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27. Januar 2022 um 11:00

Winterrede Sonia I. Seneviratne: «Bei der Klimakrise gibt es keine Impfung und keine Genesung»

Es ist wieder soweit: Karl der Grosse lädt zur alljährlichen Ausgabe der «Winterreden» ein. Vom 17. bis 28. Januar 2022 haltet jeweils um 18 Uhr eine Persönlichkeit aus Politik, Kultur oder Kunst eine Rede aus dem Erkerfenster des Karls. Du hast die Winterrede verpasst? Bei uns kannst du sie nachlesen!

Die Klimawissenschaftlerin fand an ihrer Rede klare Worte. (Fotos: Jill Oestreich)

Hier geht's zum weiteren Programm.

Rede: Prof. Sonia I. Seneviratne, ETH Zürich

Das Ende der COVID-Krise scheint nahe: Ein grosser Teil der Bevölkerung ist geboostert und bei der Omikron-Welle wurden viele angesteckt, zum Glück mit weniger Konsequenzen als bei früheren Virusvarianten. Auch wenn das COVID-Virus verheerende Folgen für viele Betroffene hatte, so konnte noch Schlimmeres durch rechtzeitiges Handeln vermieden werden. Für mich als Mutter am Wichtigsten: Die Kinder waren zum Glück gesundheitlich weniger stark bedroht als Erwachsene.

Bei der Klimakrise ist aber alles anders. Die Klimaerwärmung wird jedes Jahr ausgeprägter, und unsere Kinder sind am meisten bedroht. Ein Kind, das 2020 geboren wurde, wird in seinem Leben siebenmal mehr Hitzewellen erleben, als jemand, der 1960 geboren wurde, wenn wir es nicht schaffen, schärfere Ziele für die Verminderung von CO2-Emissionen zu setzen. Im letzten Jahrzehnt hatten wir 1.1°C globale Erwärmung, in 2030 werden wir ca. 1.5°C erreichen. Was danach passiert, hängt von unseren jetzigen Entscheidungen ab. Das CO2 akkumuliert sich in der Atmosphäre und jede emittierte Tonne CO2 führt zu mehr globaler Erwärmung. Dabei gibt es kein Zurück. 

Die Winter, die viele von uns als Kinder erlebt haben, wird es nicht mehr geben, egal was wir machen. Und die Sommer werden dauerhaft von mehr Hitzewellen, Starkniederschlägen und Trockenheit geprägt, als dies im 20. Jahrhundert der Fall war. Wenn wir das Richtige tun, und es in ca. zwei Jahrzehnten, d.h. 2040, schaffen, kein CO2 mehr global zu emittieren, wird das Klima trotzdem nicht wieder wie im Jahre 1950 sein. Es wird sich einfach auf einem Niveau stabilisieren, das wahrscheinlich erträglich ist, uns aber nichtsdestotrotz Schwierigkeiten bereiten wird. Wir werden mehr Extremereignisse als jetzt erleben, Gletscher werden noch weiter abschmelzen, und der Meeresspiegel wird noch höher werden. Bei der Klimakrise ist keine Genesung möglich. Im besten Fall wird es eine chronische Krankheit bleiben.

Aber eine chronische Krankheit ist besser als ein Kollaps. Falls wir es im schlimmsten Fall nicht schaffen, die globale Erwärmung auf deutlich unterhalb von 2°C zu begrenzen, sondern weiterhin mit Benzinautos fahren, mit Kerosin-Flugzeugen fliegen, mit Öl und Gas heizen, und mit Kohle Strom erzeugen, wird die Klimakrankheit aber immer schlimmer und ein Kollaps kann nicht ausgeschlossen werden. Wir wissen, dass viele Tier- und Pflanzenarten aussterben werden, dass die Nahrungssicherheit global nicht mehr garantiert sein wird, und dass noch viel mehr Menschen wegen dem Klimawandel sterben werden, auch in unseren Breiten wie wir es letzten Sommer in Kanada und Deutschland gesehen haben.

Ausserdem wissen wir aus der Vergangenheit, dass das Klima sich auch abrupt verändern kann. Wir wissen, dass es einige Änderungen im Klimasystem gibt, die grossskalige und irreversible Schäden verursachen könnten, zum Beispiel falls der Amazonas-Regenwald als Folge der Abholzung und verstärkter Trockenheit abstirbt. Wir haben aber kein Versuchsplanet wo wir das ausprobieren können und schauen können was bei einer Welt mit mehr als 2°C globaler Erwärmung genau passiert. Das Experiment führen wir mit unserem eigenen Planeten durch. Und diejenigen, die am meisten bedroht sind, sind die Kinder der heutigen Welt, die die Folgen dieses Experiments am heftigsten am eigenen Leib erleben werden.

«Ich möchte an den Pioniergeist der Schweiz appellieren.»

Sonia I. Seneviratne

Es gibt oft ein falsches Gefühl der Sicherheit in der Schweiz. Man meint, dass – weil die Schweiz ein reiches Land ist – wir die meisten Krisen überwinden können. Aber die Schweiz ist auch ein kleines Land mit wenigen Ressourcen, das etwa die Hälfte seine Nahrungsmittel importiert, und für seine Energiesicherheit von anderen Ländern abhängig ist. Als Gesichtsmasken 2020 global knapp geworden sind, hat die Schweiz es auch als reiches Land nicht geschafft mehr Masken zu bekommen. Ja, die Schweiz hat von der bisherigen Weltordnung profitiert, aber diese Weltordnung ist passé. Wollen wir zu denjenigen gehören, die krampfhaft versuchen, in der Vergangenheit zu bleiben, oder sind wir bereit, einen besseren Weg für die Zukunft mitzugestalten?

Ich möchte hier einige Erkenntnisse aus dem jüngsten Sachstandsbericht des Weltklimarats über die physikalischen Grundlagen des Klimawandels, der letzten August veröffentlicht wurde, zusammenfassen. Dieser Bericht wurde in über mehr als drei Jahren Arbeit von 234 Klimaforschenden verfasst. Ich war eine koordinierende Hauptautorin des Kapitels über Wetter-​ und Klimaextreme. Wie ich es in einem ETH-Zukunftsblog kurz zusammengefasst habe, zeigt die gesamte im Bericht zusammengefasste Evidenz klar, dass der Klimawandel nicht länger eine vage Bedrohung in der Zukunft ist. Er findet hier und jetzt statt, und unser Verbrauch von fossilen Energieträgern, d.h. Erdöl, Gas und Kohle, ist hauptsächlich dafür verantwortlich. Die globale Erwärmung, die wir jetzt erreicht haben, ca. 1.1°C, ist ohne Präzedenz in mehr als 100'000 Jahren. Das heisst, dass sowohl die Babylonier, als auch die Pharaos, und die Römer in einer Welt lebten, die kühler als jetzt war. Das heisst auch, dass die Landwirtschaft, die vor ca. 10'000 Jahren begonnen hat, sich unter kühleren Bedingungen als jetzt entwickelt hat. 

Für die Zukunft zeigt der jüngste Weltklimaratsbericht, dass unsere Entscheidungen in den kommenden zwei bis drei Jahren absolut kritisch sind. Jedes Zehntelgrad zusätzlicher globaler Erwärmung zählt. Hitzetage kommen jetzt global schon dreimal häufiger vor als ohne Einfluss von uns Menschen auf das Klima. Mit 1.5°C globaler Erwärmung wären sie 4-mal häufiger, mit 2°C aber 6-mal häufiger. Das wäre das doppelte gegenüber heute, und schon jetzt ist ein Drittel aller Hitzetode auf den Klimawandel zurückzuführen. Wenn wir die Chance aufrechterhalten wollen, die globale Erwärmung auf ca. 1.5°C zu stabilisieren, was dennoch wärmer als jetzt sein wird, dann müssen wir nicht nur die globalen CO2-Emissionen bis ca. 2040-2050 auf Null bringen, sondern wir müssen sie auch – und das ist vielleicht noch wichtiger – bis 2030 um die Hälfte reduzieren. Jedes Land muss seinen Beitrag leisten.

In der Schweiz ist es relativ einfach zu eruieren, was wir dafür machen sollten. Drei Viertel unserer CO2-Emissionen werden durch den Ölverbrauch verursacht, das heisst Benzin, Kerosin und Heizöl. Die restlichen Emissionen sind vor allem dem Gasverbrauch geschuldet. Wir müssen also dringend die Stromproduktion aus Solar- und Windenergie ausbauen, Benzinautos und fossile Heizungen ausser Betrieb nehmen, und solche Transitionen unterstützen, sodass sie sozial verträglich sind. Eine Studie hat abgeschätzt, dass die dafür benötigten globalen finanziellen Mittel pro Jahr, ein Bruchteil der Unterstützungspakete betragen, die bei der COVID-Krise bewilligt wurden.

Die COP26 hat, trotz ihrer begrenzten Erfolge, immerhin zum ersten Mal den Ernst der Stunde erkannt. Hier sind einige Sätze vom Glasgow Climate Pact, die direkt auf dem Weltklimaratsbericht von letztem August basieren:

Die COP26 ist «alarmiert und äußerst besorgt darüber, dass menschliche Aktivitäten bisher eine Erwärmung von etwa 1.1°C verursacht haben, dass die Auswirkungen bereits in allen Regionen zu spüren sind und dass die Kohlenstoffbudgets, die mit dem Erreichen des Temperaturziels des Pariser Abkommens vereinbar sind, inzwischen gering sind und rasch aufgebraucht werden.»

Sie «unterstreicht die Dringlichkeit, in diesem kritischen Jahrzehnt mehr Ehrgeiz und Maßnahmen in Bezug auf Abschwächung, Anpassung und Finanzierung zu ergreifen, um die Lücken bei der Umsetzung der Ziele des Pariser Abkommens zu schließen.»

Die COP «nimmt mit ernster Besorgnis die Ergebnisse des Beitrags der Arbeitsgruppe I zum Sechsten Sachstandsbericht des Weltklimarats/IPCC zur Kenntnis, einschließlich der Tatsache, dass Klima- und Wetterextreme und ihre nachteiligen Auswirkungen auf Mensch und Natur mit jedem weiteren Temperaturanstieg weiter zunehmen werden.»

Die COP «erkennt an, dass die Auswirkungen des Klimawandels bei einem Temperaturanstieg von 1.5°C wesentlich geringer sein werden als bei 2°C, und beschließt, die Bemühungen zur Begrenzung des Temperaturanstiegs auf 1.5°C fortzusetzen.» Sie erkennt auch an, «dass die Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1.5°C eine rasche, tiefgreifende und nachhaltige Verringerung der globalen Treibhausgasemissionen erfordert, einschließlich einer Verringerung der globalen Kohlendioxidemissionen um 45 Prozent bis 2030 im Vergleich zum Stand von 2010 und ein Netto-Null Budget um die Mitte des Jahrhunderts, sowie eine tiefgreifende Verringerung anderer Treibhausgase.»

Abschliessend bekräftigt die COP26, «dass dies in diesem kritischen Jahrzehnt beschleunigte Maßnahmen auf der Grundlage der besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse und der Gerechtigkeit erfordert.»

Diese Auszüge zeigen klar, dass die Lage ernst ist. Für diejenigen die Zahlen wollen: Der Weltklimaratsbericht zeigt konkret, dass beim jetzigen CO2-Emissionen Niveau, die CO2-Budgets für eine Klimastabilisierung auf 1.5°C in ca. sieben bis 12 Jahre aufgebraucht sein werden.

Die Schweiz kann und muss mehr machen. Als nur eines von wenigen Ländern, zusammen mit Australien, Russland, und Brasilien, hat die Schweiz keine ehrgeizigeren Ziele für die Reduktion von CO2-Emissionen vor der COP26 im letzten Herbst eingereicht. Dies wurde durch das Scheitern des CO2-Gesetzes verursacht, und war äusserst peinlich. Nächsten Herbst an der COP27 ist es essentiell, dass die Schweiz Emissionsreduktionsverpflichtungen einreicht, die mindestens mit einer Halbierung der CO2-Emissionen bis 2030 kompatibel sind. Natürlich weniger um Blossstellung auf internationaler Ebene zu vermeiden, sondern vielmehr weil wir beim Klima eine Krise für die Menschheit und die zukünftigen Generationen haben, eine Krise zu der die Schweiz jedes Jahr weiter beiträgt, eine Krise bei der es keine Impfung und keine Genesung gibt.

Letztendlich möchte ich an den Pioniergeist der Schweiz appellieren. Sind wir nicht das Land von Henri Dunant, der das Rote Kreuz gründete, ein Symbol für die humanitäre Schweiz? Sind wir nicht das Land von Alfred Escher, der die ETH gründete und die Vision für das weltanerkannte Schweizer Zugnetz hatte? Sind wir nicht das Land, das nach dem ersten Weltkrieg entschied, die Züge nicht mehr mit Kohle, sondern mit Elektrizität zu betreiben, um nicht mehr vom Ausland abhängig zu sein? Eine Schweiz, die bis 2030 auf Elektromobilität mit Zug und Elektro-Autos setzt, ihre Häuser mit Geothermie und Wärmepumpen heizt, und ihre Elektrizität mit Wasserkraftwerken, und Solar- und Windenergie zum grössten Teil selbst erzeugen kann, wird unabhängiger und wird ein Beispiel der Dekarbonisierung für die Welt darstellen.

Ich hoffe sehr, dass wir den Mut finden, diese neue Schweiz zu erschaffen. 

Alle bisherigen Reden 2022:

  • Winterrede Samuel Schwarz
  • Winterrede Natalie Rickli
  • Winterrede Schüler:innen Schule am Wasser
  • Winterrede Mischa Schiwow
  • Winterrede Eneas Pauli
  • Winterrede Amine Diare Conde
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