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12. Juni 2019 um 09:00

«Wir haben noch 11 Jahre, massiv umzusteuern»

Seit 1968 ruft die gemeinnützige Organisation The Club of Rome zum Klimaschutz auf. Erst jetzt, 50 Jahre später, scheint sich etwas zu tun. Ist es schon zu spät? Redaktorin Florentina hat den Sprecher des Club of Rome, Till Kellerhoff, in Winterthur zum Interview getroffen.

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Anfang Mai hat der Zürcher Kantonsrat den Klimanotstand ausgerufen – man hat das Gefühl, etwas ist in Bewegung.

Es ist toll, dass unter anderem dank den Schüler*innenprotesten immer mehr Städte auf der Welt den Klimanotstand ausrufen. Man hat schon das Gefühl, dass sowohl die Zivilgesellschaft als auch die Regierenden mehr und mehr merken, wie ernst die Lage ist. Die Ausrufung des Klimanotstands ist zumindest ein Zeichen dafür, dass wir etwas tun müssen. Jetzt ist natürlich wichtig, dass dies nicht im luftleeren Raum stehen bleibt, sondern dass konkrete Massnahmen folgen.

Also auch politische Aktionen.

Ja, denn wir haben nicht mehr viel Zeit. Bis 2050 auf Netto-Null-Emissionen zu kommen ist eine enorme Kraftanstrengung. Aber es ist technologisch und wirtschaftlich möglich – deswegen begrüssen wir es, dass die Städte den Klimanotstand ausrufen.

Bis 2050 auf Netto-Null-Emissionen zu kommen ist eine enorme Kraftanstrengung.

Die Klimajugend spricht auch von einem System-Problem. Braucht es wirklich einen Wandel des globalen Wirtschaftssystems?

Ja. Die Jugend, die jetzt auf die Strasse geht, hat das Problem besser erkannt als viele der Erwachsenengeneration. Man wird das Problem nicht durch individuelle Massnahmen lösen können. Es ist super, wenn mehr Leute weniger Fleisch essen, weniger Auto fahren, aber letztlich müssen systemverändernde Massnahmen getroffen werden. Beispielsweise in der Form, dass umweltschädliches Verhalten nicht mehr belohnt werden darf, sondern bestraft werden muss, wie es bei einer CO2-Steuer geschieht.

Wir müssen überlegen, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen und ob dauerhaftes, unbegrenztes Wachstum tatsächlich ein adäquater Wohlstandsindikator ist.

Die FDP versucht, statt mit Verzicht mittels neuer Technologien und Ressourcen das Problem zu lösen. Nützt das was?

Man macht es sich ein wenig einfach, wenn man versucht, die Behebung der Klimakatastrophe auf neue Technologien zu begrenzen. Wir haben in der Vergangenheit gesehen, dass Einsparungen von CO2 durch neue Entwicklungen oft dadurch kompensiert werden, dass einfach die Nachfrage steigt. Es ist wichtig, auf neue Technologien zu setzen – wir dürfen da aber nicht stehen bleiben, auch aus Mangel an Zeit.

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Till Kellerhoff, Sprecher von The Club of Rome (Bild: Till Kellerhoff)

Worauf sollten sich die Firmen fokussieren? Was müsste jetzt Priorität haben?

Gerade Versicherungen haben den Ernst der Lage erkannt, da sie mitunter am stärksten betroffen sind. Firmen können ihre Rolle spielen, indem sie sich zu Klimaschutzmassnahmen bekennen und darauf hinwirken, dass in ihren Unternehmen klimafreundliche Massnahmen umgesetzt und nachhaltige Lieferketten etabliert werden. Letztendlich sind aber auch sie Teil eines nicht auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Systems und müssen sich an die von der Politik gesetzten Rahmenbedingungen anpassen. Unternehmen können aber genauso wie die Zivilgesellschaft Druck ausüben.

Je mehr Druck, desto mehr Impact.

Genau. Die Schüler*innenproteste haben ein erstaunliches Ausmass angenommen, sodass Politiker*innen über den ganzen Planeten hinweg Stellung beziehen müssen. Und: Es gibt internationale Verträge wie das Pariser Klimaschutzabkommen, in denen sich die Staaten schon dazu verpflichtet haben, zu handeln.

Man macht es sich ein wenig einfach, wenn man versucht, die Behebung der Klimakatastrophe auf neue Technologien zu begrenzen.

Worst Case-Szenario – wir machen einfach so weiter wie bisher. Was kommt auf uns zu?

Auswirkungen der globalen Erwärmung wie die Zunahme von Extremwetterereignissen oder Dürren sind schon heute sichtbar. Wir werden einen Anstieg des Meeresspiegels, massives Artensterben oder die Unbewohnbarkeit bestimmter Teile unserer Erde erleben. Viele Probleme werden wir vor allem in Ländern des globalen Südens haben, die nicht so sehr in der Lage sind, sich zu schützen – was natürlich wieder eine Gerechtigkeitsfrage aufwirft, weil nicht sie die Verursacher*innen sind. Wir als reiche Industrieländer sind wesentlich für das Problem verantwortlich.

Aber uns trifft's nicht am schlimmsten.

Das stimmt, obwohl es uns auch treffen wird – sei es in Form von extremer Hitze, Auswirkungen für die Landwirtschaft oder steigenden Zahlen von Klimaflüchtlingen, worauf wir eine adäquate und humane Antwort finden müssen.

Auswirkungen der globalen Erwärmung sind schon heute sichtbar.

Welche Ressource würde am schnellsten am knappsten werden – Wasser?

Wasser ist eine Konfliktlinie – wobei es bei Ressourcen immer schwierig zu sagen ist, wo noch Quellen entdeckt werden, zumal das regional sehr unterschiedlich ist. Wir stossen heute nicht nur an materielle Grenzen des Wachstums, sondern auch an soziale Grenzen: Immer mehr Menschen leiden an Burnouts und anderen psychischen Erkrankungen – das hängt ja alles auch mit dem Wirtschaftssystem zusammen. Die Aufgabe muss sein, eine Ökonomie aufzubauen, die für den Menschen da ist und nicht umgekehrt.

Das Best Case-Szenario: Wenn wir jetzt zu handeln beginnen, die Klimaversprechen eingelöst werden, die Politik sich einigt und sich auch wirklich etwas tut – was würde dann passieren?

Wir haben die Möglichkeiten, ein global gerechtes Wirtschaftssystem aufzubauen, das alle Menschen partizipieren lässt und es schafft, die Profite gerecht umzuverteilen, sodass alle Menschen vom Fortschritt profitieren und innerhalb unserer planetaren Grenzen ein gutes Leben führen können. Das Wohlstandsversprechen, welches in den 40ern und 50ern noch an Wachstum gekoppelt war, stimmte in Ländern wie Deutschland oder der Schweiz bis etwa in die 70er-Jahre. Weil dies heute in Industrieländern nicht mehr der Fall zu sein scheint, untere Einkommensschichten beispielsweise kaum vom Wachstum profitieren, ist es Zeit, umzudenken.

Die Aufgabe muss sein, eine Ökonomie aufzubauen, die für den Menschen da ist und nicht umgekehrt.

Dürfen wir dann überhaupt noch in die Ferien?

Leute haben das Bedürfnis, andere Teile der Erde zu entdecken, und es gibt Möglichkeiten des nachhaltigen Reisens. Der Staat könnte sie unterstützen, zum Beispiel die Nachtzüge fördern. Damit lässt es sich viel angenehmer reisen, als sich am Flughafen in riesige Schlangen zu stellen und ewig zu warten.

Man wird also noch reisen können, aber einfach kleinräumiger?

Wenn es einem Wert ist, mal schnell für eine Woche nach Palma de Mallorca zu fliegen, wird man eben mehr Geld dafür bezahlen müssen. Vielleicht führt das auch wieder dazu, dass mehr Menschen reisen, statt Urlaub zu machen, wie Roger Willemsen es ausdrückte.

Wie würden wir zusammenleben? Mehr Menschen und mehr Migration wird es ohnehin geben.

Irgendwann zwischen 2050 und 2100 wird die Bevölkerung nicht mehr weiter wachsen. Momentan sind wir ungefähr 7.6 Milliarden. Manche Forschende gehen davon aus, dass bei etwa 9 Milliarden ein Peak erreicht sein wird, andere sagen 11 Milliarden, aber darüber hinaus wird es nicht gehen.

Wieso nicht?

Weil wir sehen, dass in Industrieländern, die soziale Sicherungssysteme haben und in denen nicht mehr die Familie die Altersvorsorge darstellt, die Geburtenrate sinkt. Und in vielen afrikanischen Ländern sind die Geburtenraten vor allem deshalb so hoch, weil sie die Familien als soziale Sicherungssysteme benötigen. Je mehr staatliche soziale Sicherungssysteme Einzug halten, je bessere Bildungssysteme es gibt, desto tiefer ist auch die Geburtenrate – das heisst, wir werden nie in einer Welt mit 30 Milliarden Menschen leben.

Das Problem ist global. Ich habe aber oft den Eindruck, dass ich mich in einer Bubble der besser gebildeten befinde, die sich der Problematik bewusst ist und sie versteht. Für viele andere ist es immer noch ein Statussymbol wenn man reich ist, viel konsumiert, drei Autos und ein riesiges Haus besitzt.

Ich habe das Gefühl, dass sich das in der jungen Generation kollektiv verändert und nicht nur in einer gewissen Bubble. Aber es ist natürlich wichtig, dass Umweltschutzmassnahmen nie auf die Umwelt begrenzt sein dürfen, sondern immer den sozialen Aspekt miteinbeziehen müssen. Wenn man beispielsweise wie in Frankreich Steuern einführt, die massiv am Willen der Bevölkerung vorbeigehen, hat man halt Gelbwesten auf der Strasse. Interessant ist, dass Umweltschutz inzwischen aus einer sehr progressiven Gesellschaftsschicht kommt, obwohl das «Umwelt bewahren» – oder aus religiös-konservativer Sicht «Schöpfung bewahren» – eigentlich ein sehr traditionell-konservatives Leitbild sein müsste.

Lässt sich Umweltschutz also nicht in ein klassisches link-rechts Schema einordnen?

Genau. Zwar gibt es ermutigende Signale durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch, beispielsweise durch den Aufruf von Papst Franziskus, der in der Enzyklika Laudato si’ zum Umweltschutz aufruft. Gleichzeitig sehen wir aber verstörende Tendenzen – beispielsweise in den USA. In der seit Jahren immer konservativ-reaktionärer werdenden republikanischen Partei gibt es inzwischen viele Stimmen, welche den menschengemachten Klimawandel leugnen. Das ist ein völlig absurder Trend, der jeglicher naturwissenschaftlicher Erkenntnis widerspricht.

Das ist nicht nur in den USA so – wir haben auch hier Leute wie Roger Köppel.

Das ist tatsächlich beängstigend. Es zeugt von einer grossen Naivität und dem Unvermögen, die Realität zur Kenntnis zu nehmen, wenn man den Klimawandel leugnet.

Man darf also einen Unterschied machen zwischen jetzt und den 80er Jahren? Damals meinte man auch, man stünde kurz vor dem Weltuntergang.

Wir haben inzwischen die wissenschaftliche Evidenz, dass die Erde, wenn wir nicht handeln, massiv anders und ungemütlicher sein wird in 50 Jahren. Bei diesen ganzen Phänomenen der 70er jetzt retrospektiv zu sagen, es hätten alle übertrieben, ist weitestgehend falsch. Phänomene wie das Waldsterben oder die Bedrohung des Ozonlochs sind ja nur wegen Massnahmen wie dem FCKW-Verbot nicht in der befürchteten Form eingetreten – weswegen die Situation heute weniger schlimm ist. Deshalb ist es eigentlich ein Argument dafür, jetzt zu handeln, und nicht ein Argument dafür, zu sagen: «Ach, es passiert ja eh nichts.»

Es ist eine Art negative Rückkopplung?

Wir haben damals gesehen: Staatliches Handeln kann innerhalb relativ kurzer Zeit einen Einfluss haben. Das gleiche wäre heute an der Tagesordnung zu machen. Wir haben die Studie des Weltklimarates, die besagt: Wir haben noch elf Jahre, massiv umzusteuern. Weil sonst gewisse Kipppunkte im Klima aktiviert werden, die eine Klimaveränderung unumkehrbar machen.

Eine Umstellung ist möglich, es ist nicht zu spät.

Zum Beispiel?

Das Abschmelzen des Eises in der Antarktis oder in Grönland zum Beispiel würde massive Kettenreaktionen auslösen können. Wenn das weisse Eis als Reflektionsfläche wegfällt, könnten wieder mehr Sonnenstrahlen aufgenommen werden, was wiederum zu einer grösseren Erwärmung führt – die Eis-Albedo-Rückkopplung.

Klimanotstand ist schon das richtige Wort – weil eben wenig Zeit bleibt. Man würde sich wünschen, dass diese Krise gleich gehandelt wird wie andere Krisen. Bei Bankenkrisen gibts innerhalb von kurzer Zeit grosse Kongresse.

Wenn Sie uns etwas auf den Weg mitgeben können, was würden Sie sagen?

Eine Umstellung ist möglich, es ist nicht zu spät. Wir können eine Gesellschaft schaffen, die für alle Menschen funktioniert und in der der Mensch in Einklang mit der Natur lebt. Aber wir müssen handeln. Darauf hinzuwirken, dass sich gesellschaftlich etwas ändert, ist unsere grosse Zukunftsaufgabe.

Titelbild: Henry & Co. von Unsplash

The Club of Rome
The Club of Rome ist eine 1968 gegründete gemeinnützige Organisation, die sich mit den Zukunftsproblemen der Menschheit und des Planeten befasst. Die 100 Mitglieder des Club of Rome sind renommierte Expert*innen aus verschiedenen Disziplinen der Wissenschaft, Wirtschaft wie auch Politik. Mit der Veröffentlichung des Berichts «Grenzen des Wachstums» im Jahr 1972 erlangte die Organisation weltweite Bekanntheit. Ihre neueste Publikation ist ein Climate Emergency Report mit zehn konkreten Massnahmen, die unmittelbar umgesetzt werden sollten, sodass die Klimaerwärmung auf 1.5 Grad Celsius beschränkt werden kann.
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