Grösse gewachsenen Bäume, die den Sturm diesen Sommer überlebt haben, werden Neupflanzungen weichen müssen.

Für die Zukunft der Siedlung hat die Stadt einen Architekturwettbewerb durchgeführt, dessen Ergebnisse nun vorliegen: Das kolossale Gewinnerprojekt mit grüner Fassade führt die Gewohnheit des «Ersetzen» in Zürich weiter. Was die Stadt bei der Präsentation aber nicht unerwähnt lässt: Es gäbe eine Alternative zum Abriss und Neubau. Die Alternative, die mit Erhalt, Sanierung und Erweiterung zwischen alt und neu verhandelt und im Kreise des ZAS* entstanden ist, bewirkt jedoch nichts Anderes als eine «produktive Verunsicherung» – und man fährt wie gewohnt weiter.

Der Siedlung Salzweg droht nun der Abriss. Als Bewohner:in stelle ich mir unweigerlich die Frage, warum ich denn aus meiner Wohnung, in der ich schon seit Jahrzehnten, vielleicht aber auch erst seit Kurzem lebe, ausziehen muss? Findet die Zukunft der Siedlung mit oder ohne mir statt? So günstigen Wohnraum wie am Salzweg gibt es in der ganzen Stadt nicht mehr. Eine kostengünstige Sanierung würde tiefe Mieten garantieren. Der zusätzlich benötigte Wohnraum könnte als Erweiterung realisiert werden.

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Die Wohnsiedlung Salzweg nach ihrer Fertigstellung durch Manuel und Eva Pauli im Rahmen der Wohnbauaktion 1966. (Scan aus: Werk, Bauen + Wohnen Nr. 4 / 1970)

Bis 2040 wird ein Bevölkerungswachstum von 25 Prozent erwartet und bis 2050 soll der Anteil an gemeinnützigen Wohnungen einen Drittel betragen. Der Wettbewerb für die Siedlung wurde in diesem Kontext ausgeschrieben, der Ersatzneubau ist für die angestrebte Verdichtung aber nicht mehr das zeitgemässe Mittel. Denn Dichte ist vor allem auch Nähe gelebter sozialer Beziehungen, Vielfalt möglicher Formen des Zusammenlebens und vielfach verflochtene Struktur. Ersatzneubauten graben diesem dichten Beziehungsgeflecht Löcher ab und ein Vorgehen aus Gewohnheit ist keine Antwort auf die Krisen unserer Zeit.

Ersatzneubauten geben soziale, ökonomische und ökologische Werte für einen Totalersatz auf, obwohl sie oft entlang derselben Linie argumentiert werden. Bewohner:innen werden ausgetauscht und bereits investierte Energie muss aufs Neue aufgewendet werden. Die Stadt von «morgen», wie wir sie uns vorstellen, geht jedoch von der Pflege des Vorhandenen aus. Von allem, was da ist, und allem, was dazukommt.

Die Klimakrise hat das Denken unserer Gesellschaft verändert. Jede:r beginnt, die eigenen Gewohnheiten zu hinterfragen. Was kann ich zur Reduktion der Treibhausgasemissionen beitragen? Der Verzicht auf Flugreisen gehört bei vielen inzwischen zum persönlichen Repertoire, im Kühlschrank stehen Haferdrink und Planted Chicken. Begrenzter sind die individuellen Handlungsmöglichkeiten beim Wohnen. Denn während jede:r Einzelne in verschiedenen Lebensbereichen einen Beitrag leistet, verursacht der Bausektor weiterhin rund ein Viertel der Schweizer Treibhausgasemissionen. Ersatzneubauten zielen zwar auf die energetische Optimierung bei Herstellung und Betrieb, lassen aber die in den bestehenden Gebäuden bereits verbaute Energie ausser acht. Dabei sind bestehende Bauten eine Ressource, mit der es sorgsam umzugehen gilt.

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Das Gewinnerprojekt des Architekturwettbewerbs: Ein Ersatzneubau, bekannt gegeben Ende August 2021. (Visualisierung: Zimmermann Sutter Architekten AG, Zürich, von der Website der Stadt Zürich)

Zugegeben: Betrachtet man die Siedlung Salzweg in ihrer heutigen Erscheinung, gibt sie kein allgemein anerkanntes Bild von Nachhaltigkeit ab. Zu lebensfeindlich scheinen viele ihrer harten Betonfassaden, und die rostenden Eisen, die in den Abplatzungen zum Vorschein kommen, erinnern an die Zerstörung unserer Umwelt.

Doch in den Rissen und Brüchen macht sich Leben breit, siedelt sich spontan Vegetation an. Am Salzweg geht nahe an den Gebäuden ein Rauschen durch die Blätter, wenn der Wind anhebt, und auch unerwartete Stellen wurden von den Bewohner:innen besetzt. Wir brauchen ein gesellschaftliches Verständnis, dass nachhaltiges Handeln das Weitermachen mit dem Vorgefundenen bedingt, nicht dessen Ersatz. Auf dieses Verständnis müssen politische Forderungen folgen, die von den Stadtbewohner:innen getragen werden.

Wir stellen uns eine Zukunft vor, in der Neubau und Vorgefundenes verschmelzen.

ZAS*

Das bisherige Vorgehen in Zürich ist schnell zusammengefasst:

Die Stadt Zürich muss verdichten und macht – Ersatzneubau.

Genossenschaften sollen sich erneuern und machen – Ersatzneubau.

Investor:innen wollen die Rendite maximieren und machen – Ersatzneubau.

Architekt:innen müssen/sollen/wollen die Stadt (unsere Umwelt) gestalten und machen – Ersatzneubau.

Die verschiedenen Akteur:innen folgen trotz unterschiedlicher Intentionen der gleichen Strategie. Diese Gewohnheiten gilt es zu brechen. Wir fordern dazu auf, die Strategie Ersatzneubau für zukünftige Entwicklungen zugunsten eines offenen Ausgangs fallen zu lassen. Wir sehen eine Chance in Prozessen mit unerwarteten Wendungen, in Planungen, welche nicht bis zum Ende definiert sind, sondern reagieren können auf die vielen fantastischen Dinge, welche wir in unsere Welt jeden Tag entdecken. Wir stellen uns eine Zukunft vor, in der Neubau und Vorgefundenes verschmelzen, jung und alt, reich und arm, Mensch und Natur und alles dazwischen. Eine Zukunft, die unerwartete Wendungen nehmen kann.

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ZAS*
ZAS* ist ein Zusammenschluss junger Architekt:innen und Stadtbewohner:innen. Unter ihnen kursieren heute verschiedene Versionen darüber, wo, wann und warum dieser Verein gegründet wurde. Dem Zusammenschluss voraus ging eine geteilte Erregung über die kurze Lebensdauer der Gebäude in Zürich. Durch Erzählungen und Aktionen denkt ZAS* die bestehende Stadt weiter und bietet andere Vorstellungen an als jene, die durch normalisierte Prozesse zustande gekommen sind. Um nicht nur Opposition gegenüber den offiziellen Vorschlägen der Stadtplanung zu markieren, werden transformative Gegenvorschläge erarbeitet. Dabei werden imaginative Räume eröffnet und in bestehenden Überlagerungen mögliche Zukünfte lokalisiert. Die Kolumne navigiert mit Ballast auf ein anderes Zürich zu und entspringt einem gemeinsamen Schreibprozess. Zur Kontaktaufnahme schreiben an: [email protected]

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