Winterrede Amine Diare Conde: «Durch Solidarität ist alles möglich – ich glaube fest daran!» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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26. Januar 2022 um 11:00

Winterrede Amine Diare Conde: «Durch Solidarität ist alles möglich – ich glaube fest daran!»

Es ist wieder soweit: Karl der Grosse lädt zur alljährlichen Ausgabe der «Winterreden» ein. Vom 17. bis 28. Januar 2022 haltet jeweils um 18 Uhr eine Persönlichkeit aus Politik, Kultur oder Kunst eine Rede aus dem Erkerfenster des Karls. Du hast die Winterrede verpasst? Bei uns kannst du sie nachlesen!

Der Gründer von «Essen für Alle» erinnerte die Zuhörer:innen gestern an Zeiten, als die Schweiz ein Auswanderungsland war – und forderte zu mehr Verständnis in der Gegenwart auf. (Fotos: Jill Oestreich)

Hier geht's zum weiteren Programm.

Rede: Amine Diare Conde

Liebe Anwesende: «Grüezi» – Ich freue mich sehr, heute hier zu Ihnen sprechen zu können. So habe ich die Möglichkeit, Ihnen meine Sichtweise und meine Erfahrungen zu dem Thema Solidarität mitzuteilen. Dieses Thema ist für mich sehr wichtig, es liegt mir am Herzen.

Ich bedanke mich herzlich für die Einladung bei der Organisation.

Ich habe zwei Aussagen zu Solidarität gefunden, die mir gut gefallen: Eine ist vom Soziologen Alfred Vierkandt aus dem Jahr 1928. Er sagte «Solidarität ist die Gesinnung einer Gemeinschaft mit starker innerer Verbundenheit» und die zweite ist von Richard von Weizsäcker, dem deutschen Politiker aus dem Jahre 1968: «Nur eine solidarische Welt kann eine gerechte und friedvolle Welt sein.»

Solidarität braucht es besonders, aber nicht nur in Krisenzeiten. Wir leben in einer globalen Welt, sind miteinander verbunden, sind voneinander abhängig – wir brauchen einander immer – zu jeder Zeit. Das Miteinander erfordert Zusammenhalt, Rücksichtnahme, Hilfsbereitschaft auf Augenhöhe und es braucht gültige Regeln, die umgesetzt und kontrolliert werden müssen.

Ohne Respekt, Fairness, Chancengleichheit, ökonomisches Gleichgewicht, Rechtstaatlichkeit, Bildung und wertfreier Kommunikation ist Solidarität nicht denkbar. Wir leben in gegenseitiger Abhängigkeit.

Schauen Sie, Schokolade ist zum Beispiel ein Schweizer Markenzeichen, Kakaobohnen haben wir aber nicht hier. Und Reis, den wir selbstverständlich auf unserem Speiseplan haben, kommt nicht von hier, oder? Andererseits schauen wir die Pharmaindustrie an, so sehen wir den globalen Gebrauch von Medikamenten durch und mit Schweizer Forschung und Entwicklung. Globale Vernetzung führt zu mehr transparenter Information, aber auch zu Abhängigkeiten.

Nun sind wir alle konfrontiert mit Herausforderungen durch globale, wirtschaftliche, politische, kulturelle, religiöse Unterschiede, mit anderen Wertvorstellungen. Eine veränderte gesellschaftliche Struktur durch Wohlstand zeigt uns eine Tendenz zu mehr Individualismus, Egoismus und weniger Solidarität.

Die Angst Gewohntes und den Wohlstand zu verlieren, führt die Gesellschaft zu Abgrenzung und folglich zu Ausgrenzung. Es ist nicht unbedingt unsere Grundeinstellung dem Unbekannten gegenüber, doch es wird vergessen, dass wir einander brauchen und dass die Fremden, auch zum gemeinsamen Wohlstand beitragen.

Ich bin nun schon fast acht Jahre in der Schweiz und habe gelernt, dass auch die Schweizer Bevölkerung immer wieder unter schwierigsten Bedingungen gelebt hat und deshalb im 19. Jahrhundert viele auswanderten und auf ein besseres Leben hofften. So gibt es in den USA mehrere Städte wie New Glarus (Wisconsin), New Geneva (Pennsylvenia) und Zurich (Kansas).

Haben wir in der reichen Schweiz wirklich vergessen, dass auch unsere Vorfahren diverse Hungersnöte erleben mussten?

In den schlechtesten Zeiten zwang eine unvorstellbare Not die Menschen, aus Baumrinde, Kleie und Stroh Brot zu backen; Gras und Heu wurden gekocht und gegessen, Tausende suchten Felder und Wälder nach Brennesseln und Vogelbeeren ab. Hunde und Katzen wurden nicht verschont, ja sogar ihre Kadaver wurden gehandelt. Immer wieder wütete der Hungertod im Land, Epidemien grassierten.

Ich möchte noch ein konkretes Beispiel erzählen, das ich in einem Blogbeitrag des Landesmuseums gefunden habe. Es zeigt, dass wenn die Wohlhabenden sich solidarischer verhalten hätten, die Situation nicht so dramatisch gewesen wäre.

«Hätten mich nicht viele Menschen unterstützt und sich mir gegenüber solidarisch verhalten, würde ich jetzt nicht vor Ihnen stehen können.»

Amine Diare Conde

Im Sommer 1816 gab es 80 Prozent mehr Regentage als normal. Ausserdem war es ungewöhnlich kalt. Noch im Juli schneite es mehrfach bis ins Flachland. Am schwersten traf es die Ostschweiz und dort besonders Gegenden wie Glarus oder das Zürcher Oberland, wo die Menschen gerade von der Landwirtschaft auf die Textilproduktion umstiegen und deshalb auf den Import von Getreide angewiesen waren. Dieses blieb nun aber aus und die Preise schossen mancherorts auf das Sechsfache. In Appenzell-Innerrhoden verhungerte etwa ein Zehntel der Bevölkerung. Mancherorts grasten die Menschen mit dem Vieh auf den Weiden. Die Hungersnot war unvorstellbar.

Die Not offenbarte auch ein Versagen der Eliten: Jeder Kanton schaute für sich – und schloss die Grenzen für den Getreideexport. Dabei hatte der Bundesvertrag von 1815 genau das eigentlich verboten. Während in der Ostschweiz gehungert wurde, war man im Wallis weniger betroffen, das als Auswirkung von fehlender Solidarität.

Und wie ist heute die Situation?

Glücklicherweise lebt heute die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung in guten Verhältnissen. Doch leider trifft diese Situation nicht auf die Mehrheit der Weltbevölkerung zu. Kriege, politische, wirtschaftliche und ökologische Probleme fordern Menschen auf, ihre Flucht in wohlhabendere, friedlichere Länder zu wagen und auf sich nehmen und davon ist auch die Schweiz betroffen. Die Zahl der Menschen, die weltweit vor Krieg, Konflikten und Verfolgung fliehen müssen, war noch nie so hoch wie heute.

Laut dem «Global Trends Report» von UNHCR waren Ende 2020 82,4 Millionen Menschen auf der Flucht. Doch die Zahlen steigen kontinuierlich weiter an.

So ist die Schweiz vom Auswanderungsland im 19. Jahrhundert seit dem 20. Jahrhundert zum Einwanderungsland geworden. Viele Einwander:innen hoffen auf ein Leben in Frieden und Wohlstand.

Aber in der Schweiz leben auch arme, bedürftige Menschen, die aus ganz verschiedenen Gründen unter dem Existenzminimum leben und auf Hilfe und Solidarität angewiesen sind. Die folgenden Zahlen habe ich der Medienmitteilung des Bundesamtes für Statistik entnommen: In der Schweiz waren im Jahr 2019 8,7 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung in Privathaushalten von Einkommensarmut betroffen. Dies entspricht rund 735'000 Personen.

Am Anfang dieser Rede habe ich gesagt, dass Solidarität für mich persönlich sehr wichtig ist. Ich habe negative und positive Erfahrungen gemacht.

Vor fast acht Jahren kam ich als Flüchtling aus Westafrika, Guinea in die Schweiz. Mein Asylantrag wurde abgelehnt. Hätten mich nicht viele Menschen unterstützt und sich mir gegenüber solidarisch verhalten, würde ich jetzt nicht vor Ihnen stehen können. Seit letztem Januar habe ich die B-Bewilligung und seit einem halben Jahr bin ich in der Lehre als Hochbauzeichner.

Mein Projekt: Essen für Alle

Als der Bundesrat am 16. März 2020 bestimmte, dass alle jetzt zu Hause bleiben müssen, bin ich in die Migros gegangen und wollte nur Tomatensosse kaufen. Leider war alles ausverkauft. Es war für mich nicht lustig zu sehen, wie viele Leute mit grossen gefüllten Einkaufswagen zur Kasse eilten, weil man glaubte, dass es auch in der Schweiz an Lebensmittel mangeln könnte.

Es wurde nicht daran gedacht, dass es unter uns Menschen leben, die nur 8.50 Franken pro Tag zu Verfügung haben. Darunter auch die Sans-Papiers, die auf Unterstützung und Solidarität 100-prozentig angewiesen sind. Oder auch die Workingpoor, die Tag für Tag leben müssen, weil sie nichts sparen können und nicht zu einem 200-Prozent-Job fähig sind.

Durch meine gemachten Erfahrungen als Flüchtling und zu Beginn der Corona-Krise als noch Papierloser erkannte ich die Not vieler meiner Freund:innen. Ich sagte, dass ich keine Zeit zu verlieren habe, sondern sofort handeln musste. Ich konnte nicht akzeptieren, dass in einem reichen Land wie der Schweiz Menschen hungern müssen.

Da habe ich das Projekt «Essen für Alle» gestartet.

Trotz meiner damaligen prekären Situation, meiner gefährlichen Lage sehr bewusst, habe ich gewagt, an einem toleranten und solidarischen Ort, wo Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind, mit Respekt auf Augenhöhe Hilfe anzubieten. Unabhängig von Aufenthaltsbewilligung, Hautfarbe, Religion oder Nationalität.

Weil verschiedene Menschen und Firmen Lebensmittel und Geld zur Verfügung stellten, konnten wir im Jahre 2021 nur in der Stadt Zürich über 55000 Grundnahrungsmittel und Hygiene Artikel an bedürftige Menschen verteilen. Das war nur möglich durch solidarisches Verhalten.

Noch eine Bemerkung zu den Notkäufen, die am Tag des Lockdowns gemacht wurden:

Bis heute landen manche Spaghetti oder Tomatendosen, die als Notvorrat in dieser Zeit vor lauter Angst gekauft wurden, bei «Essen für Alle». Mit einem Lächeln stelle ich fest, dass bis heute kein Toilettenpapier angeliefert wurde, der Haltbarkeit sei gedankt…

Wir haben aktuell über 700 freiwillige Helfer:innen, unser gesamter Einsatz basiert zu 100 Prozent auf unentgeltlicher Freiwilligenarbeit. Es ist mir ein grosses Anliegen, dass wir Augen und Herzen offen behalten für Menschen, die in Not sind und wenn immer möglich, sie in irgendeiner Form unterstützen.

Mit meinen Ausführungen möchte ich sie ermutigen mit Freude und persönlichem Einsatz ein Miteinander zu leben, das niemanden ausgegrenzt und uns allen ein gutes Leben ermöglicht.

Ich höre oft, dass viele meiner Freunde und Freundinnen mehrere Jahre in einem Haus wohnen ohne ihre Mitbewohner:innen zu kennen? Ich finde, man sollte seine Nachbarn kennen, um zu wissen, ob jemand im Haus auf Hilfe angewiesen ist? Wir sehen oft ältere Menschen oder kranke Leute, die auf Hilfe dringend angewiesen sind in einem Haus, wo mehrere Leute leben, dass sie auswärtige Personen bitten müssen, z.B. um für sie einkaufen zu gehen. Solche Hilfeleistungen sind solidarisches Verhalten im Alltag, vor allem in Krisenzeiten.

Durch Solidarität ist alles möglich – ich glaube fest daran!

Ich danke ihnen für ihre Zeit und Aufmerksamkeit.

Alle bisherigen Reden 2022:

  • Winterrede Samuel Schwarz
  • Winterrede Natalie Rickli
  • Winterrede Schüler:innen Schule am Wasser
  • Winterrede Mischa Schiwow
  • Winterrede Eneas Pauli
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